Ludwig Stockinger und Jacqueline Neumann , 01.07.2020

Anarchie und „grüne Stellen“ in der Nachwendezeit

Ludwig Stockinger und Jacqueline Neumann im Gespräch über Lutz Seilers Roman „Stern 111"

J.N.: Mit Stern 111 (2020) hat Lutz Seiler in diesem Frühjahr den Leipziger Buchpreis gewonnen. In der Begründung der Jury ist von einer „Verquickung von Geschichtsschreibung und Privatmärchen“ die Rede. Verquickt werden auch zwei Handlungsstränge: zum einen die Handlung um den 26-jährigen Carl Bischoff, zum anderen das Geschehen um dessen Eltern, Walter und Inge, das dem Leser mitunter in Form von Briefen der Mutter an ihren Sohn präsentiert wird. Während der Protagonist Carl die ersten Nachwendejahre in Ostberlin in einer Gruppe aus Hausbesetzern und Künstlern, dem „klugen Rudel“, erlebt und Schriftsteller werden will, begeben sich seine Eltern auf eine Reise in den Westen. Über die BRD geht es für das Ehepaar Bischoff nach Kalifornien. Sie jagen einem alten Traum hinterher, der sie in die Traumfabrik Hollywood führt. Eine Verquickung findet auch dahingehend statt, dass Figuren aus Seilers Vorgängerroman Kruso(2014) in Stern 111 erneut ihren Auftritt finden.

L.S.: Nach meiner ersten Lektüre hatte auch ich den Eindruck, dass Stern 111 in vielen Punkten Themen und die narrative Form von Kruso variiert wieder aufgreift. Carl, der Protagonist des neuen Romans, ist eine Art Doppelgänger von Ed, der Reflektorfigur in Kruso.

J.N.: Außerdem wird in beiden Romanen eine Utopie entworfen. In Kruso bildet die Gemeinschaft der Saisonarbeiter auf Hiddensee eine Gesellschaft jenseits der Gesellschaft, in der Gleichberechtigung und Vollbeschäftigung zunächst realisiert zu sein scheinen. Die Utopie eines ‚anderen‘ Sozialismus erscheint auf der Insel, der sich auf den ersten Blick vom erstarrten System auf dem Festland der DDR absetzt.

L.S.: In Bezug auf die Utopie in Stern 111 haben mich besonders die Bezüge zum Anarchismus interessiert. Ich musste bei der Lektüre vor allem an zwei Texte denken. Der eine ist Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie (1972). Anarchie kann nur für einen Moment existieren, nämlich einen Sommer lang, oder eben bei Seiler für die Dauer der ersten Nachwendejahre – in einer Zeit der Ungewissheit, bevor die neue Ordnung etabliert wird. Daneben musste ich an Gustav Landauer denken, sozusagen den Vertreter des Anarchismus in der deutschsprachigen Literatur schlechthin. In seiner Abhandlung Die Revolution (1907) entwirft er die These, wonach sich die Geschichte aus einer Abfolge von Topie und Utopie zusammensetzt. Nachdem die Utopie in Momenten der Revolution ausbricht, geht sie erneut in die Topie über. In Stern 111 kann die anarchistische Utopie auch nur kurzzeitig realisiert werden.

J.N.: Anarchistische Grundprinzipien werden von verschiedenen Mitgliedern des „klugen Rudels“ vertreten. Wörtlich genommen ist von Anarchismus die Rede, wenn es im Text heißt: „Es gibt hier keine Regeln, kein verdammtes Gesetz.“ Die Kneipe des Rudels steht auch „Nichtsnutzen und Pennern“ offen, denn jeder ist „gleich viel wert“. „Privateigentum“ wird als „die neue heilige Kuh“ abgelehnt. Der Anführer der Gruppe, „Hoffi, der Hirte“ – eine Anspielung auf Blochs Prinzip Hoffnung (1954) –, formuliert sein „Prinzip“ der „Arbeiterguerilla“: „Dass jede und jeder und alle gleich und gleich viel wert seien, wobei man eben ‚in der aktuellen Situation‘, besonders auf die Arbeiter achtgeben müsse.“ Derartige anarchistische Ideen werden allerdings gerade in der Figur von Hoffi unterlaufen, der immer wieder Ordnung schafft, die Aufgaben innerhalb des Rudels koordiniert und verteilt – wie ein Hirte seine Schafe lenkt. Nimmt man Blochs Prinzip Hoffnung zur Hand, erscheint die Verschränkung von Freiheit und Ordnung nicht paradox, sondern legitim: Ordnung wird mit Blick auf die bevorstehende Freiheit und Einheit als notwendig angesehen. Auch im Vorgängerroman Kruso werden freiheitseinschränkende Maßnahmen im Namen der Freiheit gerechtfertigt.

L.S.: Eine Frage, die auch die Utopie betrifft, wäre: Wenn das „unbesiegbare A“, die Stimme der „Arbeiterguerilla“, am Ende „für immer“ verstummt, soll man das als Signal für das prinzipielle geschichtliche Ende dieser Utopie verstehen, und ist dieses Ende dem Sieg des „Kapitalismus“ geschuldet, oder kann man das als Hinweis auf die unlösbaren inneren Schwierigkeiten dieses Konzepts, ihren prinzipiell illusorischen Charakter lesen? Ich favorisiere im Moment die Lesart einer Rechtfertigung der Utopie durch die Autorinstanz und überlege, ob es nicht der Romantext selber sein soll, der nach dem – vorläufigen – Ende des utopischen Experiments die ‚Idee‘ selbst für spätere Zeiten quasi retten und bewahren soll. ‚Poesie‘ als der Ort, an dem Erinnerung und Hoffnung in ‚prosaischer‘ Zeit noch eine Heimstatt hätten. So lese ich auch Kruso. Das wäre nicht nur sehr romantisch, sondern würde auch ein zentrales Merkmal des Selbstverständnisses der DDR-Literatur in die Nachwendezeit weiterführen, das durch die Bezugnahme auf die diesem Staat inhärente gesellschaftliche Utopie bestimmt ist.

J.N.: Dieser Befund wird auch dadurch gestützt, dass in Stern 111 Figuren aus Kruso auftreten. Nachdem die Insel-Utopie auf Hiddensee mit dem Ende der DDR ihr eigenes Ende gefunden hat, haben die Figuren aus dem ersten Roman, Kruso und Edgar, nun andere utopische Projekte gefunden, im zweiten Roman.

L.S.: Daneben findet man eine große Fülle von romantischen Motiven, etwa der Roman als Künstlerroman. Die Kunst selbst bzw. das Werden und Machen von Kunst werden im Text thematisiert. Und dann das Verhältnis von Effi und Carl – Wie sehen Sie das?

J.N.: Die Beziehung hat für mich von Beginn an etwas Unrealistisches. Carl schreibt Effi in Gera einen Liebesbrief und plötzlich begegnet er ihr auf einer Ausstellung in Berlin.

L.S.: Ich musste dabei an den Phantastik-Begriff denken. Es kam mir sehr unwahrscheinlich vor, dass Effi plötzlich vor Carl steht. Ich habe mich kurzzeitig gefragt: Wandelt sich der Roman hier in einen phantastischen Text? Ist das ein Phantasma? Aber so ist es dann doch nicht.

J.N.: Effi wird im Verlauf der Handlung nicht ‚wirklicher‘, nicht greifbarer als Figur, weil Carl sie verklärt. Er sieht sie sowohl als „Mutter“, deren Aufmerksamkeit er sucht, als auch als Muse und Künstlerin an seiner Seite, mit der er ein poetisches Dasein führen will.

L.S.: Die Tatsache, dass Carl sie durchgehend Effi nennt und der Leser erst spät erfährt, dass das nicht ihr richtiger Name ist und dass sie ausgerechnet Effi heißt, weil sie auf dem Schultheater einmal Effi Briest dargestellt hat – das sagt schon einiges aus über die Umwandlung einer schon realistischen Figur in eine Phantasiefigur. Und deshalb muss die Beziehung zwischen Carl und Effi scheitern.

Im Vergleich dazu könnte man die Eltern betrachten. Diese, so scheint es mir, führen eine gelingende Ehe. Die Frage wäre, ob sich in der Art, wie die jüngere und die ältere Generation ihre Träume realisieren, zwei unterschiedliche „Modelle“ von Romantik zeigen. Die Lebensweise der Eltern und auch deren – eigentlich „romantische“ – Ehe erinnern mich stark an Novalis’ Konzept der Integration von ‚Idee‘ und ‚Alltag‘. In Novalis’ Fragmenten ist die Rede davon, dass man dem Alltag nicht entfliehen, sondern ein ganz ‚normales‘ Alltags‑ und Berufsleben führen soll, dabei aber an der Erinnerung an etwas anderes festhält. Dass das die Ehe stabilisiert, weil man in der Ehe die Repräsentation der Idee im Alltag wiedererkennen kann. Und Carls Eltern haben eine gemeinsame Sache, nämlich das Tanzen, den Rock’n’Roll. Die gemeinsame Erinnerung, die damit verbunden ist, ist ein Konzertbesuch in Westberlin kurz vor dem Mauerbau und das Treffen mit dem Sänger Bill Haley.

Warum die Ehe durchhält, liegt meiner Einsicht nach vor allem an der Mutter. Sie erscheint zwar zunächst als nostalgische Figur mit formelhafter Sprache, aber es ist gerade diese Figur, die mit ihrem Mann diese prosaische Nüchternheit, diese Alltagszugewandtheit mit einer bestimmten Idee, einer konkreten Erinnerung verbindet.

J.N.: Dass das Lebensmodell der Eltern mit Distanz betrachtet wird, zeigt sich zum einen an Aussagen der Reflektorfigur Carl. Er zieht am Ende den nüchternen Schluss, dass seine Eltern „nicht unzufrieden“ am Ende ihrer Reise in Kalifornien seien. Zum anderen macht das die Erzählweise allgemein deutlich. Das Geschehen wird lediglich aus der Sicht Carls berichtet. Die Briefe der Mutter werden nur selten direkt zitiert, sondern die Eltern-Handlung wird gewissermaßen doppelt vermittelt dargestellt: durch die Briefe, die wiederum von Carl paraphrasiert und kommentiert werden, also durch seine Wahrnehmung gefiltert präsentiert werden. Deshalb scheint mir die Carl-Handlung favorisiert zu sein, sodass hier die Autormeinung zu suchen wäre.

L.S.: Während die Eltern in die USA auswandern, sucht Carl sein Glück im poetischen Leben – auch ein romantisches Motiv. Eigentlich meint ‚poetisch leben‘ das Leben in einer Situation, die noch nicht – um mit Hegel zu sprechen – von der Prosa der modernen Verhältnisse erfasst worden ist. Hegel geht davon aus, dass weder poetisches Leben noch die Poesie als Dichtung, als Kunst in der Gegenwart möglich seien. Denn das Leben, das wir heute führen, ist nicht mehr in der Poesie darstellbar. Eine Lösung bietet der Hegelianer Friedrich Theodor Vischer mit seiner Theorie der „grünen Stellen“ an. Laut Vischer gibt es in der Gegenwart „grüne Stellen“, also abgegrenzte Orte, in denen sich die ‚Prosa‘ des modernen Weltzustands noch nicht durchgesetzt hat bzw. die ‚Poesie‘ der vormodernen Welt noch erfahrbar geblieben ist. Er empfiehlt den Dichtern in seiner Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1857) die „Aufsuchung der grünen Stellen mitten in der eingetretenen Prosa“. Er spricht darüber hinaus auch von der „Reservierung gewisser offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Ungewöhnliches durchbricht und der harten Breite der Wirklichkeit das Gegengewicht hält“.

J.N.: Und das versucht Carl beziehungsweise der Roman eigentlich auch, indem er Nischen ausfindig machen will, die poesiefähig sind, in denen man ein poetisches Leben führen kann.

L.S.: Vischer rät den Dichtern zudem, verschiedene Situationen darzustellen wie beispielsweise Kriege oder „Revolutionszustände“, um in der Neuzeit noch einen Platz zu finden, an dem sozusagen das letzte Mal poetisches Leben möglich ist. Das lässt sich gut auf Seilers Roman übertragen. Man könnte von einer revolutionären Umbruchsituation – von der DDR aus gesehen – sprechen. Hier ist nach Vischer poetisches Leben möglich. Und auch Carl glaubt, dort einen Moment lang in der Praxis poetisch leben zu können. Ich würde sagen, es handelt sich hier um den typischen Fall des Aufsuchens einer „grünen Stelle“, sodass dann letztendlich der Roman möglich wird.

Das Gespräch zwischen Ludwig Stockinger und Jacqueline Neumann wurde im Juli 2020 in Jena geführt.

Lutz Seiler: „Stern 111“, Suhrkamp 2020.