Theresa Brehm , 21.11.2018

„Grimms Märchen... und kein Ende“

Europäische Kunstmärchen zwischen Phantasie und Wirklichkeit

In Kooperation mit der Brüder Grimm-Gesellschaft Kassel präsentiert das Romantikerhaus Jena vom 10. November 2018 bis zum 3. März 2019 eine bildreiche Wanderausstellung zu den europäischen Kunstmärchen. Eine Sammlung verschiedenster Bildexponate lässt den Besucher in eine phantasievolle und manchmal erschreckend wirklichkeitsnahe Märchenwelt eintauchen. Neben den zahlreichen Illustrationen vermitteln Informationstafeln Wissenswertes über die dargestellten Märchen und über die Gattung des Kunstmärchens.

Einen Grimm´schen Märchen-Klassiker sucht man unter den Ausstellungsstücken jedoch vergeblich. Denn die Ausstellung konzentriert sich ausschließlich auf die europäischen Kunstmärchen, die sich von den Volks- und Hausmärchen der Brüder Grimm deutlich abgrenzen. So stehen nicht die berühmten Märchenfiguren wie Schneewittchen und Dornröschen im Mittelpunkt, vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit auf Figuren wie Peter Munk, Undine, und den blonden Eckbert.

Als „ungrimmige Märchen“ bezeichnet Andrea Mayer von der Brüder Grimm-Gesellschaft Kassel die europäischen Kunstmärchen und macht auf die inhaltlichen und stilistischen Unterschiede zwischen den Kunstmärchen und den Volksmärchen der Brüder Grimm aufmerksam: „Die Handlungen und Inhalte der Kunstmärchen sind vielschichtiger und auch das Innenleben der Figuren ist viel komplexer als in den Grimm´schen Volksmärchen.“ Zudem betont die Expertin, dass auch das tragische Ende einiger Kunstmärchen die Gattung von den Märchen der Brüder Grimm abgrenzt. Beispielhaft verweist sie dabei auf Ludwig Tiecks Der Blonde Eckbert und auf Friedrich de la Motte Fouqués Undine. Auch die Verbindung der Wirklichkeit mit dem Reich der Magie sei für die Gattung des Kunstmärchens wichtig, so Andrea Mayer. Sie verweist hierbei auf E. T. A. Hoffmanns Märchen Der Goldene Topf, welches in Dresden spielt und auf das im Schwarzwald angesiedelte Märchen Das kalte Herz von Wilhelm Hauff.

Neben zahlreichen Bildern, Titelbildern und Illustrationen in Märchenbüchern zeigt die Exposition auch einige Installationen. Beispielsweise schließt sich ein Regal, in dem sich Gläser mit einem roten Inhalt befinden, an den Bilderzyklus zu Hauffs Das kalte Herz an. Dass es sich hierbei nicht um gut gefüllte Marmeladengläser handelt, ist dem Märchenliebhaber sofort klar, denn die Installation stellt die Herzsammlung des Holländer-Michels plastisch dar. Der Besucher kann so in die Rolle Peter Munks schlüpfen und die Herzen im Glas betrachten.

Die Illustrationen von Friedrich de la Mottes Fouqué Undine zeigen die Protagonistin als anziehendes aber gleichzeitig bedrohliches Naturwesen. Die Bilder hinterlassen beim Betrachten eine Mischung aus Faszination und dem Gefühl von Bedrohlichkeit. In Fouqués Erzählung erlangt die Nixe Undine durch die Heirat mit dem Ritter Huldbrand eine menschliche Seele. Das Kunstmärchen nimmt jedoch ein tragisches Ende, als Undine von ihrem Mann Huldbrand für eine andere Frau verlassen wird. Sie verliert ihre menschliche Seele und muss zurück in die Wasserwelt. Am Hochzeitstag des Ritters kehrt Undine zurück und beendet sein Leben mit einem Kuss. Zwar ist das Märchen Die kleine Seejungfrau von Hans Christian Andersens in der heutigen Zeit bekannter, es greift stofflich jedoch auf Fouqués Undine zurück. Denn innerhalb der europäischen Märchentradition gibt es viel stofflichen Austausch.

Das gilt auch für die Kunstmärchen, die aber durch originelle Bearbeitungen zu großer Individualität gelangen. Dass die Liebesgeschichte zwischen einem Naturwesen und einem Menschen auch in der Gegenwart fasziniert, wird deutlich, wenn man an den Erfolg der Disney-Märchenadaption Arielle, die Meerjungfrau aus dem Jahr 1989 denkt. Ulf Häder, der Direktor der Städtischen Museen Jena, betont die Aktualität von Märchen und verweist auf die vielen Neuverfilmungen der letzten Jahre. Dass die Stoffe für die filmische Popularisierung manchmal auch reduziert werden müssen, zeigt sich bei der Gegenüberstellung des ursprünglichen Kunstmärchens mit seiner modernen Variante. Die Stimmung, die die Disney-Adaption vermittelt, ist nicht mit der ambivalenten Atmosphäre in Friedrich de la Motte Fouqués Undine zu vergleichen. Deutlich wird dies beim Betrachten der Illustrationen in der Ausstellung: Sie heben das von der Figur Undine ausgehende Schaurig-Schöne hervor und versetzen den Betrachter in eine entsprechend faszinierte Stimmung.

Das Erfolgsrezept, eine Geschichte zwischen Phantasie und Wirklichkeit anzusiedeln, scheint bis in die Gegenwart gut zu funktionieren. So hat das europäische Kunstmärchen mit der Neuverfilmung Das kalte Herz aus dem Jahr 2016 wieder einmal die Kinoleinwand erobert. Bei der Aktualisierung des Stoffes orientiert sich der Film eng an Wilhelm Hauffs gleichnamigen Kunstmärchen. Der Besuch der Wanderausstellung macht aber nicht nur Lust auf einen Kinobesuch, vielmehr erinnern vor allem die ausgestellten Märchenbücher mit ihren zahlreichen bunten Bilder an eine alte Tradition: Das Vorlesen.

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