Annika Bartsch und Jacob Schmidt , 11.01.2018

Romantik 2.0 als progressive Bewältigungsstrategie in der virtuellen Moderne.

Augmented Reality als Reaktion auf die gegenwärtige romantische Sehnsucht

„Isn’t it romantic?“, fragt eine Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst in Köln und zeigt „[z]eitgenössisches Design zwischen Poesie und Provokation“. [1] Damit greift die Ausstellung einen Zusammenhang auf, der in den letzten Jahrzehnten eine Rolle zu spielen scheint. Nicht nur in den Künsten ist eine produktive Rezeption der Romantik zu beobachten, sondern auch Soziolog*innen konstatieren in verschiedenen gesellschaftlichen Praktiken unserer Gegenwart eine Aktualisierung des Romantischen. [2] Leitend ist dabei die Beobachtung, dass in Zeiten der Globalisierung, der Rationalisierung, Digitalisierung und Flexibilisierung eine romantische Sehnsucht nach Sinn, Individualität, Einheit und Orientierung zunimmt. [3]

Diese Sehnsucht zeigt sich auch – so die These dieses Beitrags – im wachsenden Interesse an der Entwicklung virtueller oder erweiterter Realitäten. Der Apple-Chef Tim Cook sieht in der erweiterten Realität, der Augmented Reality (AR), die nächste technologisch bedingte Transformation des Alltags. Er prognostiziert „[to have, A.B./J.S.] AR experiences every day, almost like eating three meals a day. It will become that much a part of you.“ [4] Augmented Reality meint die medial, meist visuell unterstützte Erweiterung der individuell erfahrenen Wirklichkeit mittels Smartphones, Tablets oder Brillen. In ihren ersten Versuchen sind hier beispielhaft das Spiel Pokémon Go, virtuell erweiterte Lehrbücher [5] oder die AR-Brille Microsoft HoloLens [6] zu nennen. Während Virtual Reality (VR) Alternativ-Welten schafft, die parallel und in sich geschlossen der alltäglichen Realität gegenüberstehen oder diese gar ersetzen, ist in der Augmented Reality gerade die Verschränkung der Welten konstitutiv. Die Affirmation der Augmented Reality ergibt sich aus einem Mangelgefühl des Subjekts in einer als defizitär wahrgenommen Realität. Das gegenwärtige Subjekt erlebt sich als orientierungsloser, fragmentierter „Drifter“ (Sennett). Aus diesem Mangel begründet sich eine Sehnsucht nach Subjektivierung und Erschaffung einer als Ganzheit erfahrenen Welt. Der*ie Benutzer*in der Augmented Reality kann – zumindest erlaubt dies die Technologie potenziell – ihr*sein Weltinventar der erweiterten Welt selbst zusammenstellen und so eine Einheit erzeugen. Das Subjekt wird zum Schöpfer der eigenen Wirklichkeit. Damit setzt es sich absolut und wird selbst zur sinnstiftenden Instanz.

Der Virtual Reality kann der Vorwurf des Eskapismus oder Solipsismus gemacht werden [7] – Vorwürfe, die bereits seit Hegel auch an die historische Romantik herangetragen worden sind. [8] Während diese Vorwürfe die Virtual Reality tatsächlich vor Probleme stellt, treffen sie die Augmented Reality nicht. Es handelt sich hier nicht um Weltflucht in eine Alternativrealität, sondern die Fiktion, die das Subjekt schafft, wird in die intersubjektive Wirklichkeit integriert. Beispielsweise treffen sich Spielende bei Pokémon Go an realen Orten, an denen die jeweilige Spielsituation medial fortgeführt wird und damit subjektivierte und dennoch geteilte Wirklichkeit entsteht. Hier zeigt sich das Potenzial der Augmented Reality, Partialität zu überwinden und eine subjektivierte und sinnhafte Welt zu erschaffen. Kann also die Augmented Reality als eine Reaktion auf eine romantische Sehnsucht verstanden werden? Und würde daraus folgen, dass Augmented Reality ein romantisches Medium und der Umgang mit ihr romantische Praxis ist?

Das (Erfüllungs-)Versprechen der Augmented Reality

Die romantische Sehnsucht manifestiert sich im ersten Fragment in Novalis’ Vermischten Bemerkungen: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ [9] Die permanente Erfahrung des Nicht-Erreichens führt dabei jedoch nicht zu einer enttäuschten Abwendung und Beendigung, sondern ist vielmehr das konstitutive Moment des romantischen Suchens. Die romantische Praxis reagiert damit auf die in Novalis‘ Fragment beschriebene Erfahrung und zeichnet sich durch eine infinite Prozessualität aus, in der das Unbedingte und das Bedingte durch das Subjekt in Beziehung gesetzt werden. Bekannt ist diese Forderung aus Novalis’ Logologischen Fragmenten als „Romantisierung der Welt“: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisiert – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck.“ [10] Diese Romantisierung der Welt beschreibt einen unabschließbaren Prozess, der nie hinter die Grunderfahrung zurückfällt, ‚überall das Unbedingte zu suchen‘, aber ‚immer nur Dinge zu finden‘. Sie ist gekennzeichnet durch ein Streben nach Einheit und Ganzheit im Wissen des Nicht-Erreichens und damit höchst selbstreflexiv. Ästhetisch manifestiert sie sich in den Darstellungsverfahren und Bildbereichen romantischer Texte. [11] Matuschek und Kerschbaumer abstrahieren Romantik in einem modelltheoretischen Zugriff somit als „Universalitätspostulat in Zeiten unhintergehbar gewordener Partialität“ und damit als „tatsächlich verlorene, doch mit sprachliche-künstlerischen Mitteln weiterhin simulierte Einheits- und Ganzheitsperspektive“. [12] Die unendliche Gleichzeitigkeit von Evokation und Widerruf einer Ganzheit ist damit das bestimmende Moment romantischer Sehnsucht.

Während also für die romantische Sehnsucht die Unerreichbarkeit und Verborgenheit ein konstitutives Moment darstellt, tendiert die Augmented Reality hingegen dazu, die produktive Einbildungskraft zu visualisieren. Ziel der HoloLens-Brille ist es etwa, das gewählte virtuelle Weltinventar möglichst realitätskonform darzustellen, wodurch Realität und visualisierte Einbildungskraft ununterscheidbar werden. Die Entwicklung der Technik von Virtual und Augmented Reality zielt allgemein darauf ab, eine größtmögliche Unmittelbarkeit im Erleben der geschaffenen subjektiven Welt zu erreichen. So werden die eingebetteten (fiktionalen) Elemente in ihrer Erscheinung in dem Sinne immer realistischer, dass sie sich optisch qualitativ kaum von Elementen der ‚tatsächlichen Realität‘ unterscheiden. Zudem weist die Entwicklung der verwendeten Medien in die Richtung eines unmittelbaren Erlebens. Während populäre Augmented Reality-Anwendungen wie Pokémon Go über das Smartphone oder Tablet verwendet werden und damit ‚eingerahmt‘ sind, fällt der Rahmen bei der Verwendung von AR-Brillen weg. Das Subjekt widerruft die Ganzheitsperspektive nur dann, wenn es durch das Medium zu einer Reflexion herausgefordert wird, wenn die erweiterte Realität gestört wird: wenn sie fragmentarisch ist, wenn sie sich der totalen Verfügbarkeit entzieht, wenn also der Strom ausfällt oder eine Person die Brille dem Subjekt von den Augen reißt. Geschieht dies aber nicht, entsteht für das Subjekt eine Welt unendlicher Erweiterbarkeit. Die Augmented Reality ist somit ein Medium, das nur evoziert, nicht aber widerruft. [13] Sie verspricht eine dauerhaft erweiterte Realität, in der das Subjekt zwar schöpfend tätig ist, in der die Unerreichbarkeit einer absoluten Ganz- und Sinnhaftigkeit jedoch nicht reflektiert wird.

Vom Angebot zur romantischen Praxis. Oder: Eine romantische Bewältigungsstrategie in Zeiten erweiterter Realitäten

Stellen wir uns eine Welt vor, in der Subjekte mit einer AR-Brille einschlafen und erwachen. Ist das die Erfüllung der romantischen Utopie, das ‚goldene Zeitalter‘? Das wäre es nur, wenn wir annähmen, dass Novalis die romantische Suchbewegung lediglich aus einem Unwissen technischer Möglichkeiten heraus als unendlich definiert. Wenn wir jedoch die Unendlichkeit und Verborgenheit als notwendiges und unhintergebares Moment der Romantik auffassen und mit diesem Begriff die Praktiken der Subjekte prüfen, dann ist die Augmented Reality kein romantisches Medium, denn jegliches Erfüllungsversprechen der Sehnsucht widerspricht der romantischen Idee einer unendlichen Annäherung. Das Subjekt vergisst in seiner Ungestörtheit, dass diese durch die Brille wahrgenommene Wirklichkeit ein – durch Konzerne und Technik vermitteltes – Produkt seiner Einbildungskraft ist. Indem das Subjekt nicht mehr unterscheiden kann zwischen der subjektivierten, selbstgeschaffenen und der intersubjektiv praktizierten Wirklichkeit, sind gesellschaftliche Interaktionen bedroht. Dabei, so die abschließende These, könnte es gerade romantische Ironie sein, die in einer erweiterten Wirklichkeit eine Überlebensstrategie des Subjekts bereithält.

Ein Subjekt, das die Möglichkeiten der Augmented Reality dazu nutzt, Schöpfer seiner subjektiven Welt zu werden oder zumindest die intersubjektiv geteilte Welt zu erweitern, muss fähig sein, sich in mehreren Welten (‚Realität‘ und subjektivierte Augmented Reality) zu bewegen und das Bewusstsein für beide Welten und deren Zusammenhang zu reflektieren. Erfolgt dies nicht, so ist Augmented Reality nur als Realitätsflucht zu begreifen und nicht als lebbare Praxis in einer intersubjektiv geteilten Lebens-, Arbeits- und Sozialwelt.

Um diesen Balanceakt zwischen subjektiver und intersubjektiver Wirklichkeit als ein wünschenswertes Leben aufzufassen, bedarf das Subjekt der romantischen Ironie: Nur so kann es die Welten als ‚Realität‘ oder ‚Virtualität‘ reflektieren, in dem Sinne, dass es sowohl weiß, in welcher der Welten es sich gerade befindet, als auch, dass die Grenze zwischen beiden unscharf ist. Der ‚Romantiker 2.0‘ „schweb[t]“ [14] zwischen den Welten und verhält sich affirmativ zu der porösen Grenze. Er setzt die Brille in dem Wissen auf, eine erweiterte Welt zu betreten, er nimmt sie in dem Wissen ab, in eine begrenzte Welt zurückzukehren. Die Brille wird zum Mittler, den das Subjekt einsetzt.

Es lässt sich damit ein Dreischritt feststellen, der das Romantische auf verschiedenen Ebenen als Movens oder Reaktion beinhaltet: Augmented Reality ist eine Technik, die auf eine vorhandene romantische Sehnsucht reagiert. Allerdings lockt sie mit einem Erfüllungsversprechen. An dieser Stelle ist die romantische Sehnsucht des Konsumenten zwar das Movens, die Technik selbst hingegen ist nicht romantisch. Es kann eine ‚zweite‘ subjektivierte Welt evoziert oder sogar umgesetzt werden, die für die Romantik konstitutive Kippfigur, also der gleichzeitige Widerruf der Ganzheitsperspektive und die Reflexion der Partialität, wird zu tilgen versucht. Das Subjekt selbst müsste – möchte es sich nicht dem digitalen Zeitalter verschließen oder in Solipsismus enden – daher in seiner Anwendung der Augmented Reality romantisch werden, um in einer intersubjektiven Realität lebensfähig zu bleiben; es muss den Widerruf durch Reflexion aus sich selbst erheben.

Anmerkungen

  1. Petra Hesse, Tulga Beyerle (Hg.): Isn’t it romantic? Zeitgenössisches Design zwischen Poesie und Provokation. Katalog zur Ausstellung im Museum angewandte Kunst, Köln 14. Januar – 21. April 2013. Köln 2013.
  2. Vgl. etwa Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2012 und Colin Campbell: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, York 2005.
  3. Vgl. zur Aktualität der Romantik auch Johannes Weiß: Widerverzauberung der Welt? Bemerkungen zur Wiederkehr der Romantik in der gegenwärtigen Kulturkritik, in: Stephan Moebius und Clemens Albrecht (Hg.): Kultur-Soziologie. Klassische Texte der neueren deutschen Kultursoziologie. Wiesbaden 2014, S. 346-365; Wieland Freund und Richard Kämmerlings: Die Rückkehr der Romantik, in: Welt am Sonntag, 7. August 2016 (Nr. 32), S. 13–16 (Online Verfügbar unter: www.welt.de/print/wams/article157531975/Die-Rueckkehr-der-Romantik.html, letzter Abruf 18.04.2017); Literaturhaus Frankfurt: „Literaturfestival: Was wir suchen, ist alles. Sieben Tage Romantik im Literaturhaus Frankfurt – als eine Begegnung mit der Literatur und dem Denken von heute –“ (31.05-06.06. 2014). ‚Flexibilisierung‘ wird angewendet in Anlehnung an die Studie von Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus [engl. The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism], Berlin 1998.
  4. https://www.bloomberg.com/news/articles/2017-03-20... (letzter“ Abruf 18.04.2017).
  5. Eine entsprechende App ist SchulAR, vgl. dazu LINK (letzter Abruf 18.04.2017)
  6. Microsoft bewirbt in einem Werbespot die HoloLens mit dem Slogan “Transform your world” (vgl. http:// www.youtube.com/embed/Ic_M6WoRZ7k (letzter Abruf 18.04.2017).
  7. Vgl. hierzu http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/netzkonferen... (letzter Abruf 17.04.2017).
  8. Vgl. zur Kritik der Romantik Karl-Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik, Frankfurt am Main 1989.
  9. Friedrich von Hardenberg (Novalis): Vermischte Bemerkungen, in: Ders.: Schriften. Bd. 2: Das philosophische Werk I, Bd. 2, Stuttgart 1965, S. 412-470, hier S. 412. Die Sammlung wurde dann in modifizierter Form von Fr. Schlegel unter dem Titel Blüthenstaub im Athenäum herausgegeben.
  10. Novalis, [Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen, Logologische Fragmente, Nr. 105], in: Novalis Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2, hg. von Hans-Joachim Mähl, München 1978, S. 334.
  11. Beispielhaft sei die Fragmentform genannt sowie die als Hieroglyphen beschriebenen Naturzeichen, die auf ein Absolutes verweisen und sich gleichzeitig dem vollständigen Erfassen der Ganzheit entziehen.
  12. Stefan Matuschek, Sandra Kerschbaumer: Romantik als Modell, in: Daniel Fulda, Sandra Kerschbaumer, Stefan Matuschek (Hg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, Paderborn 2015, S. 141-155, hier S. 143
  13. Diese Behauptung gilt nur für den Fall, dass die Programme, die das Subjekt in der Augmented Reality nutzt, nicht in sich ironisch gebrochen sind, indem also selbst hier der Status der Erweiterung reflektiert wird.
  14. „Und doch kann auch sie [d.h. die romantische Poesie, A.B./J.S.] am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“ (Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragment 116, in: KFSA, Bd. 2, S. 182f.)

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