Asal Dardan und Anja Oesterhelt , 01.11.2021

„Betrachtungen einer Barbarin“

Asal Dardan und Anja Oesterhelt im Gespräch über „Betrachtungen einer Barbarin“

A.O.: Liebe Frau Dardan, Ihr Buch „Betrachtungen einer Barbarin“ wurde von der Kritik als Essaysammlung bezeichnet. Das leuchtet ein, weil sich Ihr reflexives Schreiben auf dem Grat zwischen Persönlichem und Allgemeinem bewegt. Die Essays mit Titeln wie „Spitzweg“, „Abendland“ oder „Wachsen“ stehen in den „Betrachtungen“ aber nicht unverbunden nebeneinander, sondern bilden zugleich eine durchkomponierte Erzählung. Die Lebensbilder bleiben fragmentarisch, schlaglichtartig, aber ergeben durch ihre chronologische Anordnung doch so etwas wie den Faden einer Geschichte. Dieser Faden oder vielmehr diese Fäden bilden das Geflecht, innerhalb dessen sich die Reflexionen und Betrachtungen anordnen. Genauso interessant wie die Übergänge zwischen Subjektivem und Allgemeinem finde ich deshalb die Übergänge zwischen Fragmentarischem und Ganzem. Bestimmt haben Sie nicht ohne Grund einem Ihrer Essays das Athenäums-Fragment 116 von Friedrich Schlegel vorangestellt. In welcher Beziehung sehen Sie Ihr Schreiben zu romantischen Denk- und Schreibtraditionen?

A.D.: Das Athenäums-Fragment 116 habe ich bei meinem Besuch in Jena anlässlich der Verleihung des Caroline-Schlegel-Preises 2020 an einer Wand des Romantikerhauses entdeckt. Es hat also erst spät seinen Weg in mein Buch gefunden, aber die Verbindung zu dem, was es ausdrückt, bestand bereits vorher. Für mich fühlt sich das Fragmentarische viel wahrhaftiger an als das klassisch Erzählte, weil es das Abwesende, Unausgesprochene nicht zu verdrängen sucht. Es entspricht meiner Art, die Welt wahrzunehmen, zu verstehen. Und auch die Vorstellung, dass alles immer im Werden ist, gefällt mir, sowohl persönlich wie auch gesellschaftlich gedacht. Ich schreibe in meinem Buch von einem kollektiven Wir als eine Art Mobile, ein Ganzes, das aus einzelnen, frei schwingenden Teilen besteht. Und das wollte ich auch für die Form meines Buches. Es stimmt, die Essays gehen alle von einem Ich aus, also von mir, aber ich wollte darin nicht meine eigene Geschichte erzählen, schon gar nicht als eine Art Memoire. Ich habe das Ich meiner Texte schon an anderer Stelle als einen Spiegel beschrieben, nicht um meiner Eitelkeit zu dienen, sondern als Angebot für Lesende, hoffentlich sich selbst und unsere Gesellschaft zu betrachten.

A.O.: Das gefällt mir sehr gut, dass der Text sehr Persönliches preisgibt, aber dieses persönliche Erleben dann eher einen Anlass zur Welt- als zur Selbstreflexion bietet. Genauso setzen Sie Intertextualität ein. Der Verweis auf andere Bücher verfolgt nicht den Zweck, die eigene Entwicklungsgeschichte zu illustrieren (oder die eigene Belesenheit zu beweisen), sondern Texte anderer dienen eher der Vervielfältigung der Perspektiven auf die Sache oder als Denkanlass.

J.M. Coetzee zum Beispiel, mit dem Sie ja übrigens teilen, erzählende und essayistische Prosa zu mischen und auch, das politische Statement nicht zu scheuen, Coetzee zitieren Sie ausführlich („Warten auf die Barbaren“). Wir erfahren, dass das eines Ihrer liebsten Bücher ist und dass es Sie zum Titel Ihres eigenen Buches inspirierte (allerdings wieder um die Ecke, denn Coetzee bezieht sich auf ein Gedicht Konstantinos Kavafis, das auch Sie zitieren… Text im Text im Text).

Aber das ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist die Idee des Buches, die Sie weiterdenken: Dass das Barbarische immer eine Zuschreibung der Anderen ist. Dass das Fremde zum Barbarischen erklärt wird, um die Angst vor ihm in eine Abwertung umwandeln zu können. Und dass jeder Einzelne diesem Impuls unterliegt, ihm aber nicht nachgeben muss… Das bringt mich auf die Frage, wie eigentlich der Schreibprozess bei Ihrem Buch verlief? Waren Texte anderer also auch für Sie Schreibanlässe, oder sind Ihre Texte nur so konstruiert, dass sie eben für den Leser, die Leserin zu Denkanlässen werden?

AD: Ich liebe Collagen, die ja auch das Fragmentarische in sich tragen, vielleicht schlägt sich das also in meiner Arbeit als Autorin nieder. Ich mag auch die Idee des kollaborativen Denkens und Schreibens, fast als politisches Projekt verstanden, in dem ein Werk immer auch gemeinsam mit anderen gesehen und gedacht werden sollte, so wie wir als Menschen nur gemeinsam wirklich weiterkommen – im Denken und Handeln. Die Arbeit anderer ist also eine große Inspiration für mich, ich unterstreiche viel in Büchern, schreibe im Theater oder Kino mit, und gehe immer wieder zurück, um mit dem Material weiterzudenken. Meist ist da ein Gedanke, von dem ich dann ausgehend nach etwas suche, entweder nach mir bereits Bekanntem oder aber auch Neuem.

Ausgangspunkt ist beim Schreiben meist eine eher abstrakte Idee, für die ich quasi einen Weg der Illustration und auch eine gedankliche Nachbarschaft suche. Die Gedanken formen sich allerdings erst so richtig beim Schreiben und manchmal fällt mir erst dann etwas ein, das ich gern verwenden möchte. Ich erinnerte mich also an „Warten auf die Barbaren“, als ich mich mit dem Fremden und dem Anderen als Figur beschäftigte, ebenso wie mir „Alle meine Söhne“ von Arthur Miller einfiel, als ich über den NSU-Prozess und darüber, wie wir gemeinhin mit moralischer Schuld innerhalb von Familien umgehen, nachgedacht habe. Ich finde es schön, wenn man transparent mit Inspirationsquellen umgeht, wenn man Offenheit und Begeisterung für das Denken und Schaffen anderer in die Welt trägt. Und was ich vorhin „kollaboratives Denken“ genannt habe, ist ja der Romantik sehr nah, wenn man etwa an die Wohngemeinschaft in Jena denkt.

A.O.: Ja, das trifft es gut – und so ein „kollaboratives Denken“ stellt sicher einen weiteren Romantikbezug her. Andererseits steckt in ihrem Text auch viel „Aufklärung“, durchaus auch verstanden als Idee, die sich mit der historischen Epoche vor der Romantik verbindet: Die Frage nach dem richtigen Handeln jedes Einzelnem als gesellschaftlichem Wesen zu stellen, überhaupt den Menschen als politisch Handelnden zu begreifen, so wie Sie es tun, ist ja auch ein Projekt der Aufklärung und da war die Aufklärung teilweise weiter, als die Romantik… So eine aufklärerische, politische Intention sehe ich bei Ihrer Auseinandersetzung mit den NSU-Prozessen und auch immer wieder in den Passagen, in denen es um Frauen geht: Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und Frauen, die gar keinen Widerstand aufbrachten, auch nicht gegen die vermeintlichen und tatsächlichen Notwendigkeiten ihres Lebens. Die Passage zu den beiden Fotografien von ‚Dominika‘ finde ich besonders schön, es geht um die Zornesfalten, die sich zwischen der ersten und der zweiten Fotografie in ihr Gesicht gegraben haben – alles andere, die Geschichte dazwischen, entsteht in Ihrem Text, oder eigentlich ist es gar keine Geschichte, sondern die Reflexion über Unfreiheit.

A.D.: Ich denke, es geht mir darum, den individuellen Leben gerecht zu werden, gerade auch, indem ich mehr als bloß ihre individuellen Geschichten erzähle. Ich möchte das Politische im Blick behalten, also aufzeigen, inwiefern gewisses Leid nicht Schicksal, sondern Ungerechtigkeit ist. Gleichzeitig möchte ich dabei das Einzelne und auch Fragile dieser Leben nicht grob als Illustrationsmaterial einer „Systemkritik“ missbrauchen. Bei den Frauenfiguren in „Nährboden“ war es mir besonders wichtig, ihnen ihre Komplexität nicht zu nehmen, also sie nicht als eindimensionale Opfer ihrer Zeit darzustellen oder zu unterschlagen, dass ihnen im Laufe ihres Lebens das Zärtliche abhanden gekommen ist; vielleicht ausgetrieben wurde, wer weiß. Sie waren jedenfalls in der Lage, selbst auch Leid zuzufügen, aber sie wurden auf eine Weise bestraft, als sei es ihre individuelle, ganz eigene Schuld, Unglück und Unzufriedenheit zu empfinden. Und auch wenn die Zeiten sich geändert, die sozialen und politischen Umstände und Rahmenbedingungen sich entwickelt haben, solange es gesellschaftliche Unterdrückung gibt – die sich selbstverständlich individuell und für alle in ihren einzigartigen, nicht ersetzbaren Leben niederschlägt – wird es eben emanzipatorische Bewegungen geben müssen, die aufzeigen, welche Rolle das eigene Leben in diesem gesellschaftlichen Gefüge spielt. Darum habe ich versucht, mehrere Generationen von Frauen miteinander in Bezug zu setzen, Kontinuitäten aufzuzeigen. Die Frauen in dem Text haben sich nicht politisch gewehrt, sondern im schlimmsten Fall im Privaten gerächt, auch weil sie keine Vorstellung davon hatten, dass sie ein anderes Leben für sich hätten gestalten, sogar erkämpfen können. Und die Aufklärung hatte da nebenbei gesagt auch nur sehr wenig für sie und andere Marginalisierte zu bieten. Nicht alle sind für den Kampf gemacht, der Wert solcher Geschichten liegt für mich also darin, zu zeigen, dass wir nicht alleine sind und darum auch nicht alleine handeln müssen.

A.O.: Es gibt ja viele wunderbare künstlerische und literarische Auseinandersetzungen iranischstämmiger Künstlerinnen und Künstler mit der Frage nach Zugehörigkeit an der Schnittstelle zweier (oder noch mehr) Kulturen, das Comic und den Zeichentrickfilm „Persepolis“ von Marjane Satrapi zum Beispiel oder Bahman Nirumands Autobiografie. Ich würde Ihr Buch trotzdem eher in eine Reihe mit gegenwärtigen Publikationen zum Thema „Heimat“ stellen, eine zur Zeit schier unglaubliche Menge an Veröffentlichungen. Einige der daran beteiligten Autorinnen verstehen sich als Vorkämpferinnen für einen entspannteren „Heimat“-Begriff, den sich die Deutschen wieder aneignen sollten (Thea Dorn oder Susanne Scharnowski zum Beispiel). Andere lehnen den Begriff vehement ab (Isolde Chari, Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah, Tamer Düzyol/Taudy Pathmanathan).

Eine dritte Gruppe, zu der ich Sie rechnen würde, geht sehr vorsichtig mit ihm um, ohne das Konzept der Zugehörigkeit als elementares Bedürfnis zu verwerfen. Zu diesen gehört z.B. auch Daniel Schreibers Buch „Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen“. Hier wird die „Störung“ eines „natürlichen“ Zugehörigkeit-Gefühls in Zusammenhang mit seiner Homosexualität gebracht. Die Infragestellung von Zugehörigkeit löst dann die Reflexion auf das, was ein „Zuhause“ ausmacht, überhaupt erst aus. Auch bei Autoren wie Schreiber, die den Heimat-Begriff eher kritisch sehen und andere Begriffe wie das – auf die individuelle Existenz begrenzte – „Zuhausesein“ wählen, geht es aber eben um Zugehörigkeit als elementares Bedürfnis, das nicht mit abstrakten Ideen befriedigt werden kann. Sie schreiben ja an einer Stelle Ihres Buches, sich als Europäerin zu bezeichnen, wäre Kitsch. Was ist Ihre Größenordnung für gelingende Zugehörigkeit: Europa ist zu groß – aber die eigenen vier Wände, bei denen Daniel Schreiber am Ende landet – ist das nicht ein bisschen zu klein gedacht?

A.D.: Meines Erachtens sollte man den Begriff der „Heimat“ nicht entpolitisiert, also von seiner politischen Wirkmacht losgelöst betrachten. Natürlich spricht er persönliche und individuelle Affekte an, aber gerade deshalb ist er ja auch solch ein wirksames Instrument. Man kann seine eigenen vier Wände als Heimat begreifen oder glauben, es gäbe einen entspannten Umgang mit Vorstellungen der Zugehörigkeit im post-nationalsozialistischen Deutschland – das ändert allerdings nichts daran, dass die Umbenennung eines staatlichen Organs in Heimatministerium eine sehr deutliche politische Botschaft sendet. In meinen Augen ist der Begriff da nicht zu retten bzw. frage ich mich, warum man ihn angesichts aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen denn so dringend retten möchte.

Vermutlich wirke ich auf Sie dennoch vorsichtiger, weil mir wichtig ist, die Wertschätzung des Eigenen von der Abwertung von allem, das man nicht als Teil des Eigenen wahrnimmt, loszulösen. Wenn Menschen das mögen, was ihnen vertraut ist und sie es wertschätzen und sich damit identifizieren, ist das schön. Was hätte ich dagegen einzuwenden? Doch meist ist etwas Heimat, weil anderes nicht Heimat ist oder weil nicht gewollt ist, dass alle sich heimisch fühlen. Da kippt etwas, das konkret sein sollte ins Abstrakte und wird so zu eben jenem Instrument des Ausschlusses und der Ausgrenzung, das so viele, die wissen, wie es ist, wenn man sich nicht heimisch fühlt, kritisieren. Dieses Gefühl kann im Übrigen auch andere Gründe als das der Migration haben, so wie es bei Daniel Schreiber der Fall ist, der sein Buch sicher sehr bewusst „Zuhause“ genannt hat. Überall, wo Menschen ausgegrenzt werden, werden sie von anderen heimatlos gemacht.

Das ist also ein Missverständnis, ich lehne es nicht ab, mich Europäerin zu nennen, weil das „zu groß“ für ein Gefühl der Zugehörigkeit wäre. Sehen Sie, ich habe das Privileg einer sicheren Flucht und Ankunft – etwas das heute keine Selbstverständlichkeit ist, weil die europäischen Staaten willentlich Menschen in unsichere und lebensbedrohliche Situationen zwingen. Tausende Menschen, die ertrinken, erfrieren oder vor Erschöpfung aufgeben oder sterben, denen in Lagern bloß ein Überleben erlaubt wird – das ist alles auch Europa und das kann und will ich niemals legitimieren oder ignorieren. Gelingende Zugehörigkeit bedeutet für mich, mit den Menschen, die um mich herum sind, die hier und heute leben, in Beziehung zu treten, sie zu sehen, ihnen zu wünschen, dass ihnen alle Sicherheit und Freiheit zukommt, die mir selbst auch zukommt. Dafür brauche ich kein Label, das uns verbindet. Wir sind so oder so miteinander verbunden, durch diese Erde, ihre Ressourcen, durch ihre von uns ausgehende Bedrohung und unsere gemeinsame Vulnerabilität.

Das Gespräch zwischen Asal Dardan und Anja Oesterhelt wurde im Oktober und November 2021 per E-Mail geführt.

Asal Dardan: „Betrachtungen einer Barbarin“, Hoffmann und Campe 2021.