Nico Karge und Stefan Krauth , 01.12.2021

„Fragmente der Wirklichkeit“

Nico Karge im Gespräch mit Stefan Krauth über seine Serie „Terra Incognita“

Nico Karge: Sie haben 2019 unter dem Titel „Terra Incognita“ eine bis heute fortlaufende Werkserie begonnen, in der Sie karge Eis- und Felslandschaften fotografisch inszenieren. Neben den Farb- und Hell-Dunkel-Kontrasten ist darin besonders auffällig ist, dass die Landschaftsausschnitte und Himmelspartien nur scheinbar zueinanderpassen und bei genauerem Hinsehen als disparat erkennbar werden. Wie entwickeln Sie diese offenbar nicht der Wirklichkeit entstammenden Szenerien? Oder anders ausgedrückt: Wie gehen Sie technisch und kompositorisch vor?

Stefan Krauth: Die Szenerien bestehen aus einzelnen Fragmenten, die der Wirklichkeit entstammen. Ich füge jedes Motiv aus Vorder- und Hintergrund digital zusammen. Die Eis- beziehungsweise Schneelandschaften entstehen aus Fotografien von zusammengekehrten Schneehaufen am Straßenrand, im Park oder sonstigen urbanen Räumen und von Himmelsausschnitten, die ich an anderer Stelle fotografiere. Diese digitalen Montagen fotografiere ich anschließend von verschiedenen Computerbildschirmen ab, welche mit externen Blitzgeräten ausgeleuchtet werden. Durch Lichtreflexe werden Staub, Kratzer und das digitale Raster sichtbar. Die drei Bausteine Vordergrund, Hintergrund und Monitoroberfläche schaffen die Grundlage für ein inszeniertes Bild, eine mehr oder weniger erfundene Landschaftsdarstellung.

N. K.: Nach kunsthistorischen Bezügen für Ihre Serie muss man gar nicht lange suchen. Es kommt einem bei den Schneeszenerien schnell eines der heute wohl berühmtesten Gemälde der deutschen Romantik in den Sinn: „Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich. Nicht nur motivisch gibt es hier eine Übereinstimmung, sondern auch in der grundsätzlichen Vorgehensweise, da Friedrich in vielen seiner Werke einzelne realitätsgetreu dargestellte Bildgegenstände zu einem montageartigen Bildganzen zusammenfügt. In welcher Beziehung sehen Sie Ihr Vorgehen zu Friedrichs Kompositionstechniken?

S. K.: Mich interessieren bei Caspar David Friedrichs Arbeit die Methoden von Dramatisierung und Übersteigerung. Durch das Weglassen des Einen und das Aufblasen des Anderen entstehen überhöhte, idealisierte oder vielleicht erfundene Bilder von Natur und teilweise auch Menschen. Er orientiert sich an der Realität, scheint diese zunächst auch erstmal glaubhaft abzubilden. Es findet jedoch eine Umdeutung des Realen zu einer Art Fiktion statt. Diese Interpretation hat großen Einfluss auf meine eigene Arbeit. Die Dokumentation, für die die Fotografie häufig genutzt wird, interessiert mich deshalb weniger als die Möglichkeit, eine Illusion zu schaffen. Diese sich daraus ergebenden Spannungsfelder zwischen Traum, Fiktion, Realität und Rationalität oder zwischen Impuls und Planung halte ich für sehr prägnante künstlerische Strategien. Aus diesem Grund sehe ich meine Arbeit stark beeinflusst durch die Kunst der Romantik.

N. K.: Ich finde interessant, dass Sie den Aspekt des Erfindens bei Friedrich betonen. Auch die kunstgeschichtliche Forschung hat seine Werke immer wieder explizit als „Bilderfindungen“ bezeichnet und hat herausgestellt, dass es sich bei seinen Landschaftsdarstellungen um Kompositionen handelt, die sich mittels einer durchdachten ästhetischen Ordnung auch als solche zu erkennen geben. Friedrich selbst forderte, dass sich ein Bild als „Menschenwerk“ darstellen muss und sich nicht „als Natur täuschen“ darf. Ihre Fotografien lassen aufgrund ihres Montagecharakters, aber auch aufgrund der Effekte des Abfotografierens vom Bildschirm keinen Zweifel daran, dass es sich um künstlerische Arbeiten und nicht um dokumentarische Naturabbilder handelt. Warum bedienen Sie sich dieser Montagetechnik und fotografieren die entstandenen Bilder noch einmal vom Computerbildschirm ab? Was hat es mit dieser Form der Bilderfindung auf sich?

S. K.: Die ursprünglichen Gedanken vor meinem ersten Bildschirmfoto drehten sich um Möglichkeiten der fotografischen Inszenierungen. Ich stellte mir die Frage, ob ein Schnappschuss, ein nicht arrangiertes Bild von einer Landschaft, einem Haus oder einem Menschen zu etwas Inszeniertem wird, sobald ich mich dazu entscheide, es auf einem Monitor abzubilden. Wenn ich nun den Monitor abfotografiere, dass er so beschnitten ist, dass man den Tisch, auf dem er steht, den Hintergrund, die Tasse daneben usw. nicht sieht, sondern nur den digitalen Schnappschuss, bleibt trotzdem der Monitor das eigentliche Motiv. Das Abgebildete ist Teil des Motivs und somit Teil eines Arrangements. Bei dieser Auseinandersetzung merkte ich dann schnell, dass neben den theoretischen Fragen auch innerhalb der Auseinandersetzung mit dem Abgebildeten Spannendes passiert. Das Ursprungsfoto bekommt eine seltsame Distanz durch die Zwischenebene des digitalen Fensters. Als ich das mehrfach tat, wurde dieser Effekt noch stärker. Diese Technik bietet mir die Möglichkeit der analogen Verfremdung auf digitaler Basis. Ich kann mit einfachen Mitteln wie externen Blitzgeräten, Taschenlampen, Zigarettenrauch etc. noch Ebenen vor der digitalen Ebene erzeugen. Diese Schichten aus Motiv, Glas, Licht, Staub, Kratzer, Rauch und Monitorraster fügen sich schließlich auf einem Foto zusammen. Diese Technik ist die Basis zu meiner Auseinandersetzung mit den Widersprüchen von Dokumentation und Fiktion. Ich habe die Möglichkeit, aus realen Elementen autonome Bildwelten zu erzeugen.

N. K.: Im Zusammenhang mit Friedrich haben Sie eben von Dramatisierung und Übersteigerung einzelner Bildelemente gesprochen. Warum überhöhen Sie Bildgegenstände wie eben beispielsweise Schneehaufen am Straßenrand zu ganzen Polarlandschaften?

S. K.: In anderen Serien habe ich einfache Gebäude als monumentale Bauwerke dargestellt oder aus einfachen Plätzen dramatische Schauplätze gemacht. Allerdings blieb die Größe des Gezeigten immer in etwa bei der Größe des Referenzbildes. Bei den Schneehaufen und den anderen Arbeiten der „Terra Incognita“-Reihe sah ich die Möglichkeit, die inhaltliche Täuschung um einen optischen Bluff zu erweitern. Obwohl ich an keiner Stelle behaupte, dass es sich um unendlich weite Landschaften handelt, wünsche ich mir doch, dass es von den Betrachter:innen derart wahrgenommen wird. Ich verlasse somit einmal mehr den dokumentarischen Standpunkt. Die extreme Verschiebung von Größenverhältnissen ist eine weitere Möglichkeit, reale unscheinbare Fragmente als Bausteine für fiktive Bildwelten zu benutzen.

N. K.: Auch wenn Ihre Bilder keinem dokumentarischen Anliegen entspringen, ist das Motiv des Eisbergs heute unweigerlich mit dem Gedanken an die Klimakrise und das Abschmelzen der Polkappen verknüpft. Inwiefern spielen diese Gesichtspunkte in Ihren Werken und bei Ihrer Motivwahl eine Rolle?

S. K.: Die globale Erwärmung erfüllt mich mit großer Sorge. Deshalb ist mir auch bewusst, dass die unberührt daliegenden Eislandschaften als Statement dazu verstanden werden können, gerade weil sie künstlich erschaffen sind und weil sie ihre Form nicht zuletzt dem Autoverkehr als einem von vielen Ursachen für die Klimakrise verdanken: Der Schnee wird überhaupt erst von der Straße geräumt und zu Hügeln geformt, damit Autos freie Bahn haben. Obwohl diese Gesichtspunkte nicht der eigentliche Kern meiner Auseinandersetzung sind, bin ich froh über jeden kritischen Impuls, den meine Arbeit in diese Richtung zu setzen vermag.

N. K.: In den Landschaften Caspar David Friedrichs tritt mitunter eine irritierende Bildwirkung in Erscheinung. Mit dem „Eismeer“ scheint er weniger auf eine naturgetreue Darstellung einer eindrucksvollen arktischen Landschaft, die die Unermesslichkeit des ewigen Eises erahnen lässt, gezielt zu haben, sondern auf eine verstörende Ausführung einer todbringenden Kältewüste. Bei Ihren Werken scheint es sich anders zu verhalten ...

S. K.: Bei der irritierenden Ausführung bin ich mit meinen Eislandschaften allerdings auch noch dabei. Das Irritierende ist für mich ein zentrales Motiv. Ursprünglich handelt es sich um Eishäufchen am Straßenrand, die alles andere als todbringend sind. Mir geht es vielmehr darum, aus etwas Kleinem, Zusammengekehrten, Angeschmutzten die Illusion von Weite und Unberührtheit zu erzeugen. Und trotzdem bleibt es, was es ist: ein Eishaufen. Ich behaupte ja auch im Titel nichts anderes. Man kann selbst entscheiden, was man sieht. Allerdings versuche ich bewusst und inständig die Illusion von fantastisch anmutender Natur zu erzeugen, alleine schon um die bloße Abbildungsleistung der Fotografie oder der bildnerischen Darstellungskraft zu hinterfragen.

N. K.: Inwieweit sehen Sie Friedrich im Besonderen oder die Romantik im Allgemeinen als sinnstiftend für Ihre Werke oder als Quelle für Ihre Praxis und Werke an?

S. K.: Wenn man die Romantik innerhalb der Epoche lässt, beschäftigen mich Friedrich sowie William Turner mit seinen Darstellungen von bewegter Natur und deren Gewalt am meisten. Sowohl bei Friedrich als auch bei Turner interessiert mich die subjektive Übersetzung von Natur in aufgeladene und eigenständige Bildwelten. Authentizität beziehungsweise Glaubwürdigkeit emanzipieren sich bei ihnen von der realitätsnahen Abbildung und die Darstellung von etwas Wesentlichem tritt in den Vordergrund. Darüber hinaus gibt es andere Künstler:innen, die in jüngster Zeit aktiv waren oder sind, bei denen ich Bezüge zur Romantik zu erkennen glaube. Die frühen Fotografien von Ryan McGinley, die unbekümmerte und idealisierte, meist nackte Jugendliche im Freien zeigen, interessieren mich ebenso wie die äußerst sensiblen Porträtmalereien von Elizabeth Peyton. Ich werfe auch einen Blick auf die Inszenierungen von Jeff Wall und die wie inszeniert wirkenden Dokumentationen von William Eggleston. Sehr spannend finde ich gerade die Fotografien von Aneta Bartos, da ich den Umgang mit Arrangement und Intimität sehr stark finde.

N. K.: Worin besteht Ihrer Ansicht nach Aktualisierungen des Romantischen in den Werken dieser Künstler:innen, auf die Sie sich beziehen, und inwieweit würden Sie Ihre eigenen Arbeiten als romantisch bezeichnen?

S. K.: In den Fotografien von Ryan McGinley sieht man sehr häufig junge Menschen in der Natur, im Wasser, in Eishöhlen, auf Feldern und sehr oft kletternd-verschlungen in Bäumen und fast immer nackt. Sie erscheinen sehr klein im Verhältnis zur Umgebung; trotzdem wirken sie stark und frei und unbeschwert. Die Natur erscheint rein und erhaben, der Mensch irgendwie auch. Es scheint in dieser Vereinigung von Mensch und Natur nichts rational: Es wird kein Baum gefällt und keine Höhle erforscht, es wird nicht einmal spazieren gegangen oder gepicknickt. Die Verbindung ist irrational und leidenschaftlich und, wie ich finde, dennoch logisch. Auch wenn hier die Protagonist:innen jünger und wilder sind als bei Caspar David Friedrich, sehe ich in der Sensibilität ihrer Darstellung in ihrer Umwelt interessante Parallelen. Ebenso sensibel und irrational sind die Porträts von Elizabeth Peyton: Meist sind sie verträumt, bisweilen schwermütig; die Farben sind überhöht und der Ausdruck übersteigert und zugleich sind sie immer sehr intim. Die Porträts sind spontan und erhaben, sinnlich und klar und trotzdem emotional. Bei William Eggleston kann ich die Verbindung zur Romantik nicht so wirklich in Worte fassen. Ich glaube, der Umgang mit dokumentarischen Bildern, die er wie fein arrangierte Settings einer farblich überzeichneten Filmwelt erscheinen lässt, und die respektvolle Huldigung von Einfachem sind Aspekte, die ich auch in der Malerei der Romantik sehe. Bei Aneta Bartos beziehe ich mich in erster Linie auf die Reihen „Monotropa Terrain“, „Family Portrait“ und „Dad“, was ich als liebevoll komische Hommage an ihren Vater verstehe: einen in die Jahre gekommenen Bodybuilder, der in verschiedenen Schauplätzen ländlicher Idylle posiert. Der Gedanke, ob ich meine eigene Arbeit als romantisch bezeichnen würde, begleitet mich seit einigen Jahren und ich denke schon, dass man das so sagen kann.

Das Gespräch zwischen Stefan Krauth und Nico Karge wurde im Dezember 2021 geführt.

Die Serie „Terra Incognita“ sowie weitere Arbeiten von Stefan Krauth finden sich auf seiner Website.

Stefan Krauth, „Ice“, 2019, 62 x 87 cm

Stefan Krauth, „Ice“, 2019, 40 x 60 cm

Stefan Krauth, „Ice“, 2021, 60 x 90 cm

Stefan Krauth, „Ice“, 2021, 100 x 150 cm