Christian Quintes

Traumtheorien und Traumpoetiken der deutschen Romantik.

Cultural Dream Studies / Kulturwissenschaftliche Traumstudien, Bd. 6.

Königshausen & Neumann 2019

Christian Quintes unternimmt mit seiner Dissertation den Versuch, die in der Forschung noch ausstehende Monographie zum Traum in der Literatur der Romantik zu liefern. Dafür bringt er Traumtheorien und literarische Traumdarstellungen in einen Sinnzusammenhang und geht der Frage nach, in welchem Verhältnis die auffallend oft genannten Negativ-Aspekte des Traumes und die intensive Auseinandersetzung mit dem Traum in der Romantik stehen.

Quintes wählt dafür eine auf dem Konzept der Wissenspoetik beruhende Vorgehensweise und unterscheidet zwischen dem Wissen des Autors über Träume, literarischen Traumdarstellungen und wissenschaftlichen Traumtheorien. In Bezug auf die literarische Traumdarstellungen strebt er „eine Rekonstruktion des prototypisch romantischen Traumes“ an, um als Ergebnis der Arbeit „eine romantische Poetik des Traumes“ (S. 20) definieren zu können. Das Textkorpus beschränkt sich notwendigerweise auf repräsentative Autoren romantischer Erzählliteratur, ergänzt um Werke von Vertretern romantischer Anthropologie. Als Autor des Heinrich von Ofterdingen, Schlüsselwerk romantischer Traumliteratur, fungiert Novalis als Ausgangs- und Kristallisationspunkt der Arbeit, außerdem untersucht Quintes Träume im Werk von E.T.A. Hoffmann, Clemens Brentano und Joseph von Eichendorff.

Quintes analysiert ausführlich die drei zentralen Träume des Ofterdingen-Romans, da er in ihrer Kombination den Prototyp eines triadischen Traumes erkennt. Dieser bilde im Gesamtkontext des Romans das Modell der Drei-Zeitalter-Lehre ab: vergangenes goldenes Zeitalter, Gegenwart und zukünftiges goldenes Zeitalter. Quintes räumt dem Prinzip des triadischen Traumes einen zentralen Stellenwert in seinen Ausführungen ein und veranschaulicht im Verlauf der Arbeit überaus versiert, wie facettenreich dieses Konstruktionsprinzip adaptiert wurde.

Ein weiteres Augenmerk legt Quintes auf die Verwendung von Symbolen: Er analysiert das werkübergreifende Symbolgeflecht in Novalis’ Roman, gruppiert Symbole und verdeutlicht den Bezug zur idealistischen Naturphilosophie. Auch in allen weiteren Traumanalysen beleuchtet Quintes Einzelsymbole und Symbolgruppierungen kenntnisreich und mit Freude am Detail. Auf diese Weise kann Quintes kapitelweise herausarbeiten, wie die alte Idee einer Symbolik des Traumes in der Romantik aufgegriffen und in einer epochenspezifischen und stark von Novalis geprägten Form weiterentwickelt worden ist.

Um die Wechselwirkung von Literatur und Wissenschaft zu analysieren, folgt ein Großkapitel zu Traumtheorien der romantischen Anthropologie. Quintes stellt überzeugend dar, wie Novalis als Vorbild für Gotthilf Heinrich Schubert gewirkt und wie dieser wiederum mit der Symbolik des Traumes einen gesamttheoretischen, christlich gefärbten Rahmen für den Traum entwickelt habe. Die daran anschließenden Abschnitte zu den Traumtheorien Ignaz Paul Vitalis Troxlers und Carl Gustav Carus’ können jedoch nachfolgend nicht resonieren, da bei keinem der romantischen Autoren ein Einfluss nachgewiesen werden kann. Trotz unterschiedlicher Denkansätze der Anthropologen stellt Quintes eine verbindende Gemeinsamkeit der Konzepte fest: die Idee der 3-stufigen Entwicklung der Seele, die sich in einen älteren, ursprünglichen und einen neueren Teil spalte, welche wiederum in einem Polaritätsverhältnis zueinander stehen. Der unbewusste Teil, mithin Zugang zum Urbewusstsein, sei nur im Traum erfahrbar – in diesem Aspekt liege die Aufwertung des Traumes bei den Anthropologen begründet, ansonsten wirke die in der Aufklärung kultiviere Defizittheorie auch in der Romantik fort.

Die übergeordnete wissenspoetische Fragestellung liefert in der Quintessenz keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse: So seien Bezugspunkte zwischen den Werken der Anthropologen, Novalis’ Roman und den Werken weiterer romantischer Autoren darauf zurückzuführen, dass sie mit der idealistischen Naturphilosophie auf eine ähnliche Theoriegrundlage zurückgriffen und damit das gleiche Weltbild teilten. E.T.A. Hoffmann habe zwar verschiedenste gängige Traumdiskurse eklektizistisch verarbeitet, insgesamt sei aber bei keinem der romantischen Autoren eine zusammenhängende traumtheoretische Grundlage, geschweige denn eine ausformulierte Traumtheorie auszumachen. Durchgängig zeige sich ein ambivalentes Verhältnis zum Traum.

In E.T.A. Hoffmanns Erzählungen betont Quintes das Phänomen einer Infiltration der Wach- durch die Traumwelt als charakteristisches Merkmal. Sobald sich eine Figur zu sehr der Innenwelt zuwendet, das Gleichgewicht der Duplizität des Seins also aufgelöst wird, laufe sie wie in Ritter Gluck Gefahr, in den Wahnsinn abzudriften. Zwar ist dieses charakteristische Motiv in der Forschung bereits umfassend beschrieben worden, die Stärke von Quintes Untersuchung liegt jedoch darin, dass dieser Motivkomplex schlüssig auf der Grundlage des vorherigen Anthropologie-Kapitels unterfüttert und kontextualisiert ist: Er zeigt, wie der Traum bei Hoffmann als Bindeglied zwischen den beiden Polen des Ichs angesiedelt ist und einen Zugang zur geistigen Seite und damit zur Natur verschafft.

Die Auseinandersetzung mit Brentanos Werk ist ausgehend von der These strukturiert, die Änderung der Weltanschauung des Autors von einem naturphilosophischen zu einem christlich dualistischen resultiere auch in einer veränderten Darstellungsweise der Träume. Wie anknüpfend an ausführliche inhaltliche Schilderungen der Traumhandlungen darlegt wird, griffen die eingesetzten Symbole ab der zweiten Werkphase in Gockel, Hinkel, Gackeleia auf eine religiöse Ikonografie zurück und verwiesen, eingebettet in eine komplexe Traumpoetik, auf die christliche Heilsgeschichte.

Auch bei Eichendorff hebt Quintes ausgeprägte christliche Vorstellungen hervor, bei der nach der Stufe des verlorenen Paradieses eine dunkle Gegenwart mit der Hoffnung auf zukünftige Erlösung folge, wodurch sich wiederum die triadische Struktur vieler Traumdarstellungen ergebe. Quintes greift an dieser Stelle einen weiteren Seitenstrang in seiner Argumentation auf – das Verhältnis von Traum und Fantastik: Eichendorff markiere den Endpunkt einer bereits von Novalis begonnenen Entwicklung, bei der der Traum zur Integration fantastischer Elemente im Text nicht mehr benötigt werde, wie anhand der Novelle Das Marmorbild deutlich werde. So arbeitet Quintes resümierend eine Entwicklungstendenz heraus, bei der nach Novalis eine strikte Trennung zwischen Wach- und Traumwelt nach und nach aufgegeben worden sei zugunsten einer zunehmenden Infiltration fantastischer Elemente, sodass schließlich genuin fantastische Texte entstanden seien.

In der Gesamtschau auf die Arbeit wird deutlich, wie fruchtbar Quintes die maßgeblichen Vorarbeiten seines Doktorvaters Manfred Engel machen konnte, dessen Aufsätze als Schlüsseltexte der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Traum gelten dürfen. Als überaus ergiebig erweist sich die Ausarbeitung der Kategorie des triadischen Traumes, der Quintes viele Traumdarstellungen seiner Untersuchung zuordnen kann: Bei dieser traumpoetischen Kategorie erkennt er ein gemeinsames Konstruktionsprinzip und benennt diverse weitere Schnittmengen, was besonders überzeugend hinsichtlich der Merkmale Symbolik und Raumgestaltung gelingt. Dass die beiden weiteren von Quintes definierten traumpoetischen Kategorien „satirische Träume“ und „individuelle Traumgestaltungen – Kunst und Religion“ dagegen weniger scharf konturiert bleiben, tut dem Gesamtergebnis keinen Abbruch: Christian Quintes ist es mit seiner Dissertation gelungen, das zu Beginn konstatierte Forschungsdesiderat einer systematischen Untersuchung des Traums in der Romantik vor der Folie zeitgenössischer Diskurse zu erfüllen.

Rezension verfasst von: Laura Bergander

Traumtheorien und Traumpoetiken der deutschen Romantik.