Tabea Lamberti und Sophie Lauster , 13.04.2022

Zwischen Geisterbahnfahrt und Schauerromantik – Der Sandmann am Bamberger ETA Hoffmann Theater

E.T.A. Hoffmann-Liebhaber:innen kommen 2022 auf ihre Kosten. Anlässlich seines 200. Todestags widmen sich in diesem Jubiläumsjahr zahlreiche Kultureinrichtungen dem berühmten deutschen Romantiker und wählen dabei ganz unterschiedliche Zugänge zu seinem Werk – von Literaturausstellungen über Vorlesungen bis zu Stadtführungen. Neben Berlin ist die Stadt Bamberg dabei einer der geographischen Mittelpunkte, schließlich hat Hoffmann hier von 1808 bis 1813 gelebt und einige seiner ersten Erzählungen verfasst. Das Bamberger ETA Hoffmann Theater zelebriert das Jubiläumsjahr mit einer Darbietung der wohl bekanntesten Erzählung Hoffmanns: Am 20. März feierte Sandmann unter der Leitung von Hannes Weiler Premiere. 2015 inszenierte er bereits Hoffmanns Die Elixiere des Teufels für das Bamberger Theater.

Doch was dort auf die Bühne kommt, hat auf den ersten Blick wenig mit dem traditionsreichen Stoff gemein. Die Szenerie, ein Gruselkabinett: Zu sehen sind eine zerklüftete Felswand, deren verschiedene Einkerbungen an Fenster und Türen erinnern, ein lebensgroßes Spinnennetz sowie ein übergroßer giftgrüner Krallenfuß. Die Leinwand wird sich im Laufe des Abends als wichtigstes Element behaupten, indem sie als Projektionsfläche für die eigens produzierten Videosequenzen dient und letztlich selbst zum gewaltigen Automaten wird. Dieser Kniff erweist sich als überaus gelungen. Die projizierten Sequenzen lassen an Murnaus Faust-Verfilmung denken: verworren, verzerrt, expressiv werden in schnell wechselnden Szenen erst die angsterfüllten Gesichter und schließlich die brutale Augenamputation dargestellt. Zum Schluss präsentiert sich die Stellwand als übergroßer Automat Olimpia; zwei Augenbälle pendeln in den löchrigen Augenhöhlen.

Hannes Weiler interpretiert den Stoff modern. Vom Originaltext der 1816 das erste Mal im Zyklus Nachtstücke veröffentlichten Erzählung bleibt in seiner Version nicht viel übrig – nur um die 5%, schätzt der Regisseur selbst. Die Grundzüge des Plots sind trotzdem erkennbar: Der junge Nathanael, verängstigt von der Geschichte, die er über den bösen Sandmann gehört hat, sieht im allabendlichen Besuch des Advokaten Coppelius eben jene wüste Schreckensfigur, die den Kindern die Augen stiehlt. Als Student wird Nathanael durch die Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola von den traumatischen Erinnerungen seiner Kindheit heimgesucht und verliert zunehmend den Bezug zur Wirklichkeit. Er verliebt sich in die Holzpuppe Olimpia und distanziert sich von seiner Verlobten Clara. Die Grenzen zwischen Realität und Einbildung verschwimmen zunehmend; schließlich begeht er im Wahn Suizid.

Weilers Inszenierung ist keine bloße Nacherzählung des Stoffes. Die Sprache ist zeitgenössisch und die vier Schauspieler:innen Daniel Dietrich, Stefan Herrmann, Clara Kroneck und Eric Wehlan schlüpfen abwechselnd in die Rollen von Nathanael, Clara, Coppelius/Coppola, Vater und Mutter; lediglich die Kostüme lassen erahnen, wer gerade welche Rolle spielt. Die Bandbreite reicht dabei von Federmantel und schwarzem Rock à la Mephistopheles bis zum roten Aufzug, der an die spanischen Bankräuber und Kapitalfeinde aus der Netflix-Serie Haus des Geldes (2017–2021) denken lässt. Es wird außerdem wirkungsvoll mit Musik, Licht- und Soundeffekten gearbeitet und spätestens, wenn Olimpia plötzlich als lebloses Puppenskelett gegen das Spinnennetz geschleudert wird und Nebel aus den verschiedenen Öffnungen der Felswand heraus in das Publikum wabert, fühlt man sich an Geisterbahnfahrten erinnert.

Damit steht die Inszenierung in der Tradition einer weitverbreiteten Rezeptionslinie der Erzählung: Der Sandmann gilt als Paradebeispiel der Schauerromantik, die durch Themenwahl und Textstruktur Schauer und Gruseln bei den Lesenden hervorzurufen versucht und sie in der fiktiven Welt „Angst als Genuss ohne Risiko“ (Richard Alewyn, 1974) erleben lässt. Auch Weilers Bearbeitung lässt die Zuschauer:innen Schauriges erleben und bringt das Publikum dabei, anders als Hoffmanns ursprüngliche Erzählung, auch immer wieder zum Lachen – so etwa, wenn Claras und Nathanaels gegenläufige Weltanschauungen in einem banalen Streit beim Möbelkauf dargestellt werden oder wenn Claras Sehnsucht nach einem idyllischen Leben in Form einer an überzogene Werbespots erinnernde Vision parodiert wird, in der „Claire“ und „Nate“ die „Coppolas“ endlich mal wieder zum Grillen einladen müssten.

Trotzdem gehen der Ernst und das Unheimliche des Stoffes nicht verloren und die bekannten Motive des schauerromantischen Klassikers werden transportiert: Wahnsinn, Ambivalenz der Imagination sowie eine janusköpfige Technifizierung und Verwissenschaftlichung der Welt und die damit einhergehende Mensch-Maschine-Problematik.

Wie Hoffmanns Erzählung reproduziert auch die Bamberger Inszenierung Nathanaels zunehmend instabilen Zugang zur Wirklichkeit, das Verwischen von Fiktion, Wahn und Realität. Durch den ständigen Rollenwechsel der vier Darsteller:innen geht das Ensemble einen Schritt über Hoffmanns Erzählung hinaus; es wird nicht nur mit der Doppelgängeridentität von Coppelius und Coppola gespielt, auch die vermeintlich sicheren Identitäten der anderen Figuren werden in Zweifel gezogen. Als Zuschauer:in weiß man oft nicht, wer eigentlich wer ist, und sieht sich so – ähnlich wie Nathanael – zunehmend mit der Frage konfrontiert, wo die Realität aufhört und wo die Fiktion beginnt. Das Innenleben des Protagonisten wird auf diese Weise für das Publikum erfahrbar gemacht; wir werden regelrecht in den „Strudel“ von Nathanaels Gedanken eingesogen, wie es die leitende Dramaturgin Petra Schiller treffend beschrieben hat, und dazu eingeladen, unsere gewohnte Perspektive zu verlassen und die Welt stattdessen durch Nathanaels Augen zu betrachten. Wie in Hoffmanns Erzählung bleibt offen, ob sich die Ereignisse lediglich im Kopf des Studenten abspielen, wie seine Verlobte behauptet, oder tatsächlich real sind. Die Interpretation wird letztlich den Leser:innen und Zuschauer:innen überlassen.

Hoffmann wie Weiler spielen allerdings ganz bewusst mit der Möglichkeit, dass Nathanaels vermeintlich verrückte Sicht auf die Welt die eigentlich wahre ist. Das knüpft an die romantische Vorstellung an, dass die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen Wahnsinn und Genie, zwischen gesund und krank keineswegs so eindeutig verlaufen wie gemeinhin angenommen wird. In der Romantik und ganz besonders in Hoffmanns Erzählungen wird immer wieder mit der Idee gespielt, dass gerade die Figuren, die von ihrer Außenwelt für verrückt gehalten werden, den eigentlichen, ‚wahren‘ Zugang zur Wirklichkeit haben und ‚mehr‘ sehen als ihre rationalen, durch Vernunft verblendeten Mitmenschen – neben Nathanael denke man nur an Anselmus in Der goldene Topf (1814) der an Medardus in Die Elixiere des Teufels (1815/16). Auch der Bamberger Nathanael tritt in einem flammenden Plädoyer für diese erweiterte Perspektive ein, welche über die „wahre wirkliche Außenwelt“ hinausgeht und ihm ermöglicht, mehr in der Welt zu sehen als Möbelkäufe und Grillfeste. Als Zuschauer:in bleibt man mit der Frage zurück, wer am Ende eigentlich der oder die Wahnsinnige ist, – oder ob uns die technifizierte und kapitalistische Welt nicht alle zu Wahnsinngen macht.

Anders als in Hoffmanns ursprünglicher Erzählung werden die negativen Seiten, die Gefahren und Risiken, die eine solche Weltanschauung mit sich bringt, in Weilers Inszenierung jedoch vernachlässigt. Es wird zwar angedeutet, dass Nathanaels überfrachtete Einbildungskraft ihn zunehmend von seinem sozialen Umfeld isoliert und er immer mehr den Zugang zur eigentlichen Wirklichkeit verliert, insgesamt wird die romantische Weltanschauung hier aber doch recht unreflektiert als Ausweg aus dem modernen Alltag präsentiert.

Überzeugend ist hingegen Weilers Übertragung des gesellschafts- und technikkritischen Charakters der Erzählung in die Gegenwart. In Hoffmanns Sandmann werden Zweifel am Mehrwert neu entstehender optischer Medien laut: Schließlich wird Nathanaels Blick auf die Wirklichkeit durch Coppelius’ Perspektiv nicht geschärft, sondern verzerrt und führt dazu, dass er einen Automaten für einen Menschen hält. In der Postmoderne wird das Hinabgleiten in einen Zustand des Realitätsverlusts nicht durch einen Blick in das Wetterglas, sondern durch die Spiegelung im eigenen Smartphone ausgelöst. Ob dies eine intendierte Anspielung auf Social Media wie Instagram, TikTok und Co. darstellt oder lediglich auf menschliche narzisstische Eigenliebe verweist, bleibt offen.


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In diesen Beitrag sind Aussagen und Ideen aus einem Podiumsgespräch eingeflossen, welches die Autorinnen am 23.3.2021 mit der Dramaturgin Petra Schiller und den Schauspielern Daniel Dietrich, Stefan Herrmann und Eric Wehlan führen konnten. Allen Beteiligten danken wir für interessante Einblicke und Hintergründe.