Maria Safenreiter , 01.05.2020

Von der Frau im Werk zum Werk der Frau

Zur Ausstellung ‚Fantastische Frauen. Surreale Welten‘

Eines ihrer wohl prominentesten Beispiele findet die Romantikaktualisierung im historischen Surrealismus. Waren die Surrealisten stets darauf aus, sich als in keiner künstlerisch-literarischen Tradition stehend zu inszenieren und von ehemals Gleichgesinnten, v. a. den Dadaisten, zu emanzipieren, so haben sie sich stets ausdrücklich auf die historische Romantik um 1800 bezogen, indem auch sie den durch die Romantiker gewährten Zugang zur Realität jenseits von Rationalismus suchten. Anhand einer äußerst umfangreichen Themenausstellung nimmt sich die Frankfurter Schirn aktuell vor, den ausschließlich weiblichen und bis dato wenig gewürdigten Beitrag zum Surrealismus bis in die 1970er-Jahre zu beleuchten.

Intro

„Schirn Kunsthalle Frankfurt“. Musik. Schnitt. Eine Frauenstimme im Voiceover: „Das Unbewusste, der Traum, Zufall und Verwandlung. Im Surrealismus wird das rationale Weltbild in Frage gestellt“. Einblende des Texts: „Fantastische Frauen“. Schnitt. Einblende des Texts: „Fantastic women“. Schnitt. Einblende von Jane Graveworls „Das Wohlergehen des Lasters“ (1967). Schnitt. Weiter im Voiceover: „Eine Geisteshaltung, die in Paris der 1920er-Jahre ihren Anfang nahm“. Nahaufnahme von Kay Sages „At the Appointed Time“ (1942). Schnitt. Nahaufnahme von „Tomorrow is never“ (1955), ebenfalls von Sage. Schnitt. Parallel bewegt sich die Kamera, tastend-gleitend, entlang der backsteinroten Ausstellungswände der Schirn, vorbei an Besuchern, Plastiken und Vitrinen, in denen Objekte ausgestellt werden.

So – oder so ähnlich – lassen sich die ersten Eindrücke eines gegenwärtigen Ausstellungsbesuchs in der Schirn beschreiben. Es sind Eindrücke eines Video-Rundgangs, erste Sekunden eines Angebots der Kunsthalle, das dazu da ist, trotz vorübergehender Schließung Einblicke in eine aktuell laufende Ausstellung zu gewährleisten: „FANTASTISCHE FRAUEN. SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO“.

[Update: Die Ausstellung kann wieder vor Ort in der Schirn Kunsthalle Frankfurt besucht werden, verlängert bis zum 5. Juli 2020].

Ausgestellt finden sich insgesamt 260 Werke von 34 Künstlerinnen aus 11 Ländern, zu denen einerseits bekannte Namen wie Meret Oppenheim, Frida Kahlo, Louise Bourgeois, Claude Cahun oder Toyen zählen, andererseits auch weniger bekannte, durch die Kunst der männlichen Protagonisten des Surrealismus ins Bild gesetzte Frauen wie Lee Miller, Dora Maar, Unica Zürn oder Jacqueline Lamba. Ihr Augenmerk richtet die Ausstellung dabei auf zwei Aspekte: Es geht es um die Bewusstmachung der Quantität der Künstlerinnen, die in direkter Verbindung zum Surrealismus – der Geisteshaltung ‚Surrealismus‘ sowie der surrealistischen, 1924 offiziell von André Breton ins Leben gerufen, Bewegung – standen, und zwar jenseits der einigen von ihnen anfangs auferlegten, objekthaften Funktion als Muse, Sprachrohr, Rätsel, Offenbarung, Orakel. Es gehört aber ebenfalls zum Anliegen der Ausstellung, hervorzuheben, dass die Qualität des künstlerischen Beitrags der Surrealistinnen sich von der des Beitrags ihrer männlichen Kollegen unterscheidet.

Weiter im Close-up: ein „Cadavre Exquis“ (1938) von Jacqueline Lamba, André Breton und Yves Tanguy sowie Leonora Carringtons „Portrait of the late Mrs. Partridge“ (1947). Vergrößerung der Ansicht. Schnitt. Nahaufnahme von Frida Kahlos „Autorretrato con Collar de Espinas“ (1940), das Titelbild der Ausstellung. Schnitt. Close-up: Louise Bourgeois’ „Femme maison“ (1946-47), Neigung der Kamera nach unten. Schnitt. Nahaufnahme von Dora Maars „29, rue d‘Astorg“ (1936), Neigung der Kamera nach oben. Schnitt.

https://www.youtube.com/watch?v=4JkVgW2uUos

Teil Eins: Kunsterleben trotz geschlossener Türen

‚Klappe zu, Affe tot’?

Es heißt, dass Affen früher zur Hauptattraktion von Zirkussen und eigenständigen Schaustellern auf Jahrmärkten zählten. Vor allem erstere sollen ihre Besucher für die kommende Vorführung damit angelockt haben, dass sie Holzkisten neben ihren Kassenhäuschen aufstellten, in denen das zu erwartende Faszinosum, der Affe, bereits einen Vorgeschmack seiner Kunststücke darbot. Ein lebendiger Affe in der Kiste hieß also, es wird eine Show geben. Blieb das Kassenhäuschen zu und die Holzkiste weg, war der Affe tot. Öffentliche Institutionen wie Museen, Kunsthallen, Galerien oder Ateliers haben derzeit ihre ‚Klappen‘ zu, ihre Türen vorübergehend geschlossen, denn größere Versammlungen von Menschen sollen für eine Zeit vermieden werden. Doch ist der ‚Affe‘, ist die Kunst hinter den geschlossenen Klappen nicht etwa tot, sondern sehr lebendig. Die Kunst ist, in diesem Fall lediglich nicht mehr so präsentierbar, wie wir es gewohnt sind, und zwar auf jene Art und Weise, die unsere körperliche Präsenz im Ausstellungsraum (White Cube etc.) der zu präsentierenden Ausstellungsexponate (Gemälde, Fotografien, Plastiken, Installationen, Filme oder auch Performances) impliziert.

In Hinblick auf die Schirn handelt es sich nicht etwa um eine Maßnahme, die von der Kunsthalle erst neu etabliert werden musste, die nun in gewisser Weise ‚übrig bleibt‘, weil nichts anderes mehr ‚geht‘ –, sondern die Schirn ist derzeit verstärkt darum bemüht, das auszubauen, was längst Teil ihrer Infrastruktur ist: die Verfügbarkeit an vielseitigen Online-Zugängen zu ihren jeweiligen Ausstellungsexponaten. Zu bedenken ist, dass die ästhetische Erfahrung von Kunstwerken immer vom Wissen des Rezipienten um den Ausstellungskontext, den Entstehungskontext des Bildes, vom Künstlerwissen verstellt wird. Wissen also, das sich besonders bei prominenten Werken in den Vordergrund und damit vor die eigentliche (pure) ästhetische Erfahrung des Werks drängt. Die ohnehin im musealen Rahmen durch vermittelnde Präsentation verstellte Präsenz von Kunst(-Werken) wird aktuell nur noch weiter verstellt, da, wenn Museen und Kunsthallen geschlossen sind, die Präsentation ‚ersten Grades‘ plötzlich einer vermittelnden Präsentation der Präsentation, also einer Präsentation ‚zweiten Grades‘ über das Internet bedarf.

Aktuell bietet das Online-Angebot der Schirn neben dem erwähnten Video-Rundgang Podcast-Sendungen, Digitorials, Publikationen im Online-Magazin ‚Schirn MAG‘ sowie weitere Auftritte in den sozialen Netzwerken, die zusätzliche spannende Einblicke in den kunsthistorischen Kontext und die Themen von aktuellen Ausstellungen geben.

Teil Zwei: Themen der Ausstellung

  • Die Suche nach einer neuen weiblichen Identität
  • Mischwesen
  • Das Politische

In einem Punkt lässt die Ausstellung keine Fragen offen: „Was die Künstlerinnen [des Surrealismus] von ihren männlichen Kollegen vor allem unterscheidet, ist die Umkehr der Perspektive“. Entgegen dem männlichen Blick, der nie auf den Mann selbst, sondern immer nur auf das ‚Andere‘, also auch die Frau als das ‚Andere‘, gerichtet war, richtete sich der weibliche Blick bewusst auf die Frau selbst und ihre Rolle innerhalb von Beziehung und Gesellschaft. (Selbst-)Bewusst gingen die Surrealistinnen in ihrer Kunst auf die Suche nach einem neuen weiblichen Identitätsmodell, das jenseits der bürgerlich-konventionellen Vorstellungen sowie der Vorstellungen ihrer männlichen Kollegen lag. Letzte widersprach zwar den Vorstellungen der Frau als Ehefrau oder Mutter, zwängte sie jedoch im gleichen Maße in eine Rolle, sei es die der mädchenhaften, der passiven bis absolut verfügbaren Kind-Frau, der Puppe oder der auf das Erotische reduzierten, rätselhaften Muse. Hieraus erklärt sich die hohe Anzahl an Selbstportraits in der Ausstellung. Die Künstlerinnen spielten mit ihren Identitäten und Geschlechterrollen.

Hierzu zählt v. a. die Künstlerin und Autorin Claude Cahun: Zu ihrer oft ironischen Kommentierung des stereotypisch Männlichen und Weiblichen in Form der Fotografie oder Fotocollage gehörte es, die Geschlechtergrenzen des eigenen Körpers aufzulösen, wovon das Selbstportrait der Ausstellung „[I am in training ... don’t kiss me]“ (1927) zeugt (Abb. 1).

Leonora Fini wiederum drehte in ihrem Werk oft das Verhältnis zwischen Mann und Frau, ob innerhalb von gesellschaftlichen Strukturen wie im Sexualleben, um. In ihrem Gemälde „Erdgottheit, die den Schlaf eines Jünglings bewacht“ (1946) thront – wie so oft im Werk der Künstlerin – die Frau in Gestalt der allwissenden, allmächtigen und ebenso geheimnisvollen Sphinx über dem schlafenden und erotisierten Körper eines jungen nackten Mannes (Abb. 2). Der Blick der Sphinx tritt an die Stelle des gewohnt männlichen auf den Körper der Frau in seiner Funktion als passives Objekt der Begierde.

Ein weiteres Werk der Ausstellung, das sich thematisch mit der neuen Identität und Rolle der Frau auseinandersetzt, ist Leonora Carringtons symbolträchtiges „Selbstporträt in der Auberge du Cheval d’Aube“ (1937/38) (Abb. 3). Darin inszeniert sie sich nicht nur als maskulinisierte Künstlerin in männlicher Kleidung und breitbeiniger Sitzpose, sondern spielt auch durch Symbole wie das in ihrem Werk häufig zu findende weiße wilde Pferd auf die eigene Befreiung von den ihr gesellschaftlich und familiär auferlegten Geschlechterrollen an. Hierfür steht auch das in seiner Bewegung der Mähne des weißen Pferdes ähnelnde Haar der weiblichen Figur.

Carringtons „Selbstporträt in der Auberge du Cheval d’Aube“ kann u. a. als Bild der Metamorphose gedeutet werden, in dem alles im Begriff ist, in eine neue Form oder eine nächste Bewegung überzugehen und somit etwas Anderes zu werden. In diesem wie auch in anderen ihrer Werke bediente sich die Künstlerin jener Tiersymbole, mit denen sie sich in verschiedenen Etappen ihres Lebens identifizierte und in die sie sich auch in ihren Bildern teilweise verwandelte (hier dargestellt anhand ihres ungebändigten Haares, das zur vom Wind zerrauften Pferdemähne wird und sie auf diese Weise teilweise zum Pferd selbst). Damit sei auf das nächste werkzentrale Thema der Kunst der Surrealistinnen verwiesen. Spätestens seit der Identifikation von André Bretons weiblicher Hauptfigur Nadja mit der mythischen Sagengestalt des Mittelalters Mélusine (mit dem Oberkörper einer Frau und dem Unterkörper einer Schlange), in der gleichnamigen und für den literarischen Surrealismus seit ihrer Erscheinung kanonisch gewordenen Erzählung Nadja (1928), treten tierische Hybridwesen immer wieder in der Kunst und Literatur des Surrealismus auf. Der entscheidende Unterschied in der Behandlung tierisch-menschlicher, genauer: tierisch-fraulicher Mischwesen seitens der Surrealistinnen auf der einen und der Surrealisten auf der anderen Seite lag jedoch darin, dass sich die Künstlerinnen anders als die Künstler mit den tierischen Symbolen, wie im Falle Carringtons angedeutet, tatsächlich identifizierten. Die als Teil ihres dargestellten Selbst gewählten Tiere standen immer auch für einen Teil ihres inneren Selbst, ihrer Wünsche und Ängste.

In den Bereich der Selbstdarstellungen als Mischwesen gehört auch Frida Kahlos „Der kleine Hirsch“ (1946): In diesem Gemälde stellt sich Kahlo vom Hals an als Hirsch dar, wobei ihr Rumpf von neun Pfeilen durchbohrt ist und blutet, doch obgleich äußerlich sichtlich verletzt, strahlt der Gesichtsausdruck Kahlos auf dem Bild Frieden und Gefasstheit aus (Abb. 4).

Die ebenfalls ausgestellten Künstlerinnen Toyen (eigentlich Marie Čermínová) und Jane Graverol nutzen das Motiv des Mischwesens, um in ihrem Werk mit den männlichen Vorstellungen von der Frau als Wunderwesen „porte battante“ („Klapptür“) zum Wunderbaren oder mysteriöses Objekt der männlichen Sexualität und Begierde abzurechnen. So stellt Toyen in „Der Paravent“ (1966) die Frau zwar auch als Misch- bzw. Wunderwesen dar, jedoch nur, damit sie sich genau dadurch dem männlichen Blick sogleich entziehen kann (Abb. 5).

In Graverols „The School of Vanity“ (1967) taucht schließlich das von den Surrealistinnen oft verwendete Motiv der Sphinx auf (Abb. 6). Was auf den ersten Blick wie die Gestalt eines geflügelten Löwen aussieht, auf dem ein nahezu stoisch in die Leere blickender Frauenkopf sitzt, stellt sich bei genauerem Hinsehen wiederum als komplexe Verzahnung von Metallringen und Verbindungskabeln heraus. Mit der vorderen Kralle umpackt die Sphinx eine rosafarbene Rose. Es handelt sich hier um eine für Graverol typische Überzeichnung von Klischees, die allen voran seitens der (nicht zuletzt auch surrealistischen) Männerwelt an die Frau herangetragen werden.

Als ein weiteres wichtiges Thema im künstlerischen Beitrag der Frauen zum Surrealismus, mit dem man beim (virtuellen) Rundgang konfrontiert wird, fungiert nicht zuletzt auch das Politische. Die meisten der ausgestellten Werke der Künstlerinnen sind zur Zeit des Zweiten Weltkriegs oder im Zeitraum des Kalten Kriegs entstanden. Das Credo des Surrealismus, eine ‚Revolte des Geistes‘ zu sein, übersetzten auch viele der Surrealistinnen künstlerisch in ihr Werk, waren auch sie schließlich unmittelbare Zeuginnen und Protagonistinnen politischer Entwicklungen ihrer Länder. Zur Darstellung des durch Ideologien und ihrer Ansicht nach falschen Wertvorstellungen verzerrten Blicks auf die Realität bedienten sich Künstlerinnen wie Lee Miller, Lola Alvarez Bravo oder Dora Maar u. a. künstlerisch-darstellerischer Techniken der Fotomontage oder der Collage. So beispielsweise in Alvarez Bravos „Anarchie der Architektur in Mexiko-Stadt“ (etwa 1950), mithilfe derer scheinbar Vertrautes durch Überhäufung und perspektivischen Bruch augenblicklich in ein schier Alptraumhaftes kippte. Ein instantanes Umkippen, das die politische Situation zwischen den Kriegen (sowie danach) für viele der Künstlerinnen am besten erfassen ließ (vgl. Abb. 7).

Outro

Auch wenn die männlich perspektivierte – und bis heute nach wie vor im Vordergrund des kunstwissenschaftlichen Diskurses stehende – Kunst des Surrealismus bis zuletzt weit davon entfernt blieb, die Frau einfach nur als Frau wahrzunehmen, so beweist die aktuelle Ausstellung „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“ der Schirn eines: Es gab diese Art von Kunst doch! Sie kam von den Frauen selbst, die (in Bezug und Kontakt) zum Surrealismus standen und sich – sei es in Malerei, Fotografie, Film oder Plastik – nicht mehr zum bloßen Objekt des männlichen Blicks herabstufen ließen, sondern zum eigentlichen Subjekt ihrer Kunst erhoben.

Frieda Kahlo, „Selbstbildnis mit Dornenhalsband“, 1940.

Abb. 1: Claude Cahun, „Selbstporträt [I Am In Training … Don’t Kiss Me]“, um 1927.

Abb. 2 : Leonor Fini, „Erdgottheit, die den Schlaf eines Jünglings bewacht“, 1946.

Abb. 3: Leonora Carrington, „Selbstporträt in der Auberge du cheval d’aube“, 1937/38.

Abb. 4: Frida Kahlo, „Der kleine Hirsch“, 1946.

Abb. 5: Toyen, „Der Paravent“, 1966.

Abb. 6: Jane Gravrol, „The School of Vanity“, 1967.

Abb. 7: Lola Álvarez Bravo, „Anarchie der Architektur in Mexiko-Stadt©“, 1950er Jahre.