Raphael Stübe und Sandra Kerschbaumer , 01.05.2018

Über eine Neuausgabe von Ricarda Huchs Romantik-Buch

Raphael Stübe und Sandra Kerschbaumer im Gespräch

S.K.: In der langen Wirkungsgeschichte der Romantik ist Ricarda Huchs Blüthezeit, Ausbreitung und Verfall der Romantik wohl das Buch mit der größten Durchschlagskraft.Nach vielen, vielen Auflagen um 1900 und einer nunmehr längeren Pause ist es wieder auf dem Markt: Die Andere Bibliothek hat im letzten Jahr eine Ausgabe herausgebracht, mitverschlungenen Bäumen über tiefen Wassern, in grün und pink illustriert. Die üppigen Grafiken von Joe Villion ziehen sich bis ins Buch hinein – bis zum Inhaltsverzeichnis, das zeigt, das hier zwei Werke von Ricarda Huch zusammengeführt wurden: die 1899 erschienene Blüthezeit der Romantik und – etwas später geschrieben – Ausbreitung und Verfall der Romantik von 1902.

R.S.: Ricarda Huch hatte wirklich eine innovative Rolle. Kurz vor der Jahrhundertwende und pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum der Romantik beginnt eine literarische Öffentlichkeitplötzlich, sich für die lange verschmähte Romantik zu interessieren. Was zunächst in einem kleinen Kreis von Schriftstellern, Journalisten und Wissenschaftlern beginnt, wird erst durch Ricarda Huchs Monographie zu einem breitenwirksamen Medienphänomen. Sie verbreitet das auflebende Interesse an Romantik derart stark, dass im Feuilleton um 1900 tatsächlich von einer eigenständigen Strömung gesprochen wurde, die man die ‚Neuromantik‘ nennen kann.

S.K.: Diese Neuromantiker setzen sich ja von einer ‚romantikfeindlichen‘ Stimmung im 19. Jahrhundert ab – zumindest, wenn man Huchs späteren Vorreden zum Buch glaubt.

R.S.: Sie blickt dabei wohl besonders auf die etablierten Literaturgeschichten der Zeit – zum Beispiel auf Hettner und Haym, die die Romantik zwar intensiv, aber immer mit einem kritischen Grundton behandeln. Zu viel Romantik führe zur Weltflucht und zu Entfremdung gegenüber der Realität – so in etwa lautet der Standardvorwurf. Den versucht Huch mit ihrem Werk zu entkräften, indem sie die Romantik als Hinwendung zum Leben versteht.

S.K. Zum Beispiel, wenn es heißt, dass Novalis der einzige romantische Autor ist, der richtig hart arbeiten konnte?

R.S.: Oder wenn sie sein Interesse an Mathematik betont, gewissermaßen als Gegenpol zu einer ausufernden Phantasie. Tatsächlich wendet sich in den Jahren von 1890 bis 1910 eine ganze Reihe von Schriftstellern wieder romantischen Stoffen zu, wenn auch in ihren heute eher unbekannten Werken. Gerhart Hauptmann zum Beispiel schreibt erfolgreiche Märchendramen wie Hanneles Himmelfahrt, selbst Heinrich Mann hat eine neuromantische Phase im Jugendwerk. Interessanterweise empfängt diese Neuromantik ihre Impulse aber nicht aus dem deutschsprachigen Raum, sondern aus Frankreich: Es ist wohl der belgische Dramatiker Maurice Maeterlinck, dem mit seinen psychologischen Märchendramen nach Grimm’schen Stoffen eine Vorreiterrolle zugesprochen werden kann. Hieran knüpft Huch an, um das neue Interesse am ‚Romantischen‘ zugleich in Deutschland zu verbreiten. In jedem Bücherregal unserer kanonischen Schriftsteller, zum Beispiel bei Hugo von Hofmannsthal oder Thomas Mann, stand ein Exemplar der Blüthezeit der Romantik.

S.K.: Und was in diesem Buch alles zusammenkommt! Es geht um die Lebensgeschichten einzelner Protagonisten. Ricarda Huch porträtiert Friedrich und August Wilhelm Schlegel mit ihren Frauen, Caroline und Dorothea. Sie schildert plastisch – und manchmal drastisch – deren Zusammenleben in einem weiten Kreis von Dichtern, Philosophen und Naturwissenschaftlern in Jena. Dabei scheut sie sich nicht vor den stärksten Wertungen und Abkanzelungen: August Wilhelm Schlegel zum Beispiel beschreibt sie als „eigentümliche Mischung aus Anmut, Oberflächlichkeit und Pedanterie“. Und erst die derbe Dorothea! Am Schlimmsten sprechen eben Frauen über Frauen. Als unangefochtener und alles überstrahlender Held tritt schließlich Novalis auf. Und dann entwickelt sich auch noch eine
Beziehung zwischen Caroline Schlegel und dem viel jüngeren Schelling. Ein Kind stirbt. Das hat ein bisschen etwas von einer Soap.

R.S.: Und ist nicht unproblematisch. Denn Ricarda Huch schreibt hier ganz im Sinne einer Physiognomik, einer Übereinstimmung der physischen Erscheinung mit dem Charakter. Sie versucht damit, die Romantiker als lebendige, kohärente und ganzheitliche Figuren plastisch einzufangen. Das liest sich heute, unter dem Wissen späterer Auswüchse dieses Ansatzes im 20. Jahrhundert, nicht nur komisch oder zäh, sondern in Teilen gar gefährlich. Ihre Charakterisierung über die Körperlichkeiten geht tatsächlich sehr weit. Über Friedrich
Schlegel meint sie: „In seiner Konstitution lag eine Neigung zum körperlichen und geistigen Fettwerden“. Oder: „Der Elastizität seines Freundes Novalis gegenüber war er wie eine Kuh, vor deren Auge eine Lerche pfeilschnell in die Wolken steigt“.

S.K.: Huch beschreibt und psychologisiert aber nicht nur gewagt. Sie systematisiert und ordnet auch: Sie entdeckt das Athenäum, die Zeitschrift der Frühromantiker, als Werkstatt romantischer Ideen und stellt als erste fest: „Im Athenäum liegt der Keim zu allem, was die
Romantik bringen sollte“. Von hier aus versucht sie, das romantische Denken zu erklären, in dem sie eine „Leidenschaft zur Einheit“ ausmacht. Die wiederum verfolgt sie dann bis in die verschiedensten Verästelungen hinein: in die romantische Philosophie, in romantische Bilder, Religion, Naturwissenschaft, Medizin, Mythologie, Politik, in bestimmte Phänomene wie die romantische Liebe und die romantische Ironie. Sie hat einen ungeheuer weiten Horizont und breitet die große Reichweite romantischen Denkens vor dem Leser aus, die nicht auf einen Zirkel von Literaten beschränkt bleibt, sondern in viele Lebensbereiche ausstrahlt.

R.S.: Auch unterscheidet sie, eigentlich wie eine Kritikerin, klar das – ihrer Ansicht nach – Gelungene und Misslungene in den romantischen Werken. Sie schildert, wo Tiecks Ironie sich mal wieder in zu phantastische Höhen verliert, oder wenn Friedrich Schlegels
theoretische Brillanz in der eigenen Praxis scheitert. Bei beiden Autoren hat sie, anders als bei Novalis, immer auch kritische Vorbehalte zu äußern: „Es ist erstaunlich, bis zu welchem Grade es Tieck misslang, Menschen zu schaffen.“

S.K.: Indem sie das alles zusammenbringt – Literaturkritik, Kulturgeschichte und Literaturtheorie – folgt sie ja eigentlich August Wilhelm Schlegel (dem „geputzten Pedanten“). Der ältere der Schlegel-Brüder fordert in seinen Schriften, diese Gattungen müssten sich – im Sinne einer Universalpoesie – verbinden und dürften auch zeigen, dass sie einem subjektiven Blickwinkel folgten. Genau das macht Ricarda Huch. Sie subjektiviert und poetisiert ihre romantische Literaturbetrachtung. Sie folgt hier Spuren von Heinrich Heine, der auch schon auf diese lebendige und disparate Weise über die Romantische Schule geschrieben hatte.

R.S.: Zu viel wissenschaftliche Genauigkeit darf man von Huch wirklich nicht erwarten. Oft ist gar nicht klar, wer gerade zitiert wird und schon gar nicht, wo man die Äußerung findet.

S.K.: Im Zweifelsfall kommt alles Kluge und Schöne immer von Novalis …

R.S.: Eigentlich ist es interessant, dass sie so rigoros auf die Quellenangaben verzichtet, obwohl sie das wissenschaftliche Arbeiten aus ihrem Geschichtsstudium in Zürich gut kannte, das sie mit der Promotion abgeschlossen hatte. In einem autobiographischen Fragment schreibt sie später, dass sie sich ohne Vorarbeit, mit Lücken, Verwegenheit und Schwung an das Buch setzte, aus einem Gefühl der Wärme und Vertrautheit mit den Personen heraus. Erst nun, meinte sie, unter dem Eindruck einer „Wiedergeburt“ um 1900 lasse sich die historische Romantik so richtig verstehen. Ich glaube, dass hier zwei Dinge zusammenkommen: zum einen das neue Interesse am Romantischen in der internationalen Literatur, die Huch bei Maeterlinck, Hauptmann und Co. beobachtet. Und zum anderen auch eine jüngere Tendenz zur psychologischen Literaturgeschichtsschreibung, die der Däne Georg Brandes gerade prominent eingeführt hatte. Beides führt Ricarda Huch weiter und hebt es damit auf ein neues Level, wozu schließlich auch eine gute Portion Mut gehört.

S.K.: Und zu ihrem Selbstverständnis als Schriftstellerin gehört es eben auch, dass sie selber Bilder entwirft, die den Kern der Romantik versinnlichen sollen. Wie das Bild von der Religion als goldenem, alles durchdringendem Äther, der die ganze romantische Gedankenwelt umhüllt, die einer Landschaft gleicht, in deren Hintergrund ein ungeheurer, alles überlagernder Berg mit schimmerndem Gipfel lagert, dessen Umriss man sehen kann, auch wenn er von silbernen Dünsten und grauem Regenwetter verschleiert wird. Viele sagen, sie hat mit diesen Bildern unser modernes Romantikbild geprägt.

R.S.: Ich sehe da mehr das Kind der eigenen Zeit. Ricarda Huch arbeitet mit starken weltanschaulichen Thesen, die sie auch ausstellt: Sie versteht die Romantik als einen Versuch, zwei entgegengesetzte Pole zu versöhnen, die in allen Dingen der Welt miteinander streiten. Ob im Zwist zwischen Vernunft und Trieb, zwischen Realismus und Phantasie, ja, sogar zwischen Mann und Frau: Überall diagnostiziert sie eine „Seelenschlacht im Menschen“, die sich auch in der Geschichte aller Völker zeigt. Diese Gegensätze, die Zerrissenheit des Menschen, von der sie spricht, möchten auch Huchs Romantiker aufheben, und zwar in einer höheren Einheit der Harmonie. Genau das interessiert die Zeit um 1900: die Kombination von antagonistischen Elementen, wie dem Irdischen und dem Überirdischen, was zur Jahrhundertwende gerne unter dem Schlagwort eines allmächtigen ‚Lebens‘ überwunden wird. Dieser Begriff taucht auch bei Huch häufig auf. Selbst das Unbewusste und das Bewusste fördert sie als Gegensatz bei den Romantikern zutage – ein weiteres Merkmal ihrer Zeitgenossenschaft, denn Freuds Traumdeutung ist fast parallel erschienen.

S.K.: Heute würden wir – gerade in Texten der Frühromantik – den Hinweis stärker lesen, dass diese Synthese zwar ein Ideal ist, aber unter den Bedingungen modernen Lebens ein ewig unerreichbares Ideal. Sie sagt: „Die Eine, Eine glänzende Sonne, das Ich, das nicht mehr zerspaltene, die Einheit des eigenen Wesens, das ist im Grunde das Ziel aller Sehnsucht“.

R.S.: Huch behauptet ja auch, dass der harmonische Einheitsmensch, wie er sich zum Beispiel bei Herder findet, nie gelebt hat. Ein wenig zu kurz kommt mir in ihrer Darstellung jedoch, dass schon die Romantiker um 1800 das Utopische an ihrem Versöhnungsprojekt erkannten. Deshalb ja die ganzen Märchen und Phantastereien. Sobald die romantischen Texte aber allzu spielerisch oder phantastisch werden, droht ihnen bei Huch eine harsche Kritik.

S.K.: Huch entwirft also ein Modell von Romantik zu den Bedingungen ihrer Zeit. Und damit schafft sie eine Anschlussgröße – durch den Inhalt ihres Buches und durch dessen Form. Beides scheint mir auch heute eine Attraktivität zu besitzen: Noch immer wollen Leser Ideen über Personen und ihr Leben vermittelt bekommen. Und noch immer werden entsprechende Bücher geschrieben. Theodor Ziolkowskis Das Wunderjahr in Jena zum Beispiel tut dies, wenn auch faktengesättigter und weniger blumig. Aber doch versucht auch Ziolkowski, über das Zusammenleben und persönliche Konstellationen in Jena Aussagen über die intellektuelle Strömung zu treffen. Gerade hat auch Peter Neumann ein philosophiegeschichtliches Buch geschrieben, in dem ebenfalls die Helden von Jena zum Träger von Ideen werden. Ganz zu schweigen von den vielen Fiktionalisierungen, den Büchern, in denen die Romantiker literarisch verlebendigt werden und uns zugleich von dieser Zeit erzählen. Das geht natürlich oft schief, wenn man Friedrich Schlegel und Schleiermacher gefühlig reden hört.

R.S.: Dass Leben und Werk derart organisch zusammenhängen, ja überhaupt: dass alle Dinge in einem organischen Austausch miteinander stehen, ist für Huch ja zugleich ein Kennzeichen der Romantik. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser konsequente Organizismus nicht eher auf die Kultur um 1900 zurückgeht als auf die Romantik, wie es jüngere Bücher manchmal nahelegen.

S.K.: Zumindest geht die Aufwertung der Frühromantik als „Blütezeit“ auf Huch zurück, die sich dann, tatsächlich organisch, ausbreitet und schließlich verfällt. Für ihr frühes Verwelken macht Huch einen Mangel an Festigkeit und Heimat der jungen Frühromantiker verantwortlich, die dann nur einige wenige Spätromantiker – Eichendorff, Hoffmann, auch die Brüder Grimm überwinden. Die Zersplitterung und Zerfaserung des romantischen Einheitsprojekts ist laut Huch zu diesem Zeitpunkt aber schon nicht mehr aufzuhalten.

R.S.: Und deshalb benötigt es für sie auch eine Wiederaufnahme, eine regelrecht zyklische Wiederkehr von Romantik. Sie beendet das Blütezeit-Buch ja mit einem gewitzten Kniff, indem sie Novalis selbst die künftige Neoromantik voraussagen lässt: „Was jetzt nicht die Vollendung erreicht, wird sie bei einem künftigen Versuch erreichen oder bei einem abermaligen; vergänglich ist nichts, was die Geschichte einmal ergriff, aus unzähligen Verwandlungen geht es in immer reicherer Gestalt erneut wieder hervor.“

Das Gespräch zwischen Sandra Kerschbaumer und Raphael Stübe wurde im Mai 2018 in Jena geführt.

Ricarda Huch: „Die Romantik. Ausbreitung, Blütezeit und Verfall“, Die Andere Bibliothek 2017.