Annika Bartsch, Leonhard Herrmann, Sandra Kerschbaumer und Caroline Will , 01.04.2019

Wie romantisch ist die Literatur der Gegenwart?

Einige Literaturwissenschaftlerinnen im Gespräch mit Leonhard Herrmann in Leipzig

Wie romantisch ist die Literatur der Gegenwart? Ein Haufen Literaturwissenschaftler/innen (Annika Bartsch, Leonhard Herrmann, Sandra Kerschbaumer und Caroline Will) in Leipzig im Gespräch…

C.W.: Bestimmte Fragen, die sich Romantiker und Romantikerinnen gestellt haben, sind bis heute nicht beantwortet. Deshalb bleiben vielleicht Lösungsstrategien der Romantik erhalten. Angebote auf ganz alte Fragen: Was bleibt uns übrig, wenn feste religiöse (oder später: ideologische) Weltdeutungen wegbrechen? Und trotzdem eine Sehnsucht der Menschen nach eben dieser Festigkeit bestehen bleibt? Also diese asymptotische Sehnsucht nach Sinn. Wir haben zwar immer neue Probleme, aber vielleicht gibt es alte Antworten im Angebot, die wir neu verpacken.

A.B.: Ich glaube, dass Du vollkommen recht hast, trotzdem will ich erst mal eine nüchterne Feststellung machen: Man muss unterscheiden, ob Autorinnen ausdrücklich auf die historische Strömung der Romantik Bezug nehmen oder ob es romantische Schreibweisen gibt, die sie fortsetzen. Ich denke, wir finden in der Gegenwartsliteratur beides: das direkte Zitat von romantischen Texten um 1800 – da denke ich an Helmut Krausser, der sich als Autor ganz stark romantisch inszeniert. Und dann gibt es viele Autoren, die an romantischem Schreiben interessiert sind und an romantischen Weltdeutungen vielleicht. Die etikettieren das aber nicht so. Hier würde ich Daniel Kehlmann dazurechnen oder Felicitas Hoppe. ‚Romantik‘ scheint also sowohl eine bewusst aufgerufene Tradition zu sein als auch ein vielleicht unbewusst zur Verfügung stehendes Modell.

S.K.: Außerdem hängen die Antworten auf die Frage nach der Romantik in der Gegenwart immer davon ab, welchen Ausgangshorizont man ansetzt. Welche Werke, Autorinnen, Schwerpunkte dieser Strömung man als maßgeblich ansieht. Und dann ergibt sich noch eine Aufsplitterung durch die Tatsache, dass spätere und heutige Schriftsteller sich auf bestimmte und oft einzelne Aspekte beziehen und also auch für Unterschiedliches von uns als ‚romantisch‘ bezeichnet werden.

L.H.: Klar, unser Blick von heute auf die damalige Literatur ist natürlich eine Konstruktionsleistung. Wie der Blick auf jede andere Epoche. Man benutzt den Begriff, bezieht ihn auf einen Zeitraum, unterstellt eine abgrenzende Neuerung und legt entscheidende Merkmale fest.

S.K.: Aber das Interessante ist doch: Die Merkmale tauchen wieder auf, sie kombinieren sich neu. Das tun sie bis in unsere Gegenwart.

A.B.: Da ist ja gerade ein schmaler Band erschienen, „Neue Romantik. Eine kleine Literaturgeschichte 1989-2019“, der zeigen will, wie stark die Romantik die Gegenwartsliteratur prägt. „Literaturgeschichte“ ist aber ganz irreführend, denn hier wird auf die Erklärung eines Zusammenhangs fast völlig verzichtet. Stattdessen werden Abhandlungen zu einzelnen Stichworten wie „Allegorie“, „Einsamkeit“ und „Zauberwort“ geliefert. Als ob es nur um Motive ginge. Aber die Frage ist doch: Gibt es Wiederholungen, Auffälligkeiten im Zugriff heutiger Schriftsteller, gibt es Muster?

L.H.: Meiner Ansicht nach werden häufig Erzählverfahren bemüht, die in der Romantik etabliert worden sind. Die Wirkung von E.T.A. Hoffmann zeigt sich in neuen Tendenzen zur Phantastik, die nicht nur durch Motive aufgerufen wird, sondern durch ein Erzählverfahren mit zwei unterschiedlichen Realitätsebenen. Hier ist unklar, welche fiktive Wirklichkeit bestimmend ist: Ist es die alltägliche, an Logik und Kausalität orientierte Wirklichkeitsvorstellung oder gibt es ein zweites, transzendentes Wirklichkeitssystem, von dem wir innerhalb des Textes nur eine Ahnung haben? Das aber auch eine Wahnvorstellung des Protagonisten sein kann? Das ist ein Szenario, das haben wir seit dem Ende der 1990er Jahre sehr häufig. Gerade Daniel Kehlmanns Frühwerk kann man nicht ohne diesen Zusammenhang lesen.

A.B.: Und auch Felicitas Hoppes Roman „Paradiese, Übersee“ funktioniert so. Dieser Roman passt auch zu dem Grundproblem, das Du eben angesprochen hast, Caroline. „Paradiese, Übersee“ zeigt die Schwierigkeiten, die moderne Menschen seit der Romantik haben, ihre Unsicherheit zwischen der Erfahrung von Freiheit und dem mit dieser Erfahrung wachsenden Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Die Figuren in dem Roman sind allesamt auf der Suche. Aber man merkt ziemlich schnell: Das, was sie eigentlich suchen, sind sie selbst. Und das, was sie finden, lässt sich nicht festhalten. Und auch die Identität spaltet sich auf: Bei einer Figur, dem kleinen Baedecker, teilt sich in einer Nacht das Ich und plötzlich finden wir eine zweite Figur – beide reisen permanent in Ritterrüstungen herum. Am Ende sagt der kleine Baedecker: „ich möchte nach Hause“. Im Regen schwemmt der Helm des anderen Ritters heran, den er aufsetzt. Er passt wie angegossen. Ich finde es bezeichnend, dass Motive wie der ‚Doppelgänger‘ oder die Idee der Selbst-Erkenntnis durch Selbst-Entäußerung in der Gegenwart gewählt werden, Ideen, die wir aus der Romantik kennen. Es muss einen Grund dafür geben, dass aus diesem vorhandenen Vorrat geschöpft wird.

L.H.: Beim Zerlegen von Sinn denke ich an Rainald Goetz. Er bezieht sich in seinem Buch „Loslabern“ ausdrücklich auf Friedrich Schlegel. Und findet, sie, die Popliteraten der frühen 90er, waren die Romantiker-Bewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Ich les mal vor: „Ich finde Ablehnung und Krieg wunderbar, Streit, Distanz alles herrlich, aber natürlich ist das Gegenteil tausendmal schöner, und die verschiedenen Romantikertreffen im Umfeld der Jahrtausendwende, Let it rock I und II, Moritz’ 30. Geburtstag in Sophienreuth etc., waren die schönsten Vorgriffe auf Utopia und Paradiesien gewesen, wo aus der Direktheit der Herzlichkeit aller beteiligten Einzelspinner heraus alle anderen Qualen des Sozialen zum Verschwinden gebracht worden waren, für einen kurzen Augenblick, die Weltsekunde Glück natürlich nur. Dann spannte Schlegel dem Eichendorff die vierte Frau oder den ersten Heine aus, Wackenroder hatte mit Novalis eine Sonderstellung ausprobiert, Hoffmann Lottmann eingespannt, Nietzsche Thomas Mann zerstört etc, und es wurde schwieriger.“

S.K.:Was hat denn Rainald Goetz so mitgenommen von diesen popliterarischen ‚Romantiker-Treffen‘, die nicht wie 1799 in Jena, sondern andernorts stattfanden?

L.H.: Der Anlass für „Loslabern“ war, denke ich, die Wirtschaftskrise 2008. Und die Einsicht: Ich habe keine Form, um angemessen darauf zu reagieren. Als Popliterat, als agent provocateur, als Journalist, hat alles nicht geklappt – jetzt sucht Goetz was Neues. Er sucht nach einer ethischen Haltung zur Krise des Kapitalismus. Er möchte einen Text schreiben, der zugleich Text und seine Kritik ist: Realität und Idealität, Engagement, Reden und Schreiben. Der deutsch-deutsche Literaturstreit, der von Frank Schirrmacher initiiert wurde, schafft einen Epocheneinschnitt. Die alten engagierten Schreibweisen der 70er und 80er Jahre, die funktionieren jetzt nicht mehr. Nach der Wiedervereinigung, nach dem Ende der großen Utopien. Das schwingt in einer Poetik mit, die jetzt die ‚progressive Universalpoesie‘ Friedrich Schlegels wieder ins Angebot nimmt: „ALL IN ONE Literatur“ heißt das bei Goetz. Die Literatur, die ihm vorschwebt, zeigt die Zersplitterung, das Zerspringen von Ideen und ist nicht stillzustellen: Verschiedene Sprecher labern los, die Sätze sind irrsinnig. Es gibt in diesem Buch hyperrealistische Schilderung von Literaturbetriebsempfängen, eine Beichtsituation, lyrisch-spielerische Fragmente. Sie heben sich alle im Labern auf.

C.W.: Also, Simon Strauß glaubt diesen Gestus des Neuen nicht. Sein Buch „Sieben Nächte“ handelt von einem Mann, der daran verzweifelt, dass immer schon alles dagewesen ist, dass es nichts wirklich Neues gibt. Er sitzt in der Bibliothek, neidisch auf alles schon Geschaffene und fühlt sich als ultimativer Epigone. Er will etwas Großes schaffen, bevor er 30 wird. Damit einher geht die Suche nach dem Echten und ungeschützten Gefühlen. Er traut sich, Ernsthaftigkeit zu fordern und wendet sich von der Ironie ab. Die Sehnsucht nach dem Wahren und dem Eigentlichen lässt er sich durch keinen Rainald Goetz austreiben.

A.B.:Das Erstaunliche ist doch, dass man nach einer Phase mit so einem ausgeprägten Bewusstsein, dass man zum ‚Wahren‘ nicht vordringen kann, dass man da so wie Simon Strauß den Vorschlag macht, wir sollten zurückkehren zum Pathos, zur Tiefe, zur Sehnsucht nach Geheimnis und Gegenwelt, zu großen Erzählungen, von denen sich alle längst verabschiedet hatten. Denn das Buch will ja zeigen, wie man mit Hilfe eines Teufelspakts, der den Helden jede Nacht eine Todsünde durchleben lässt, Wildes und Intensives erleben kann, all das, was der Langeweile im übersättigten Leben entgegensteht. Aber: Ist das romantisch?

S.K.: Der Roman nimmt seinen Anspruch ja zugleich zurück. Der Teufel mokiert sich darüber, dass die Treppe zu einem Geheimclub für alle, die noch an Wunder glauben, so schwer zu finden ist. Aber Du hast natürlich Recht. Ich habe gerade ein Gespräch aus Amsterdam mit Simon Strauß gehört und da geht es um die Frage „Can Romanticism offer Europe something?“ Romantik versteht Strauß hier als Aufwertung des Gefühls, der Sinnlichkeit, als Konterpart einer technizistischen Welt. Er betont, dass wir aufhören müssen, uns immer in Distanz zu Dingen zu setzen, wir sollen einen unmittelbaren Zugang finden. Aber wer sagt uns, welche Gefühle und welche Realitäten ‚wirklicher‘ und ‚wahrer‘ sind als andere? In „Sieben Nächten“ werden sie in der Vergangenheit gesucht, in der Dichtung oder in einem Authentizitätskonzept, das makabre Züge annehmen kann. In einer Szene gibt es ein Party-Küchengespräch mit einem Syrer, der seine gesamte Familie verloren hat. Sein Schicksal wird ausgespielt gegen die Lebensform in einer liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts: oberflächlich, kalt, rational. Das sind Topoi romantischer Aufklärungskritik. Das schicksalstiefe Leben ist für Strauß im Zweifelsfall das Wertvollere. Gemeinschaft und Bindung wichtiger als Institutionen. Das ist ein Punkt, der für manche Kritiker einen Reiz und für andere das Abstoßende dieses Buches ausmacht. Die Diskussionen reichten ja bis zum Vorwurf, es spiele den Rechten in die Hände.

C.W.: „Ich lebe, glaube ich, vor allem falsch“ – das ist ein Zitat. Das ist doch ein Lebensgefühl, das vor allem junge Leute haben. Er prangert die Kleinteiligkeit der Probleme an. Ich finde das vielleicht halsbrecherisch, aber mutig! Die Idee, dass man sich den großen Dingen widmet, statt sich im Kleinen zu verlieren. Strauß selbst hat den Verein „Arbeit für Europa“ mitbegründet. Dieser sieht es als seine Aufgabe an, nach Ideen zu suchen, die Europa neuen Sinn geben, damit es nicht nur eine Sammlung von Gesetzen ist.

S.K.: Das ist schon in Novalis‘ Europa-Vorstellungen da, in seiner Sammlung „Glauben und Liebe“ oder in „Die Christenheit oder Europa“, die sich gegen Formen des Frühliberalismus richten. Die Vorstellung, ein Staat müsse mehr sein als ein Verfahrensregulator, er müsse auf Ideen ausrichtet sein. Aber was passiert, wenn sich nicht alle hinter gemeinsamen Ideen versammeln wollen? Wenn Uneinigkeit herrscht, welche wichtig sind? Und wer legt sie fest – eine Elite? Die historische Romantik bietet für Goetz und Strauß Anschlüsse - in ihren Anfängen ist beides verbunden: Das Wissen um das Wegbrechen des einen Sinns und die Sehnsucht danach. Gefährlich ist, wenn der letzte Pol dominiert.

C.W.: Vor diese Schwierigkeit sieht sich auch die Gruppe „Arbeit an Europa“ gestellt. Die fand sich am Abend der Brexit-Abstimmung zusammen und merkte plötzlich, was Europa bedeutet. Die Gruppe speist sich aus der Annahme, dass es in Europa nicht nur um wirtschaftliche Vorteile geht, sondern auch um kulturelle Grundlagen. Ich habe das Gefühl, es geht zwar stark um die Suche nach zusammenhaltender Narration, aber es muss nicht die eine Narration sein, es muss nur etwas geben, was viele anspricht, mit dem sich junge Leute auch identifizieren können. Man trifft sich abseits der großen Metropolen beispielsweise in Breitungen in Thüringen oder in Toruń in Polen, um zu zeigen, Europa ist auch das Hinterland. Bei dem Treffen, bei dem ich dabei war, in Toruń, ging es um „Nation und Religion“. Es waren katholische Leute und atheistische Leute dabei und irgendwann ist mir der Gedanke gekommen, wir dürfen diese Sehnsucht nach etwas Übergeordnetem nicht ausblenden. Und wenn es nur die Sehnsucht nach einem zusammenhaltenden Europa ist.

L.H.: Wenn man nach der kritischen Gegenwartsliteratur fragt, was ist heute anders als bei der engagierten Literatur Marke Günter Grass? Ich habe immer gedacht: Wir haben nur eine kritische Beobachterposition und keine Rezepte, die alles besser wissen. Wir beschreiben eigentlich nur und darin soll sich dann eine Gesellschaft spiegeln. Aber hinter all diesen Romanen steckt doch eine Idee, die ist ja nicht weg, und das ist die Idee vom guten Leben. Es ist kein politisches Programm, aber eine Vorstellung davon, wie Leben in dieser Wirklichkeit aussehen kann. Man kann mit Simon Strauß sagen, dass alles erodiert und wir neue Ideen entwickeln müssen. Aber müssen wir das wirklich? Wenn man mal nach Polen geht und sagt die Religion ist weg oder nach Italien, das ist nicht der Fall. Wir leben hier in Ostdeutschland, religionssoziologisch gesprochen in einem kompletten Sondermodus. Das ist kein Fortschritt, sondern ein historischer Zustand. Einige Leute haben das Gefühl, dass alle Substanz weg ist, ich habe das nicht. Ich kenne Leute, die acht Kinder haben oder einen Bauernhof in Thüringen. Es sind sehr viele Dinge und Möglichkeiten in großer Anzahl da. Reicht das nicht? Simon Strauß betont den Mangel, den Verlust. Mir fehlt da nichts.

Das Gespräch zwischen Annika Bartsch, Leonhard Herrmann, Sandra Kerschbaumer und Caroline Will wurde im April 2019 in Leipzig geführt.

Felicitas Hoppe: „Paradiese, Übersee“, S. Fischer 2018. Simon Strauss: „Sieben Nächte“, Aufbau Taschenbuch 2018.

Rainald Goetz: „loslabern“, Suhrkamp 2012.