Anne Bohnenkamp-Renken, Wolfgang Bunzel und Sandra Kerschbaumer , 01.01.2021

Das Deutsche Romantik-Museum

Anne Bohnenkamp-Renken, Wolfgang Bunzel und Sandra Kerschbaumer im Gespräch

S.K.: Wenn man am Großen Hirschgraben steht, schließt sich an das Goethe-Haus nun die schlichte Fassade des Deutschen Romantik-Museums an: ein dreigliedriges Gebäude mit einer Fassade aus hellen Sandsteintönen, ein Erker aus blauem Glas springt hervor. Nachdem man das Gebäude betreten hat, das hohe und zum Garten geöffnete Foyer durchschritten, steht man am Fuße einer Treppe, die nicht zu enden scheint. Der Blick der Besucher wird ins Blaue und in die Höhe gezogen. Wie spielen die Architektur des Neubaus und die Ästhetik des kulturellen Phänomens, das Sie an diesem Ort ausstellen, zusammen? Soll bereits das Gebäude zum Besucher sprechen?

A.B.-R.: Ja, genauso ist es. Wir haben uns ein Gebäude gewünscht, das selbst schon ‚mitspricht‘ zu unserem Thema – und hatten das Glück, mit Christoph Mäckler einen Architekten an unserer Seite zu haben, der sich sehr eingelassen hat auf unser Thema. Die große Treppe, die er direkt hinter die Fassade gelegt hat, um der Fassade am Großen Hirschgraben Fenster geben zu können, ist ein gutes Beispiel. Durch einen Trick, eine optische Täuschung, erzeugt der Architekt hier den Eindruck einer sehr langen und steilen Treppe – ein geradezu ‚unendlicher‘ Aufstieg –, die gut zu den romantischen Motiven der Sehnsucht und der Suche passt. Der Eindruck wird dadurch erzeugt, dass die Treppe nach oben deutlich schmaler und der Raum niedriger wird – sodass der Betrachter die ‚Himmelstreppe‘ für viel höher hält, als sie in Wirklichkeit ist. Das hat natürlich auch den Effekt, dass diese Vorstellung gestört wird, sobald in den oberen Stockwerken ein Besucher in den Treppenraum tritt und das Missverhältnis zwischen seiner Größe und der vermeintlichen Höhe und Entfernung der Treppe die Illusion bricht und dadurch ins Bewusstsein rückt. Vergleichbare ironische Verfremdungseffekte kennen wir aus der Literatur der Romantik.

Mit der Gestaltung der Fassaden bezieht sich der Architekt auf das direkt benachbarte Goethe-Haus. Die Gliederung in drei Häuser entspricht der historischen Bebauung der Straße und vermeidet ein Übergewicht des neuen Gebäudes im Vergleich zu dem nach dem Krieg originalgetreu wiederaufgebauten Wohnhaus der Familie Goethe aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Aufnahme der Materialien der historischen Fassadengestaltung und ihre signifikant abweichende Verwendung für das neue Gebäude lässt sich auch als Entsprechung lesen des intensiven, aber spannungsreichen Verhältnisses zwischen Goethe und der Romantik. Eine wichtige architektonische Entscheidung ist auch die Einbeziehung der historischen Brandwand des Goethe-Hauses in die Gestaltung des neuen Foyers, das gleichermaßen den Zugang bildet für Goethe-Haus, Goethe-Galerie und Romantik-Ausstellung. Dass bei der Freilegung dieser Brandwand der Sandsteinrahmen eines alten Fensters zum Vorschein kam, es muss schon seit dem frühen 17. Jahrhundert zugemauert gewesen sein, ist ein überraschendes Detail, das die historische Dimension des Ortes anschaulich erfahrbar macht.

S.K.: Sie sprechen vom intensiven und spannungsreichen Verhältnis zwischen Goethe und der Romantik und passenderweise bildet dann in der ersten Etage des neuen Hauses die „Goethe-Galerie“ einen Übergang zwischen Goethes Geburtshaus und der Romantikausstellung. Sie zeigen Bilder aus der Kunstsammlung des Hochstifts, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstanden und die in Bezug zu Goethe stehen, etwa Italienansichten von Johann Philipp Hackert und einige, wie Johann Heinrich Füsslis Nachtmahr, die schon einen Vorgeschmack auf die dunklen Seiten einer psychische Bedrängnis artikulierenden Romantik geben. Auffällig ist der Kontrast der Ausstellungskonzeption von der ersten zu den oberen Etagen. Während die Goethe-Galerie sich als ruhige Ausstellung von Bildwerken präsentiert, beginnt mit der Romantikausstellung ein Feuerwerk zündender Ideen, in der ausgewählte Handschriften zwar im Zentrum stehen, diese aber in einzelnen Stationen von Inszenierungen begleitet werden, die alle Sinne zugleich ansprechen. Wird dieser Aufbau dem Verhältnis von Goethe zur Romantik gerecht? Wird es noch andere Formate geben, in denen es um dieses Verhältnis geht? Ist es doch bis heute höchst strittig – einige nennen Goethe ganz selbstverständlich einen Romantiker, andere sehen Differenzen, zum Beispiel in der Gewichtung von diesseitiger und jenseitiger Welt, und wollen höchstens einzelne seiner Werke als romantisch gelten lassen.

A.B.-R.: Das Verhältnis zwischen Goethe und der Romantik ist nicht auf einen einfachen Nenner zu bringen. Das hat sowohl damit zu tun, dass sich in Goethes langem Leben das Verhältnis zur Romantik durchaus gewandelt hat – als auch damit, dass unter ‚Romantik‘ verschiedene Dinge verstanden werden können. Das neue museale Ensemble bietet die Chance, hier genauer hinzusehen und das facettenreiche Verhältnis differenziert in den Blick zu nehmen. Das kann und soll die Dauerausstellung nicht alleine leisten: Hier werden auch in Zukunft Wechselausstellungen und Veranstaltungen eine wichtige Rolle spielen.Das Konzept der Dauerausstellung impliziert jedoch bereits unterschiedliche Sichtweisen auf das Verhältnis Goethes zur Romantik. Die Einbeziehung Goethes in das Deutsche Romantik-Museum nimmt zunächst den internationalen Blick auf die deutschsprachige Literatur dieser Epoche auf, demzufolge Goethe häufig gerade als wichtigster deutscher Romantiker gilt.

Der deutliche Kontrast in den Präsentationsformen der Goethe-Galerie im ersten Stockwerk und der Romantik-Ausstellung in den beiden oberen Stockwerken spielt dagegen mit der traditionellen Vorstellung eines stiltypologischen Gegensatzes zwischen ‚klassischem‘ Goethe und romantischer Entgrenzung und Gattungsmischung. Dass es im neuen Museum weder bei einer schlichten Vereinnahmung noch bei dieser (zu) simplen Entgegensetzung bleibt, wird bei näherer Betrachtung deutlich: In der Goethe-Galerie übernehmen ‚romantische‘ Exponate bereits eine wichtige Rolle und rücken die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als ‚Inkubationszeit‘ – oder Beginn (je nachdem, wie man die Epoche ansetzt) – der Romantik in den Blick. Und in den Romantik-Stockwerken geht es immer wieder auch um Goethe und sein facettenreiches Verhältnis zu den Protagonisten, Positionen und Perspektiven der Romantik. Ein roter Faden, der sich vom Goethe-Haus über die Gärten und die Goethe-Galerie bis zu Robert Schumann durch alle Bereiche der Dauerausstellung zieht, bietet Goethes ‚Faust‘, dessen erste Fassung (der berühmte ‚Urfaust‘), die in den 70er-Jahren im Elternhaus am Großen Hirschgraben entstand, bereits zentrale romantische Themen anschlägt, und dessen erst kurz vor seinem Tod vollendeter zweiter Teil, namentlich der ‚Helena‘-Akt, vielfältige Bezüge auf die europäische Romantik aufweist und von Goethe ausdrücklich zur „Versöhnung“ „des leidenschaftlichen Zwiespalts zwischen Klassikern und Romantikern“ gedacht war.

S.K.: Man kann es als ein überaus großes intellektuelles und ästhetisches Vergnügen beschreiben, als Besucherin die beiden Ebenen des Romantik-Museums zu durchstreifen. 35 Stationen gibt es? Alle setzen auf die Aura des Originals. So sind etwa Handschriften von Clemens und Bettine Brentano, von August Wilhelm und Friedrich Schlegel, von Novalis und von Joseph von Eichendorff zu sehen. Eichendorffs Entwurf des Gedichts „Wünschelrute“ (1835) klappt man wie alle anderen historischen Dokumente an einem Stehpult auf, um dann einen ganz bewussten Blick auf die Schriftzüge, die Streichungen und Änderungen zu werfen. Denjenigen, die nicht eingelesen sind, helfen Transkriptionen, die sich aus dem Pult hervorziehen lassen. Aber das ist bei Weitem nicht alles: Um die Handschriften herum finden sich aufwendige Inszenierungen: ein rhythmisch und metaphorisch kühner Brief Clemens Brentanos an Karoline von Günderrode wird in einer absolut dunklen Kammer von einem Sprecher suggestiv-bedrohlich dargeboten. An anderer Stelle findet sich eine ganz praktische Installation, der Nachbau einer Batterie, an der Johann Wilhelm Ritter, der romantische Naturforscher, Versuche unternommen hat, um den Galvanismus als Lebensprinzip zu erforschen. Welche Bereiche romantischen Denkens und Schaffens wollten sie unbedingt darstellen? Wie haben Sie die Handschriften ausgewählt? Woher die Ideen genommen, diese in Szene zu setzen? Und wie haben Sie es geschafft, dass sich die Vielfalt ästhetisch zusammenfügt?

A.B.-R.: Ja, es sind 35 Stationen, in deren Mittelpunkt jeweils ein Original aus unserer Sammlung steht: ein Manuskript oder ein Brief, eine Grafik, ein Buch oder ein anderes Objekt. Das Entstehungsdatum des jeweiligen Exponats bestimmt den Ort in der Ausstellung: Die Stationen sind chronologisch geordnet, müssen aber nicht in dieser Reihenfolge betrachtet werden. Jede Station aber erzählt eine Geschichte rund um das ausgewählte Objekt – der Besucher ist frei, seinen eigenen Vorlieben und Interessen zu folgen. Dabei stehen die einzelnen Stationen in vielfältigen Bezügen untereinander und bieten einen kaleidoskopartigen Einblick in die schillernde und facettenreiche Epoche der Romantik. Die Auswahl und die Inszenierung der Stationen waren das Ergebnis einer mehrjährigen intensiven Teamarbeit, die von den ganz unterschiedlichen Perspektiven der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Hochstift und dem kreativen Einfallsreichtum unserer beiden Gestalterinnen geprägt war. Petra Eichler und Susanne Kessler vom Frankfurter Gestalterbüro ‚Sounds of Silence‘ waren schon bei den Entscheidungen, welche der möglichen Exponate schließlich ausgewählt wurden, beteiligt. Ihnen verdanken wir die Gestalt unserer zentralen schreibpultartigen Holzvitrinen und zahlreiche Ideen für die unterschiedlichen medialen Inszenierungen. Die schwierige Aufgabe schließlich, die entstehende Vielfalt ästhetisch zusammenzufügen, lag ganz in ihren Händen.

W.B.: Betrachtet man den Aufbau der einzelnen Stationen näher, dann zeigt sich, dass jeweils unterschiedliche Wahrnehmungsweisen angesprochen werden. Uns war von Anfang an bewusst, dass eine Dauerausstellung, die sich an ein vom Alter, dem Vorwissen und den Erwartungen her sehr heterogenes Publikum wendet, vielfältige Formen der Präsentation benötigt. Es gibt daher einerseits die Ebene der Inszenierung: Sie fällt als erstes in Auge, erregt Aufmerksamkeit über die Akustik oder spricht den haptischen Sinn an. Damit wird das Interesse geweckt, die Besucherinnen und Besucher werden neugierig und schauen genauer hin. Treten sie dann an eine Station heran und öffnen sie den Deckel des wie ein Schatzkästchen gestalteten Vitrinenmöbels, fokussiert sich die Wahrnehmung mit einem Mal auf das, was darin gezeigt wird. Der Betrachter oder die Betrachterin hat nun ein – in vielen Fällen sehr wertvolles, oft einzigartiges – Objekt vor sich und begegnet ihm in ungewohnter Intimität. Die Aura des historischen Exponats kann nun zu wirken beginnen. Das Nebeneinander der unterschiedlichen Gestaltungsmodi lässt dem Publikum die Freiheit, entspannt zu flanieren und die Atmosphäre der gesamten Ausstellung auf sich wirken zu lassen, sich von diesem oder jenem Thema, von dieser oder jener Inszenierung anziehen zu lassen oder aber gezielt die Originale anzusteuern. Sowohl das Tempo als auch die Intensität der Betrachtung wechseln also je nach persönlichem Interesse. Das – aus konservatorischen Gründen notwendige – Verbergen der historischen Schaustücke betont ihren materiellen und ideellen Wert und erhöht den Aufmerksamkeitsgrad bei den Besucherinnen und Besuchern. Es schirmt zudem die eher ‚leisen‘ Exponate aus dem 18. und 19 Jahrhundert ab gegenüber den ‚lauteren‘ Formen der Inszenierung mit den Medien unserer Zeit.

Ausgehend vom literarischen Schwerpunkt unserer Sammlung wollten wir doch auch dem grenzüberschreitenden Impuls der Romantik folgen und die verschiedenen Bereiche romantischen Denkens und Schaffens in den Blick nehmen, also neben Literatur und Philosophie auch Religion, Musik, bildende Kunst und Architektur, Naturwissenschaft und Medizin, aber auch Politik und Lebensführung.

S.K.: Gleich im Eingangsbereich der zweiten Etage empfangen einen schmale, verspiegelte Stelen, bedruckt mit ganz verschiedenen Zitaten. In diesem Spiegelwald versuchen Menschen der Vergangenheit und der Gegenwart, ‚Romantik‘ zu erfassen und so zeigt sich gleich der schillernde Charakter des Wortes und der mit diesem Wort verbundenen Vorstellungen. Auf der ersten Begleittafel findet sich dann ein Fragment von Novalis: „Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge“ – spielt dieses Zitat heimlich eine besondere Rolle, die eines Leitgedankens?

Und spricht das Zitat auch Probleme von Ausstellungsmachern an? Etwas zu präsentieren und damit fixieren zu müssen, ohne den Gegenstand je in seinem ganzen Umfang fassen zu können? Wie haben Sie es geschafft, zugleich Offenheit zu vermitteln und für eine gewisse Klarheit zu sorgen, die den Besucher durch die Ausstellung trägt? Wie sicher muss man sich seines Gegenstandes sein, um ein Ausstellungskonzept zu entwerfen, und wieviel Dynamik entsteht im Arbeitsprozess?

W.B.: Ja, das Novalis-Zitat am Beginn des zweiten Stockwerks spielt eine doppelte Rolle. Die griffige Formulierung benennt eine zentrale Paradoxie der romantischen Bewegung: Die Sehnsucht richtet sich immer auf etwas, das entweder nicht oder nicht ohne Weiteres erreichbar ist. Trotz der damit verbundenen Enttäuschung und Desillusionierung wird die Suche nach dem „Unbedingten“ aber niemals aufgegeben. Das schöne und in dieser Form nur in der deutschen Sprache mögliche Wortspiel von „un-be-dingt“ und „Ding“ gibt der Aussage ihren besonderen, philosophischen und poetischen Reiz.

Zugleich benennt Novalis’ Ausspruch tatsächlich auch ein Grundproblem des Ausstellens von Literatur: Poetische Texte entwerfen eigene, ungekannte Welten und gestalten etwas, das nur im Raum der Poesie möglich ist. Ihr physisches Trägermaterial aber mutet dagegen eher eindimensional an. Was sehen wir, wenn wir ein Autograf, eine Zeitschrift oder ein gedrucktes Buch betrachten? Erst einmal nur Papier. Dass dem Dinghaften aber ganz andere Dimensionen innewohnen können, erschließt sich erst bei genauerer Betrachtung. Es genügt deshalb auch nicht, das dingliche Korrelat in einer Vitrine zu präsentieren. Vielmehr geht es darum, die darin niedergelegte Bedeutung, den darin verborgenen Sinn zum Erscheinen zu bringen – oder doch zumindest eine Ahnung davon zu vermitteln. Die museografische Inszenierung hat genau diese Funktion: Sie soll die für den flüchtigen Blick schweigenden Dinge zum Sprechen und das in ihnen steckenden Potenzial zur Entfaltung bringen.

Im Arbeitsprozess wurde rasch klar, dass es viele verschiedene Arten gibt, wie man sich der Romantik konzeptionell nähern kann. Wenn man sich für einen Zugangsweg entscheidet, schließt man notgedrungen die anderen aus. Wir haben im Lauf der Zeit nicht weniger als vier verschiedene, in sich kohärente Konzepte erarbeitet, die jeweils bestimmte Aspekte als Ordnungshilfen genutzt hätten. Schließlich aber haben wir uns entschieden, den Ausgang direkt von den Stücken in den Sammlungen des Freien Deutschen Hochstifts zu nehmen. Denn diese sollten nicht lediglich zur Illustration von Thesen oder Themen dienen, sondern selbst in ihrer Einzigartigkeit und ihrer Materialität erfahrbar gemacht werden.

Als über dieses Ziel Klarheit bestand, waren wir uns unserer Aufgabe dann auch sicher, der Fortgang der Arbeit ähnelte aber immer wieder auch einer Exkursion ins Ungewisse. Denn der Auswahlprozess der Objekte brachte eine eigene Dynamik in Gang, viele mögliche Exponate konkurrierten um die Aufnahme in die Dauerausstellung. Dabei haben wir uns darum bemüht, die Proportionen zu wahren und die Gewichtungen von Personen und Themen in zahlreichen Gesprächen untereinander auszuhandeln. Ein limitierender Faktor war die begrenzte Fläche (der die begrenzte Dauer eines normalen Museumsbesuchs entspricht): auf nicht wenige interessante Exponate, denen wir ebenfalls gerne eigene Stationen gewidmet hätten, mussten wir schließlich verzichten.

S.K.: Es gibt die intellektuell entgrenzende, ästhetisch experimentelle Seite der Romantik, aber – vor allem in ihrem historischen Verlauf – auch eine ab- und ausschließende Seite. Sie verbinden in einem Raum die Darstellung der „Kinder- und Haus-Märchen“ der Grimms, deren Motive ranken sich in schwarzen Zeichnungen über die Wände, mit Informationen zur 1811 von Achim von Arnim gegründeten christlich-deutschen Tischgesellschaft. Die Verbindung verläuft von der latent kulturnationalistischen Vorstellung einer ‚Volksliteratur‘ zum sich am Berliner Mittagstisch von Adeligen, Beamten, Militärs, Professoren und Künstlern artikulierenden antinapoleonischen Nationalismus. Anders als in den Salons werden Frauen und Juden ausgeschlossen und man richtet sich kämpferisch gegen den „Philister“, den Clemens Brentano im einzig gedruckten Text der Gesellschaft „als angeborene[n] Feind aller Ideen, aller Begeisterung, allen Genies und aller freieren göttlichen Schöpfung“ bezeichnet. Warum steht dieser Aspekt eher am Rande (des Raumes)?

W.B.: Aus unserer Sicht steht die „poetische Mobilmachung“ im Kontext der Befreiungskriege nicht am Rande, sondern markiert als Schlusspunkt des ersten Stockwerks eine zentrale Scharnierstelle. Auch wollten wir durch die Platzierung in einem Raum mit den Grimmschen „Kinder- und Haus-Märchen“ eine leicht übersehene historische Verbindung andeuten. Die Märchen erscheinen zuerst 1812 und damit im Kontext der nationalen Erhebung. Das bedeutet, dass der auf die deutsche Kultur gerichtete Sammelimpuls der Grimms geschichtlich in unmittelbarer Nähe steht zur nationalistischen Betonung des ‚Eigenen’ gegenüber dem – vermeintlich – ‚Fremden’. Die Brüder Grimm sichern bedrohtes Kulturgut, doch sie bleiben auch auf die deutsche kulturelle Tradition fokussiert. Dorothea Viehmann als eine der Zuträgerinnen der Märchen wurde zu einer „ächt hessischen“ Stimme stilisiert und die nachweislich aus Frankreich stammenden Märchen, die in der Erstausgabe noch vertreten waren, wurden später aus der Sammlung entfernt. Die Besucherinnen und Besucher sollen nachvollziehen, dass die heute weltweit bekannten Märchen einst unter konkreten historischen Bedingungen zusammengetragen wurden und dass sich diese Umstände auch in der Auswahl und dem Gestus der Texte niedergeschlagen haben.

Zugleich wollten wir die fremden- und judenfeindlichen Schriften nicht durch die Aufnahme in einen unserer ‚Schatzkästen‘ auratisieren – und haben für sie eine ‚neutralere‘ Vitrine entwickelt. Bewusst nehmen wir das Thema der Ausgrenzung von Frauen und Juden dann in der Station zu Rahel Varnhagen im 3. Stock wieder auf.

S.K.: Mit dem Gang in die oberste Etage erleben Besucher und Besucherinnen die Ausweitung der Romantik ins Europäische, die man zum Beispiel an Stationen zur Vermittlungs- und Übersetzungstätigkeit verfolgen kann. Und ganz zum Schluss spielen Sie mit dem Gedanken eines Fortwirkens bis in die Gegenwart: ‚Romantik‘ ist also noch ein Thema unserer Zeit. Sie sprechen von zehn Jahren, die Konzeption und Bauzeit des Deutschen Romantik-Museums umfasst haben. Haben Sie während dieser Jahre Veränderungen im öffentlichen Gespräch über ‚Romantik‘ wahrgenommen?

A.B.-R.: Eine interaktive Landkarte, mit der wir die ‚Mobilität‘ erfahrbar machen wollen, die der romantischen Bewegung von Beginn an eignet, findet sich schon in der zweiten Etage. Im dritten Stockwerk geht es dann um die ‚Ausbreitung‘ der Romantik – in mehrfachem Sinne. Es geht um die Überschreitung geografischer, sprachlicher und auch disziplinärer Grenzen. Viele Ideen aus der frühen Jenaer Zeit gelangten durch August Wilhelm Schlegels Vorlesungen nach ganz Europa: mit Hilfe von Madame de Stael wurden sie rasch in verschiedene Sprachen übersetzt, auch ihr eigenes Buch „De L’Allemagne“ vermittelte Erfahrungen mit den aktuellen Entwicklungen deutschsprachiger Literatur nach Frankreich und England. Eine der zentralen grenzüberschreitenden Tätigkeiten der Romantiker steht im Mittelpunkt der interaktiven Station zum Übersetzen. Außerdem geht es in diesem Stockwerk um die Aufnahme und Ausbreitung der romantischen Ideen in andere Künste und Lebensbereiche: Es geht um bildende Kunst, um Musik, um Architektur, aber auch um Religion, Gesellschaft und Politik. Am Ende der Ausstellung fragen wir nach dem Fortwirken der Romantik bis heute – in einer Reihe von kleinen Filmen machen wir Vorschläge, wo und auf welche Weise sie sich auch heute entdecken lässt. Diese Reihe ist auf Fortsetzung angelegt: Tatsächlich haben wir im Laufe der Arbeit am Museumprojekt den Eindruck gewonnen, dass unser Verhältnis zur Romantik sehr lebendig ist – und die Auseinandersetzung mit ihr in den vergangenen zehn Jahren an Aktualität noch gewonnen hat. Unsere Ausstellung versteht sich nicht als Plädoyer für ‚die‘ Romantik, sondern als Einladung zum Dialog mit einer Epoche, die durch Sehnsüchte und Widersprüche gekennzeichnet ist, die uns bis heute prägen.

Den europäischen Charakter der Romantik akzentuieren wir übrigens außerdem mit einer interaktiven Medieninstallation im Untergeschoss des Museums. Im „Grunelius“-Saal werden wir zukünftig Wechselausstellungen zeigen; zur Eröffnung lenken wir hier die Aufmerksamkeit auf die im Internet zugängliche virtuelle Ausstellung „Dreaming Romantic Europe“, die von einem Verbund zahlreicher europäischer Romantik-Forscher und -Gedenkstätten für das Internet entwickelt wurde (https://www.euromanticism.org/).

Wir danken Frau Anne Bohnenkamp-Renken und Herrn Bunzel für das Gespräch sowie dem Deutschen Romantik-Museum für die Bereitstellung der Bilder.

Fassadenansicht des neu eröffneten deutschen Romantik-Museums

Blick in den Romantik-Garten

Deutsches Romantik-Museum, Foyer

Deutsches Romantik-Museum, Himmelstreppe

Deutsches Romantik-Museum, Goethe-Galerie, Italienraum

Joseph von Eichendorff, „Wünschelrute“ (1835)

Deutsches Romantik-Museum, Spiegelhalle

Deutsches Romantik-Museum, Blutbrief

Deutsches Romantik-Museum, Ritterstation

Deutsches Romantik-Museum, Grimm-Station

Deutsches Romantik-Museum

Deutsches Romantik-Museum, Interaktive Landkarte

Caspar David Friedrich, „Der Abendstern“, ca. 1830/35, 32,2 x 45 cm, Frankfurter Goethe Haus, Frankfurt am Main