Ein „polyphones“ Werk
Heinrich Detering ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft. Neben seinem kürzlich erschienenen Buch Die Revolte der Erde. Karl Marx und die Ökologie veröffentlichte er zuvor mit Menschen im Weltgarten. Die Entdeckung der Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt und Holzfrevel und Heilsverlust. Die ökologische Dichtung der Annette von Droste-Hülshoff zwei weitere Bücher über die literarische Verarbeitung ökologischer Fragen seit 1800. Dajana Daum ist Doktorandin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ehemalige Kollegiatin des Graduiertenkollegs Modell Romantik. Sie forscht zu romantischen Denkfiguren im Werk des russischen Schriftstellers Andrej Platonov.
DD: Lieber Herr Detering, ich freue mich sehr, dass wir uns heute über Ihr aktuelles Buch Die Revolte der Erde. Karl Marx und die Ökologie unterhalten können. Sie beginnen dies mit dem Hinweis auf eine Adaptation des Marxismus, die in Form des stalinistischen Realsozialismus ökologisch verheerende Folgen hatte und sich auf einen vermeintlich durch Marx begründeten Prometheismus bezieht. Im Verlauf Ihres Buches erwähnen Sie anhand von konkreten Textstellen Scheidepunkte der Marx-Rezeption, aus denen ein solches Paradigma der Naturbeherrschung und -unterwerfung hervorgegangen ist. Dabei geht es um eine bloße „Aneignung des Natürlichen“ (Baudrillard) und um Marx‘ Metapher der „Dienstbarkeit“ der Erde. Eines ihrer Ziele ist es, einen anderen Marx sichtbar zu machen, für den das Verhältnis von Mensch und Natur von Solidarität geprägt ist. Könnte Ihre Lesart damit zusammenhängen, dass Marx nicht nur in seiner Metaphorik die Natur vermenschlicht, sondern gleichzeitig den Menschen als ein Tier versteht? Marx stellt ja immer wieder den Menschen in seinem Naturzusammenhang in den Vordergrund und begreift auch seine kulturellen Erzeugnisse als Naturprodukte.
HD: Ich selbst habe mit Marx lange die Vorstellung einer „prometheischen“ Unterwerfung der Natur verbunden, die Hans Jonas und andere ihm aus der Erfahrung des „real existierenden Sozialismus“ heraus vorgeworfen haben. Aber für diese stalinistischen Formen der Ausbeutung der Natur, diese titanischen Vorstellungen vom Umlenken der Ströme, diese Reduktion der Natur auf eine Ressource usf. gibt es bei Marx keinerlei Anhaltspunkte. Das Gegenteil ist der Fall. Und eine meiner Thesen ist, dass das daran liegt, dass Marx früh durch das romantische Naturdenken literarisch sensibilisiert und sozialisiert worden ist. Bevor Marx Marxist wurde, ja bevor er Hegelianer war, hatte er schon romantische Naturdichtung in sich aufgenommen. Das Wichtigste, was er daraus gelernt hat, ist eine Art Zusammenhangsdenken, das in poetischen und philosophischen Texten der Frühromantik formuliert worden ist, in Texten, die bewusst an der Grenze zwischen wissenschaftlicher Spekulation und poetischer Phantasie balancieren.
DD: Hier führen Sie zum Beispiel Karoline von Günderrodes Idee der Erde an.
HD: Ja, an Günderrode kann man da denken, an Novalis natürlich. Auch Tieck ist mit Gedichtzyklen, in denen Naturwesen, zum Beispiel die Bäume, einzeln und dann im Chor zu Wort kommen, ein Autor, dessen Echo ich in Marx‘ eigenen frühen Versuchen zu hören glaube. Wenn man das in solchen Texten performativ Inszenierte zurückübersetzen möchte in eine wissenschaftlich vertretbare Hypothese, dann kommt etwas heraus, das dem Haeckel’schen Ökologiebegriff schon sehr nahe ist und das heute, im „Eco Criticism“ wie in Teilen der Romantikforschung, mit Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Modell verbunden wird. Ein „Akteur“ ist nicht dasselbe wie ein intentional handelndes Subjekt. Latour geht es um Wirkungszusammenhänge, die sich fortwährend dynamisch weiterentwickeln und in dem jedes Geschehen das gesamte System in seiner Fragilität verändern kann.
Solche Konzepte bereiten sich im Naturdenken der Romantik vor. Aus dieser Perspektive sieht Marx in einer Weise, die ihm nach meinem Eindruck ganz selbstverständlich ist, von Anfang an den Menschen, einschließlich der Ökonomie. Diese Wahrnehmungs- und Denkweise ist schon da, bevor Marx sozusagen den Marxismus erfindet. Aber sie wird erst dort systematisch reflektiert, wo er im Laufe seiner Arbeit, vor allem in der zunehmenden Beschäftigung mit Naturwissenschaftlern wie Darwin oder Liebig bemerkt, dass ihm empirisches Wissen und Kenntnis von Denkweisen der zeitgenössischen Naturwissenschaften fehlen. Darum beginnt er unmittelbar nach dem Erscheinen des ersten Kapital-Bands, sich systematisch naturwissenschaftliche Kenntnisse zu erarbeiten, zur Geologie, zur Geschichte der Arten, zu Botanik, Bergbau, allen möglichen Dingen, so dass er den geplanten Abschluss des Hauptwerks zeitweise fast aus dem Blick verliert.
DD: Im ersten Kapitel des Kapitals zitiert Marx den britischen Ökonomen William Petty und dessen Formulierung von „labour“ als „father“ und „lands“ als „mother“ des Wohlstands. Dabei übersetzt er „lands“ als „Erde“, so dass die Metapher von der Produktion als dem Kind von menschlicher Arbeit und mütterlicher Erde laut Ihrer These an den Mythos von der Erdmutter Gaia, den er aus seinen romantischen Studien in Bonn kannte, anschließbar wird. Auf welche Weise entfaltet sich dieses Bild in seinen Schriften, vor allem im weiteren Verlauf des Kapitals?
HD: Es gibt bei Marx schon in den Pariser Manuskripten 1844, genaugenommen schon in seinem Aufsatz zum Holzdiebstahl 1842 immer wieder Bilder einer mütterlichen Fürsorge der Erde für die Menschen. Sein Begriff der Erde, den er eben auch in Pettys Formel einträgt (die korrekte Übersetzung wäre „Ländereien“), ist für mich ein wichtiges Bindeglied zur romantischen Naturphilosophie. Erde ist auch für ihn zunächst einfach der Grund und Boden als Wirtschaftsgut, das beackerte Land. (Und nur das meint Petty.) Dann kann Marx’ Begriff der Erde den Planeten Erde meinen – so schon in Paris 1844 – die Rede vom Menschen, der „auf der festen wohlgerundeten Erde“ steht und „alle Naturkräfte aus und einathme[t]“. Das ist eine ziemlich avancierte Metapher, die im Hinblick auf das (hier noch nicht klassenspezifisch differenzierte) menschliche Handeln als Teil eines allgemeinen – mit Marx‘ eigenem Ausdruck – „Stoffwechsels“ eine globalisierte Perspektive einnimmt. Der Begriff Erde kann drittens für diejenige Natur stehen, die uns als Gegenüber begegnet, und zuletzt, viertens, auch für die Erde antike mythologische Personifikation als Gaia. Marx hat in Bonn bei dem romantischen Altphilologen Friedrich Gottlieb Welcker über Gaia genau solche Dinge gelernt. Das sollte man nicht esoterisch verkitschen, sondern im Sinne dessen verstehen, was etwa Günderrode mit Schelling als Weltseele beschreibt – nämlich die Erde als einen dynamischen Makroorganismus aufzufassen, zu dem alle anderen Organismen, uns eingeschlossen, gehören. Es scheint heuristisch sinnvoll, die Erde in einer ökologischen Perspektive so aufzufassen. Das jedenfalls meinte die „Gaia-Hypothese“ von Lynn Margulis und James Lovelock in der Zeit, in der die ersten Berichte des Club of Rome die beginnende industrielle Zerstörung des Planeten dokumentierten. Die moderne Ökologiebewegung nimmt bei demselben Denkmodell ihren Ausgang, das bei Marx im ersten Kapitel des Kapitals angedeutet wird.
DD: Sie führen Ihren Ökologiebegriff auf Ernst Haeckel zurück und betonen, dass er der Sache nach aus der klassisch-romantischen Maxime „Alles ist Wechselwirkung“ hervorgegangen ist, die unabhängig voneinander Alexander von Humboldt und Bettina von Arnim formulieren. Eine Aktualisierung der Romantik bei Marx verorten Sie ja primär über die schon erwähnte Konstellation eines familiären Zusammenhalts sowie über organologische Metaphern, die auf die Zusammengehörigkeit von Mensch und Erde in einem gemeinsamen „Leib“ und „Stoffwechsel“ zielen. Dabei zeigen Sie nachvollziehbar auf, wie das für die Romantik so konstitutive Problem-Reaktions-Schema von Verlusterfahrung und Versöhnungsperspektive auch in Marx’ Theorie ein Dreh- und Angelpunkt seiner natur- und sozialgeschichtlichen Überlegungen ist oder dazu wird. Wie verorten Sie Marx’ Ursprungserzählung von einer Mensch-Natur-Einheit vor dem Sündenfall der „ursprünglichen Akkumulation“ im Verhältnis zwischen romantischer Verklärung und dem Anspruch an historische Akkuratesse?
HD: Ich bin sehr skeptisch gegenüber der verbreiteten Idee, Marx habe, salopp gesagt, verklärenden Vorstellungen von einer paradiesischen Urgesellschaft angehangen, in der alles gut gewesen sei; insofern teile ich eine Voraussetzung Ihrer Frage nicht. Marx ist nach meinem Eindruck nicht in diesem trivialen Sinne ein Abkömmling der Romantik; schon das damit unterstellte Einheits- und Homogenitätsideal läuft, wenn ich nicht irre, seiner Betonung von Individualität, Divergenz und Diversität zuwider. (Das zieht sich ja von der im Manifest 1848 geforderten „freien Entwicklung eines jeden“ als Bedingung einer „freien Entwicklung aller“ bis zu der berühmten Formel „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ in der Kritik des Gothaer Programms 1875.) Auch nimmt er die Natur ja keineswegs als konfliktfrei wahr, sondern als durchaus agonal, erst recht nach der Lektüre Darwins. Von früh an betont er die Fähigkeit von Menschen, die ökonomischen Handlungsmöglichkeiten, die eine mütterliche Erde ihnen „fürsorglich“ bereitstellt, zu übertreffen und sich selbstständig zu machen. Das ist durchaus als Emanzipation von der bloßen Bindung an die Erde gedacht. So weit ist und bleibt Marx ein Nachkomme der Aufklärung, der diesen Prozess positiv versteht.
Was ihn aber zunehmend interessiert, ist der Umstand, dass es in einfachen menschlichen Wirtschaftsformen Möglichkeiten der Gemeinschaftlichkeit, der gesellschaftlichen Selbstorganisation gibt, die nicht nur zwischen den beteiligten Menschen ein gutes Gleichgewicht halten, sondern auch im Verhältnis dieser Menschen zur Natur, aus der und mit der sie leben. Er interessiert sich etwa für kleine bäuerliche Gesellschaften in Bengalen oder im ländlichen Russland, die auf eine Kreislauf- und Subsistenzwirtschaft ausgerichtet sind. Aber er bleibt zugleich skeptisch gegenüber der Verklärung eines Lebens, das sich von der Außenwelt und vom Austausch isoliert, und er bewundert ja vom Manifest an die Wohlstands- und Freiheitsmöglichkeiten, die der Kapitalismus eröffnet hat, auch wenn der deren Erzeuger von deren Nutzung ausschließt. Die Entwicklung von Technik und Industrie ist für ihn für sich genommen gar nichts Böses, sondern eine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen den Menschen und auch das des Menschen zur Erde zu verbessern. Eine Art Sündenfall ist für ihn dagegen die Enteignung der funktionierenden kleinbäuerlichen Wirtschaften durch Großgrundbesitzer, die damit den entstehenden Kapitalismus finanzieren, natürliche Ressourcen zur Verfügungsmasse für großindustrielle Ausnutzung machen und gleichzeitig die Menschen von sich selbst enteignen, indem sie ihnen ihre Herrschaft über sich selbst nehmen und ihnen nur noch die Möglichkeit lassen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
Erst nach dem Kapital tritt der schon früh angedeutete Gedanke wieder in den Vordergrund, dass auch die Natur selbst Eigentumsrechte haben könnte. „Alle Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigentümer der Erde“, schreibt Marx dann; und das würde auch gelten, wenn es sich um eine kommunistische Weltgesellschaft handelte. Eigentümerin der Erde ist für ihn immer nur die Erde selbst.
DD: Marx’ Rede von der Entblößung und Verkrüppelung des Menschen durch die Entfremdung von seiner Arbeit weist auf die Versehrtheit eines physischen Zustandes hin. Würden Sie sagen, dass es im Gegensatz zur frühromantischen Einheitsutopie einer Vergeistigung der Natur bei Marx eher um eine Art Wiederherstellung eines gemeinsamen gesunden Leibes von Mensch und Natur geht? Das heißt, dass die Einheit hier eben nicht in geistiger Verlebendigung, also einem Zum-Sprechen-Bringen der Natur besteht, sondern im Gegenpol des Leiblichen, Stofflichen stattfindet?
HD: Ja, das ist aus meiner Sicht sogar ganz entscheidend. Marx stellt, könnte man sagen, wie die Hegel’sche Geschichtsphilosophie auch das romantische Naturdenken vom idealistischen Kopf auf die materialistischen Darwin’schen Füße. Das Wort „Materialismus“ klingt in einem solchen Zusammenhang leider schlagworthaft und reduktionistisch. So ist es aber nicht gemeint. Marx redet ja sehr emphatisch von lebendigen Wesen und von Stoffen und Umständen, aus denen Leben hervorgeht. Vor diesem menschen- und lebensfreundlichen Hintergrund geht es ihm darum, zu zeigen, wie die Verkrüppelung von Menschen zunächst eine Verkrüppelung der menschlichen Gesellschaftsformen und Naturbeziehungen ist. Eine Gesellschaft, in der einige alles und viele nichts haben, in der die Naturwesen, als die hier die Menschen ja ausdrücklich verstanden werden, ebenso ausgebeutet und zerstört werden wie die Erde, ist eine verkrüppelte Gesellschaftsform, und das wirkt sich bis in die buchstäbliche Verkrüppelung hinein. Marx zitiert aus den Reportagen seines Freundes Friedrich Engels über Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in denen es darum geht, wie die Proletarier der englischen Industriereviere in ihren lichtlosen Verschlägen körperlich verrecken, wie missgebildete Kinder zur Welt kommen und so fort. Das ist für Marx Symptom eines größeren Zusammenhangs, in dem in derselben Weise auch andere, nichtmenschliche Naturwesen verkrüppelt werden, in dem Natur entstellt und zerstört wird. Tiere, die in Bergwerken oder Industrieanlagen eingesetzt werden, sieht er als grausames Beispiel für verkrüppelte nichtmenschliche Natur. Marx kann im Grunde, glaube ich, einen Naturvorgang nicht ohne Beziehung auf den Menschen und einen menschlichen Vorgang nicht ohne Beziehung auf die Natur denken. Das ist vielleicht das stärkste und produktivste Erbe aus seiner frühen Begegnung mit dem, sagen wir, Netzwerk-Denken der Frühromantik.
DD: Im dritten Kapitel Ihres Buches erläutern Sie die Subjektivierung der Natur in romantischer Poesie und Philosophie als Hintergrund für Marx’ eigene frühe dichterische Versuche, speziell die, wie Sie schreiben, „mythologische Natur-Trilogie“, die sich in einem seiner beiden umfangreichen Gedichtbände aus den 1830er Jahren findet. In späteren Schriften äußert sich Marx aber kritisch und ablehnend gegenüber spekulativen Einschlägen, gegenüber der Integration von religiösen Bildern. Dies sei hinderlich für eine tatsächliche Veränderung der Verhältnisse. Wo bleibt der mythologisierende Blick aus Ihrer Sicht beim Marx, der seine dichterischen Ambitionen aufgegeben hat und sich um eine, wie Sie dann schreiben, „Rhetorik der Kälte“ bemüht? Wie passen Marx’ Atheismus und ein romantisches Naturdenken, das eng mit einer bestimmten Form von Religiosität verbunden ist, zusammen?
HD: Ich glaube zunächst, dass der Gegensatz von Theismus und Atheismus in dem, was hier in Rede steht, keine Rolle spielt. Weder gibt es ein mir erkennbares besonderes Interesse von Marx an der im theistischen Sinne religiösen Perspektivierung der literarischen Romantik, noch finde ich eine besondere Gegenbewegung dazu. Was er adaptiert hat aus der romantischen Naturdichtung, das ist die Vorstellung einer All-Verbundenheit. Und die lässt sich in zwei verschiedene Richtungen ausarbeiten, in Richtung einer All-Beseeltheit und in Richtung einer All-Belebtheit. Das erstere wirft Marx sich selber 1837 in einem Brief an den Vater vor, wenn er sich von seiner Jugendpoesie trennt und sagt, diese idealistische Phase sei jetzt vorbei. Dann kommt aber eine interessante Passage, wo er sinngemäß sagt, dass das alles nicht einfach verschwinden, sondern eine Metamorphose durchlaufen wird. Wohin diese Metamorphose geht, weiß er zunächst natürlich nicht. Aber es wird ihm spätestens deutlich, wenn er mit Engels zum ersten Mal über Darwin korrespondiert. Da findet er das, was sie beide gesucht haben – nämlich das Konzept einer Naturgeschichte, in der unterschiedlichste Naturgegebenheiten geschichtlich Handelnde sind, bevor der Mensch überhaupt erscheint.
Das, was Darwin erforscht, ist für Marx „die naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes“ und „die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht“. Das verbindet sich für ihn mit der Vorstellung einer All-Belebtheit der Welt wie in Novalis’ Hyazinth und Rosenblütchen, wo die Bäume, die Blumen, die Steine miteinander reden und die Natur ein großer Kommunikationszusammenhang ist. Wenn sie fragen, wo solche mythologisierenden oder animistischen Vorstellungen bei Marx überlebt haben, dann würde ich sagen: in der Metaphorik. Beziehungen zwischen Akteuren werden ausgedrückt als personale Beziehungen. Das kann bis ins Affektive hineingehen, wenn etwa der junge Marx über das Verhältnis der Bäume zu armen Menschen schreibt, sie erschienen ihnen als „eine befreundete Macht, die humaner ist als die menschliche“. Es ist jederzeit klar, dass solche Ausdrucksformen nur metaphorisch für organische Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen stehen. Da spürt man vielleicht eine Art Sympathie für eine Vorstellungs-, Sprach- und Bildwelt, aus der er herausgewachsen ist. Aber es ist auch ein gedanklicher Shortcut. Es ist einfacher, die Erde als Gaia zu beschreiben, als zu sagen, dass sie ein belebter Makroorganismus sei, der sich aus vielen Teilsystemen zusammensetzt und in dem jede Wirkung wieder Ursache werden kann. Die mythologische Personifikation hat den Vorzug der Einfachheit, der Anschaulichkeit, der Prägnanz. Und daran hält er fest.
DD: Aber genau das birgt doch auch die Gefahr der Naturalisierung eines politischen Standpunktes, wenn man der Natur oder einzelnen Naturerscheinungen ein Klassenbewusstsein zuschreibt.
HD: Das tut er nicht. Klassenbewusstsein ist ein menschliches Erzeugnis.
DD: Okay, also wenn Sie von der Solidarität der Bäume sprechen, dann ist das noch mal etwas anderes?
HD: Ja. Was Marx 1842 als Solidarität der Bäume mit den Armen beschreibt, ist eine Metapher, die etwas unmetaphorisch Rekonstruierbares zum Ausdruck bringen soll: den Umstand, dass die Menschen, die darauf angewiesen sind, Holz zu gebrauchen, mit diesem Holz organisch, entwicklungsgeschichtlich tatsächlich verwandt sind. Diese Verwandtschaft macht es möglich, dieses Holz zur Wärmeerzeugung als Rohstoff für uns zu nutzen, ihn zu verbrennen oder daraus etwas zu bauen, das wir in Form eines Hauses um eine Familie oder Horde herum legen können. Um diesen tatsächlichen biologischen Zusammenhang zwischen den Bäumen als bereitstehenden Rohstoffen, und uns, die wir diese Rohstoffe benutzen, geht es ihm. Wörtlich meint er sicher keinen Augenblick, dass die Bäume irgendwelche Empfindungen haben und mitleidig auf die Menschen herunterblicken. Trotzdem fällt mir immer wieder auf, dass Marx doch irgendeine Art Sympathie mit einer Denkfigur hat, die am schönsten bei Goethe in Wilhelm Meisters Wanderjahren formuliert ist „Der Bach ist dem Müller befreundet, dem er nutzt, und er stürzt gern über die Räder; was hilft es ihm, gleichgültig durchʼs Tal hinzuschleichen.“ Dem lebenslangen Goethe-Freund Marx kommt die Idee von Polarität und Steigerung entgegen. Der Bach und der Müller fordern einander heraus und machen sich gegenseitig besser. Für den genuin mythologisierenden Kern eines solchen Bildes behält Marx nach meinem Eindruck eine Art intuitive Sympathie, unabhängig von seiner intellektuellen Reflexion.
DD: Marx definiert den Menschen als Gattungswesen über den Begriff der Arbeit. Durch sie wird der Mensch erst zum Menschen, und in ihr vollzieht sich sein „Stoffwechsel mit der Natur“. Die nicht entfremdete und ausgebeutete Arbeit erfolgt nicht aus einem Zwang heraus und hat die Möglichkeit „heute dies, morgen jenes zu thun, Morgens zu jagen, Nachmittags zu fischen, Abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisiren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger Fischer Hirt oder kritischer Kritiker zu werden.“ Dabei erinnert sie an Friedrich Schlegels Konzept eines romantischen Subjekts, das sich in einer „ununterbrochnen Kette von Revolutionen“ stetig aufs Neue erschafft und vernichtet. Mich würde interessieren, auf welche Weise man dieses Idealkonzept der natürlichen Arbeit bei Marx als eine Poetisierung des Selbst, als schöpferische Praxis verstehen kann? Versteht er die Kunst eher als Teilbereich der Arbeit, oder gehen beide Begriffe im Konzept der natürlichen Arbeit ineinander auf?
HD: Eine schöne Frage. Ich glaube, der Bezug oder die Analogie zu dem Schlegel-Zitat ist einerseits schon offensichtlich, aber andererseits in solchen Schlüsselstellen bei Marx entdramatisiert. Schöpfen und vernichten, zerstören, wiederaufbauen, neu anfangen, das bezieht Marx eben nicht mehr auf das sich entwickelnde einzelne Subjekt, sondern auf Natur- und Gesellschaftsgeschichte als die Geschichte von Evolutionsprozessen und Klassenkämpfen. Aber das schöne, etwas naiv formulierte Idealbild zeigt, wie Kommunismus für Marx identisch ist mit der Fähigkeit zur beliebigen freien Entfaltung jedes Einzelnen. Sein Begriff der Arbeit ähnelt in solchen Zusammenhängen Goethes Begriff der „Tätigkeit“. Was in seiner Gegenwart Privileg einiger gebildeter begüterter Adliger ist, müsste für jeden Menschen möglich sein. Wie das mit der Nutzung natürlicher Ressourcen vereinbar sein soll, das fragt er in diesem Moment nicht. Hier geht es um die soziale Utopie einer Aufhebung von erzwungener Arbeitsteilung. Eine Art zweiter Pointe ist übrigens, dass diese Tätigkeiten von Fischer, Hirt und Intellektuellem völlig äquivalent gesehen werden. Es gibt Leute, denen macht es Spaß, in der Bibliothek zu arbeiten. Es gibt Leute, die mögen es lieber, auf die Jagd zu gehen, zu wandern, zu fischen, was immer. Und jede dieser Fähigkeiten soll jederzeit entfaltet werden können, wo und wie sie sich zu Wort meldet. Nichts davon ist normativ gedacht. Auch darin liegt vielleicht ein Unterschied zu Schlegels subjektiven „Revolutionen“. Da hat es doch etwas Normatives, dass man sich immer neu erfinden, dass das Leben eine permanente Revolution sein soll. Marx würde das vermutlich bestreiten. Wenn es dein Glückszustand ist zu fischen, dann bleib Fischer. Aber wenn du Lust hast, als Fischer abends Grimm’sche Märchen zu lesen oder zu dichten, tu es. Und der Ort, an dem das am erstaunlichsten bestätigt wird, ist die Schreibweise des Kapitals selbst.
DD: Hier können wir also zu Ihrer These vom Kapital als einem Beispiel „postromantischer“ progressiver Universalpoesie übergehen. Darum geht es im letzten Kapitel Ihres Buches.
HD: Es ist nicht zu übersehen, dass das Kapital ein erstaunlich polyphones Buch ist. Es ist gibt insofern bei allen offensichtlichen Unterschieden zwischen dem Kapital und romantischer Universalpoesie doch gewisse Ähnlichkeiten, und zwar zunächst in Marx’ eigener Schreibweise. Da stehen die trockensten Statistiken und Berechnungen neben Versen oder einer Dramenszene. Über Seiten hinweg schildert Marx einen Prozess in London. Und dann geht der Bericht in eine dramatische szenische Wechselrede über. Marx zitiert Gedichte in allerlei Originalsprachen, in Latein, Englisch und Französisch, und immer wieder reden Goethe und Shakespeare mit, ebenso wie Adam Smith oder David Ricardo, sodass die ökonomischen, die philosophischen und literarischen Klassiker fortwährend miteinander ins Gespräch kommen. Marx ist im Kapital abwechselnd Fischer und Jäger, Kritiker und Erzähler und führt performativ vor, wie es aussehen könnte, wenn man ein freier Mensch wäre, zumindest im Akt des Schreibens.
DD: Ja, und zu diesem Aspekt mit der Universalpoesie habe ich mich gefragt, fehlt da nicht aber eine entscheidende Zutat, und zwar die romantische Ironie?
HD: Da haben Sie recht. Diese Polyphonie ist etwas Anderes als romantische Ironie. Sie zielt nicht auf eine Selbstaufhebung des Gesagten, aber sie markiert immer wieder so etwas wie einen Vorbehalt des Individuellen gegenüber der Verallgemeinerung, des Erlebens gegenüber der Abstraktion, auch der Emotion gegenüber dem bloßen Argument. Insofern lässt sich vielleicht doch eine Ähnlichkeit erkennen zwischen den Schreibweisen des Kapitals und dieser Ironie…
DD: Ökologische Fragestellungen sind heute ja aktueller denn je. Warum ist Marx als gleichzeitig ökologischer und politischer Denker für uns relevant?
HD: Meine Arbeit hat ja ganz literatur- und kulturwissenschaftlich begonnen. Aber im Laufe meiner Lektüren und Re-Lektüren dachte ich: Wenn das stimmt, was Marx da sagt, dann kann es einen grünen Kapitalismus nicht geben. Die Idee, den Kapitalismus gewissermaßen mit seinen eigenen Mitteln, unter Ausnutzung seiner eigenen Triebkräfte ergrünen zu lassen, steht vor einer Grundschwierigkeit, die Marx mich zu sehen gelehrt hat. Sie liegt darin, dass eine kapitalistisch orientierte Wirtschaftsform aus systemimmanenten Gründen heraus, unabhängig vom guten Willen der beteiligten Personen, letztlich kein anderes Ziel verfolgen kann als die fortschreitende Verwandlung von Welt in Ware und von Ware in Kapital. Das Ziel des Kapitalismus ist, abkürzend gesagt, die Erzeugung von Geld aus Geld. Und solange er das nicht bis zur letzten Ressource getan hat, kann er in seiner Eigendynamik nicht zur Ruhe kommen. Was wir im Augenblick beobachten, im Rollback von schon erreichten ökologischen Fortschritten unter dem Diktat einiger sehr mächtiger Unternehmen und einzelner Oligarchen, das scheint mir eine beunruhigende Bestätigung dieser Hypothese zu sein.
DD: Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!