Krzysztof Trybuś

Romantic Memory

Studies from the Past and Present

Peter Lang 2019

‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ sind Evergreens in der europäischen Romantikforschung und in der Polonistik. Umso überraschender ist es, dass es bis jetzt nur wenige Arbeiten gibt, die diese zwei Kategorien zusammenführen. Die Studie zu „Romantic Memory“ des Poznaner Literaturhistorikers Krzysztof Trybuś füllt diese Lücke und zeigt dabei, welche Position die polnische Romantik im heutigen kulturellen Gedächtnis einnimmt und wie sich diese historisch aus der romantischen Erinnerungskultur ergibt. In drei Fallstudien führt er aus, welche Rolle ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ konzeptuell und literarisch in den Werken von Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki und Cyprian Norwid spielen. Zuletzt zeigt Trybuś zweierlei: Er weist nach, dass die romantische Konzeption von Erinnerung und Gedächtnis bis heute wirksam ist. Und er erläutert, welche Rolle die Erinnerung an die Romantik im heutigen kollektiven Gedächtnis in Polen spielt und wie mit der Romantik in politischen Diskursen umgegangen wird.

Dass dabei immer wieder zwischen der theoretischen Ebene der romantischen Erinnerungstheorie und der Erinnerung an die Romantik gewechselt wird, ist zugleich Stärke und Schwäche der Studie. Der Wechsel zeigt die komplexen Prozesse zwischen romantischer Vergangenheits- und Gedächtniskonzeption und der Reaktualisierung dieses romantischen ‚Verfahrens‘ durch die Erinnerung an die Romantik. Gleichzeitig führt die Vermischung der Ebenen jedoch auch immer wieder zu Schwierigkeiten in der Argumentation wie sich z.B. in den Zusammenfassungen zu den Einzelanalysen zeigt, bei denen Metaebene der Erinnerungstheorie und der Gegenstand von ‚Erinnerung‘ und ‚Gedächtnis‘ in der Romantik oft eng verwoben sind

Die Konzentration auf ‚Erinnerung‘ und ‚Gedächtnis‘ ist eine Perspektive auf die Texte polnischer Romantiker, die für Trybuś mit einer Wiederaufnahme von Themen, die in der polnischen Romantikforschung schon umfangreich behandelt wurden, einhergeht, die aber durch den Aufschwung der Memory Studies in den letzten Jahrzehnten nun einen breiteren theoretischen Zugang bietet. Dabei beziehen sich die Analysen vorwiegend auf etablierte Konzepte des kulturellen Gedächtnisses von Aleida und Jan Assmann, die lieux de mémoire Pierre Noras und die Arbeiten zu Literatur und mémoire von Paul Ricoeur neben Ansätzen aus der polnischen Literaturwissenschaft (u.a. von Marek Zaleski) (vgl. S. 15–16). Grundlegende Elemente der Erinnerungstheorie von Maurice Halbwachs, die Verbindung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis, bilden den Ausgangspunkt für die Untersuchung der Entstehung einer spezifisch polnisch-romantischen Erinnerungskultur ab 1830. Zahlreiche Vertreter der polnischen Romantik hatten ab diesem Zeitpunkt das geteilte Polen verlassen und lebten im Pariser Exil unter ihnen Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki, deren Werke in der Studie analysiert werden. Cyprian Norwid kam erst später, nämlich 1849, in die Pariser Exilgemeinschaft.

Die von Trybuś gewählten Kategorien sind passend, um die Arbeit polnischer Autoren im Exil im Kontext von Nation, Nationalliteratur und Nationalsprache zu analysieren und zu beschreiben. Der Aspekt der ‚Auserwähltheit‘ in der kollektiven Erinnerung einer Gruppe (Jan Assmann) ist der Ursprung des polnischen romantischen Messianismus – dem Herzstück der polnischen Romantik und zentral für den Platz der Romantik im kollektiven Gedächtnis. Die Messianismus-Konzeption der polnischen Romantik spricht der Literatur eine erlösende Funktion zu und macht aus dem Schriftsteller einer ‚wieszcz‘ einen Dichterpropheten, der auserwählt ist, in seinen Werken die messianische Wahrheit zu verkünden. Die Rolle des Dichterpropheten wird auch in der Romantikforschung Adam Mickiewicz zugesprochen. Daher ist es auch überzeugend, dass Trybuś mit der Analyse von Adam Mickiewicz, dem ‚Propheten‘ und Verkünder des Messianismus beginnt, dessen Werke und Person sowohl innerhalb Polens als auch europaweit am wirkmächtigsten waren.

Die Resultate basieren auf einer Analyse verschiedener Werke von Mickiewicz, darunter das Drama Dziady (Die Ahnenfeier), die Versepen Konrad Wallenrod und Pan Tadeusz und die Vorlesungen am Collège de France (1840-1844). In Bezug auf diese Werke kommt der Improvisation (als Gattung, als Text innerhalb der Dziady und als Modus der frei vorgetragenen Vorlesungen) ein großer Wert zu und damit auch der Rolle der memoria als ein Element der klassischen Rhetorik, die trotz der scheinbar freien Improvisation eine wichtige Grundlage für Mickiewicz und andere bildete (S. 53).

Adam Mickiewicz hielt die Vorlesungen über slawische Sprache und Literatur am Collège de France vor einem französischen und europäischen Publikum. Über slawische Geschichte und Literatur vortragend sprach er der Erinnerung und dem Gedächtnis einen besonderen Platz bei den slawischen Völkern zu: diese besäßen eine besondere Liebe zur Vergangenheit (S. 75), die sich auch in der Literatur zeige und die dazu führe, dass eine Art kollektives Gedächtnis avant la lettre entstünde. Diese besondere Stellung der Geschichte und der Erinnerung formt die Lesart von Trybuś, der in Mickiewiczs Konzeption einen Vorläufer der modernen Gedächtnisvorstellungen erkennt (S. 94). In der romantischen Erinnerung und dem Umgang mit einer sakralen oder mystischen Vergangenheit der Slawen, wie sie in Mickiewiczs Vorlesungen geschildert wird, sei die Möglichkeit der Aktualisierung heute schon angelegt (ebd.).

Nachdem die Analyse von Mickiewiczs Umgang mit Erinnerung und Gedächtnis durch die slawischen Völker nachgezeichnet wurden, zeigen die Analysen von Gedächtniskonzeptionen bei Juliusz Słowacki und Cyprian Norwid, dass die Auffassung des Gegenstandes bei weitem nicht so eindeutig war, wie er aus der Perspektive der heutigen Instrumentalisierung der Romantik im polnischen politischen Diskurs erscheint. Slowacki setzte sich in Werken wie Godzina myśli (1832–1833, Die Stunde des Gedankens), Król-duch (1845–1849, König Geist) oder Podróż do ziemi świętej z Neapolu (1836–1839, Reise von Neapel ins Heilige Land) mit verschiedenen Positionen slawischer und europäischer Vergangenheit auseinander. Die Widersprüche werden durch Metaphern “an eye of memory, ancient and young memory, and immense memory” (S. 123) ausgedrückt und bieten eine Alternative zu Mickiewiczs Narrativ der slawischen Geschichte. Dabei enthalten Słowackis Werke Spannungen zwischen historischer Tradition und künftiger Vision. In seinen mystischen Texten erkennt Trybuś eine transformative Form der Erinnerung, die nicht feststeht, sondern wandelbar und damit moderner ist als Mickiewiczs romantische Geschichtsdarstellung.

Dieses moderne Element setzt sich bei dem dritten vorgestellten Dichter weiter fort: Cyprian Norwid (1821–1883) lebte in einer Zeit, in der die Romantik schon literaturhistorisch aufgearbeitet wurde – diese Reflexion ist Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der romantischen Erinnerung und Norwids eigener Fortschreibung romantischer Positionen (S. 125). Anhand seiner Gedichte wird die spatiale Dimension der Erinnerung eines europäisch-polnischen Dichters vorgeführt, der immer wieder auch seine eigene Position als erlebendes Subjekt reflektiert. In seinen wenig bekannten Gedichten zeigt sich dabei laut Trybuś eine implizite Kritik an der messianischen und slawischen Literatur von Mickiewicz.

Die Resultate erklären die komplexe Aktualisierung romantischen Konzepte im kulturellen Gedächtnis des heutigen politischen Polens: die romantischen Vorstellungen einer polnischen Vergangenheit leben in aktuellen politischen Kommentaren, in Handlungen, im kollektiven Gedächtnis weiter. Als Beispiel wird u.a. die Rezeption des Dramas Dziady von Mickiewicz im Hinblick auf die Flugzeug-Katastrophe von Smolensk 2010 angeführt. Durch die Lektüre einer Monografie zur polnischen Theatergeschichte von Dariusz Kosinski, die zufällig zeitgleich erscheint, erläutert Trybuś die Re-Aktualisierung durch die Erinnerung an ein sakrales Opfer, die den Tod zahlreicher Politiker und Würdenträger nicht als einen Unfall interpretiert, sondern im kollektiven Gedächtnis als Märtyrertod wie im romantischen Drama versteht (S. 156). Die Wirkmächtigkeit und Dominanz von Mickiewicz und der polnischen Romantik wird abschließend betrachtet und ambivalent beurteilt: Wenn eine Loslösung aus der nationalen Erinnerung möglich sei, könnten die Hauptwerke der polnischen Literatur dann vielleicht unabhängig von einer engen historischen Lesart betrachtet werden? (S. 171). Die aktuellen politischen Entwicklungen in Polen, die auch den Literaturunterricht an Schulen zu einer nationalen Lesart anhalten, lassen das bezweifeln, es wäre aber sicherlich produktiv.

Zum Schluss: Die englischsprachige Übersetzung des 2011 im Original auf Polnisch erschienenen Bandes erlaubt eine breite Rezeption und einen guten Einblick in die Position der Romantik im kulturellen Gedächtnis Polens und erklärt die literarischen und philologischen Hintergründe. Translatorisch führt die multilaterale Übersetzung von Primärtexten (aus dem Französischen ins Polnische ins Englische wie im Fall der Zitate aus Mickiewiczs Vorlesungen) zu einiger philologischer Unsicherheit. Wollte man auf die Zitate zurückgreifen, müsste man doch noch einmal einen genauen Blick ins polnische (oder französische) Original werfen.

Die Analysen bieten zum einen neue Einblicke in die Werke romantischer polnischer Autoren und integrieren zum anderen diese Einblicke aus der polnischen Forschung in einen europäischen Rahmen. Damit ist das Buch sowohl als Ergänzung zu anderen Studien zur romantischen Erinnerungskultur gut lesbar als auch als innovative Einführung in die polnische Romantik und ihre aktuelle Bedeutung für Nicht-Polonist:innen.

Rezension verfasst von: Jana-Katharina Mende

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