Theresa Brehm, Annemarie Müller, Maria Safenreiter und Felix Schallenberg , 14.07.2020

„Aber wir kommen ja nicht raus aus der deutschen Romantik, da kann man machen, was man will“ (Christian Petzold)

Theresa Brehm, Annemarie Müller, Maria Safenreiter und Felix Schallenberg im Gespräch über den Film „Undine"

M.S.: Nach langer Wartezeit ist Christian Petzolds neuster Film Undine diesen Sommer endlich in die Kinos gekommen: der Anfang einer Trilogie, die drei Elemente – Wasser, Erde und Luft – zum Thema und die deutsche Romantik zur Folie hat. Undine ist Petzolds Interpretation eines der vielleicht populärsten Kunstmärchen um 1800. Die von Friedrich de la Motte Fouqué verfasste Erzählung handelt von der Wasserfrau Undine, die nur durch die Liebe eines Menschen ein irdisches Leben führen kann, und die, wenn an ihr ein Liebesverrat begangen wird, den Verräter töten und selbst ins Wasser zurückkehren muss.

F.S.: Was macht Petzold anders als Fouqué?

M.S.: Petzolds Heldin heißt Undine Wibeau, sie ist promovierte Stadthistorikerin, Freelancerin, lebt im heutigen Berlin und wird von Ihrem Freund Johannes verlassen. Dem Märchen nach müsste sie ihn töten und sich dem irdischen Leben und der Liebe endgültig verweigern. Sie aber entscheidet sich dagegen und verliebt sich in den Industrietaucher Christoph. Anders als im gleichnamigen Kunstmärchen wird der Film überwiegend aus der Perspektive Undines erzählt, was eher an Ingeborg Bachmanns Erzählung Undine geht erinnert: Undine ist hier nicht mehr Objekt eines männlichen Blicks, sondern Subjekt ihrer eigenen Geschichte. Auch Petzolds Film endet mit Undines Blick auf die irdische Welt, zu der sie dann nicht länger gehört.

F.S.: Was ist das für eine Welt? Es gibt diese Filmstellen, in denen man sich nicht ganz sicher ist, in welcher Welt wir uns eigentlich befinden.

M.S.: Wir haben auf der einen Seite die Unterwasserwelt, eine zauberhafte und geheimnisvolle Welt, in der irdische Gesetze aufgehoben scheinen, sie es auf der anderen Seite aber nicht komplett sind, denn die Unterwasserszenen spielen in einem Stausee im Bergischen Land, der im Kontext der Industrialisierung gebaut wurde: Die alten Mythen des Wassers, das grünblaue Licht, die Langsamkeit und die beinahe hörbare Stille, all das koexistiert mit dem Stahl, der Industrie, dem Modernen, wofür schließlich die Stadt Berlin paradigmatisch steht. Wobei es weniger darum geht, was wir konkret von Berlin zu sehen bekommen, als darum, welches Gefühl von der Stadt sich uns durch den Film mitteilt: eine Schnelligkeit, die mit der Langsamkeit des Wassers wunderbar kontrastiert.

F.S.: Es gibt die angedeutete Schnelllebigkeit Berlins, Kurzzeitvermietungen in dieser durchrationalisierten, ökonomischen Welt; demgegenüber steht aber auch die artifizielle Schlichtheit des Films an sich, das relativ Langsame und das bloß Ausschnitthafte der Stadtdarstellung – ein Kontrast, der sich auch in Berlin als belebter Stadt und als starres Stadtmodell widerspiegelt, über das aus dem Off-Ton erzählt wird. In der Rede über den Wandel der Stadt bekommt das Modell wiederum eine große Dynamik. Das hat ein wahnsinniges Tempo, ich bin da zum Teil gar nicht mitgekommen.

M.S.: Aber wird die Wandlung nicht als ‚Retroschleife‘ begriffen? Altes wird durch noch Älteres ersetzt, sodass im Film am Beispiel des Humboldt-Forums suggeriert wird, Berlin entwickele sich progressiv zurück. Man könnte vielleicht sagen: Es gibt den Fortschritt, aber immer nur als Wiederholung.

T.B.: Auch das Ende des Films ist auf der einen Seite ein Wandel, auf der anderen Seite nicht: Undine muss zurück ins Wasser, was kein Wandel im Sinne der Kunstmärchen-Vorlage wäre. Aber wenn Christoph dann trotzdem weiter leben darf, ist es ein Wandel.

A.M.: Dazu passt auch das Motiv des Aquariums, das als eigene definierte Unterwasserwelt in Räumen sein kann, in denen sonst kein Wasser ist. Bereits am Beginn des Films, als Undine und Christoph sich kennenlernen, wird das Aquarium gezeigt. Es zerspringt im Augenblick ihrer Annäherung. Ein zweites Mal blitzt das Bild der zerberstenden Aquariums in der Szene auf, in der Undine an Christophs Krankenbett steht, und erfährt, dass dieser nach einem Tauchunfall für hirntot erklärt wurde. Ein letztes Mal wird es am Ende des Films zentral, als Christoph nach Undine sucht, sie aber an keinem der ihm bekannten Plätze findet; dann ist das Aquarium wieder hergestellt.

T.B.: Wenn das Aquarium zerspringt, dann könnte das ein Zeichen Kühleborns sein, der in der Märchenwelt von Fouqué Undines Onkel aus der Wasserwelt ist. Er will Undine zurück ins Wasser holen. Zwar ist Kühleborn im Film nur als flüsternde Stimme, die nach Undine ruft, präsent, durch den Wels, den Christoph sowohl bei einem seiner alleinigen Tauchgänge im Stausee als auch beim gemeinsamen Tauchen mit Undine sieht, aber als Wassergeist dennoch versinnbildlicht. Ich finde auch, dass, indem der Wels Undine beim Tauchgang sogar mit sich und von Christoph wegzieht, der Ruf Kühleborns nach Undine noch einmal unterstrichen wird. Kühleborn wird sie zwingen, Johannes umzubringen, um Christoph zu retten. Aus Liebe zu Christoph vollbringt Undine das, was sie eigentlich nicht machen wollte, und wird dadurch doch noch gezwungen, ihrer ‚Märchenbestimmung‘ zu folgen.

F.S.: Die ‚Liebe‘ scheint mir, wie ja schon in Fouqués Märchen, ein wichtiges und aktualisiertes Thema zu sein. Wie lässt sich der Wunsch nach Ehrlichkeit, Treue und Einheit mit einem ‚Du‘ mit dem Streben nach Freiheit vereinbaren? Auch in ihrem Beruf als Freelancerin kommt dieser Konflikt gut hervor, denn ihre Ungebundenheit hat zur Folge, dass sich später niemand mehr an sie erinnert.

A.M.: Wie würdet ihr die Stimmung des Films beschreiben? Mir ist aufgefallen, dass der Film auch komische Momente nicht ausspart, z.B. das Wiederbeleben Undines durch Christoph nach ihrem gemeinsamen Tauchgang als Paar zum Lied Stayin‘ Alive.

F.S.: Der Film hat etwas sehr ‚Einfaches‘. Über die Figuren erfahren wir fast nichts und gerade in der Figur Christophs liegt vielleicht auch etwas kindlich Naives. Dazwischen gibt es diese Bach-Töne, teils etwas ausgedehnte Einstellungen und wenig Dialog. Ich finde, das suggeriert zwischendrin so einen Tiefsinn, den die humorvollen Szenen vielleicht auflockern – und es hat ja auch gewirkt: im Kino wurde gelacht.

M.S.: Stayin‘ Alive wird meiner Ansicht nach zum Leitmotiv des Films, insofern dieser ja gerade zeigt, wie Undine trotz allem am Leben bleibt. Für mich ereignet sich Undines und Christophs Beziehung auf einer Art Zwischenebene, die den Tod von Anfang an impliziert. Passend dazu teilt Undine ihren Nachnamen mit der Hauptfigur von Ulrich Plenzdorfs Die Leiden des jungen W., Edgar Wibeau, der von Anfang an tot ist.

A.M.: Wenn man an Christophs Unfall denkt, ist es auch eine klare Vorausdeutung, dass der Taucherfigur, die von Beginn an Teil der Geschichte Undines und Christophs ist, relativ am Anfang des Films ein Bein abbricht. Undine kann es aber wieder kleben. Die Taucherfigur dient als eine Art Verbindungsglied zwischen ihren beiden Erzählperspektiven, jener Undines, solange sie Teil der irdischen Welt ist und jener Christophs, sobald sie die irdische Welt verlässt. Weil Undine die Industrietaucherfigur wieder kleben kann, erwacht auch der Industrietaucher Christoph aus seinem Hirntod, als Undine Johannes umbringt. Anscheinend kann damit auch der Schaden, den der Mythos angerichtet hat, wieder behoben werden.

T.B.: Obwohl er eigentlich hirntot ist und nicht mehr aufwachen kann – ein wunderbares Element.

A.M.: Im wortwörtlichen Sinne romantisch fand ich mitunter einige Kameraeinstellungen. Es gibt Sequenzen, die aufsteigende Wasserblasen zeigen und so lange andauern, dass man darin etwas Anderes zu sehen beginnt. Genauso war das auch bei einer Einstellung aus dem fahrenden Zug, in der alles Vorbeiziehende grün ineinander verschwimmt. Es steckt eine Uneindeutigkeit in den Dingen selbst. Interessanterweise sind sie allesamt Übergangssequenzen, in Bewegung: die Luft, die nicht im Wasser bleiben kann und nach oben steigen muss oder der Zug, der natürlich nicht stehen bleibt, sondern fährt. Wasser, Luft und Natur werden so im Fluss dargestellt; sichtbar für die Augen der handelnden Protagonist*Innen und die Zuschauer*Innen.

F.S.: Ich glaube auch, die eindrücklichsten Szenen in diesem Film – also die, die am ehesten im Kopf geblieben sind – sind die Unterwasserszenen, in denen gar nicht geredet wird. Diese besonders filmbildhaften Stellen scheinen nicht auf das Begriffliche zu zielen, sondern auf ein unbestimmtes Gefühl, für das Worte nicht ausreichen. Durch diese Uneindeutigkeit kommen wir dem Romantischen nah.

T.B.: Diese Uneindeutigkeit erinnert mich stark an die romantischen Kunstmärchen, in denen oft Geschehnisse dargestellt werden, die zum einen als wunderbar gedeutet, aber auch realistisch erklärt werden können, z.B. indem die Lesart eröffnet wird, es handle sich um eine Sinnestäuschung der wahrnehmenden Figur; beide Lesarten, die wunderbare und die das Phänomen realistisch erklärende, werden in vielen romantischen Kunstmärchen aber nicht eindeutig bestätigt oder verworfen, sodass weder Figur noch Leser*In zu einem eindeutigem Urteil über den tatsächlichen Status dieser Ereignisse oder Phänomene kommen. Als Christoph den Wels, der von seinen Kolleg*Innen eher mystifiziert und etwas spöttelnd „Gunter“ genannt wird, das erste Mal unter Wasser sieht, wollen diese ihm das nicht glauben und belächeln die Behauptung. Aber auf der Unterwasseraufnahme ist der Wels eindeutig zu sehen, was dessen Echtheit zu bestätigen scheint. Seine Ambivalenz wird in Verbindung mit Undine wiederhergestellt. Dass Undine und der Wels in Beziehung zueinander stehen, wird deutlich, wenn dieser versucht sie beim gemeinsamen Tauchgang mit Christoph wegzuziehen. Auch wird dargestellt, dass und wie Christoph den Wels wirklich sieht: Am Ende des Films, nachdem Undine bereits ins Wasser zurückgekehrt ist, begegnet Christoph ihr bei einem Tauchgang im selben See im Bergischen Land. Das Geschehen ist ähnlich aufgebaut wie die Szene, in der er dem Wels das erste Mal begegnet. Anders als nach der Begegnung mit dem Wels ist Undine auf der Unterwasseraufnahme, die Christoph nach dem Auftauchen sofort anschaut, aber nicht zu sehen. Das hat mich beim Schauen ein bisschen überrascht und ich glaube, besonders mit dieser Uneindeutigkeit am Filmende hat sich Christian Petzold an der Romantik orientiert.

Das Gespräch wurde am 14. Juli 2020 in Jena geführt.

Christian Petzold: „Undine“ (2020).

Die promovierte Historikerin Undine bei einer Stadtführung im Haus am Köllnischen Park

Taucherfigur im Aquarium eines Restaurants

Undine und Christoph

Undine und Johannes