01.06.2024

Jean Paul: Welttext und Textwelten

Call for Papers für die Jean-Paul-Tagung in Bayreuth vom vom 13. bis 15. November 2025
Einsendeschluss: 30. Juni 2024/Deadline: June 30, 2024

On the occasion of the 200th anniversary of Jean Paul's death, the Jean Paul Society, in collaboration with the editorial team of the Jean Paul Yearbook, invites you to a scientific conference on Jean Paul. The topic will be Jean Paul's expanding, encyclopaedic style of writing, which places him in the tradition of ›world texts‹. Content-related and structural issues as well as topics of the Jean-Paul-Edition will be addressed. The conference is scheduled to take place in Bayreuth from 13 to 15 November 2025. Please send your proposal for a presentation to barbara.hunfeld@uni-wuerzburg.de by 30 June 2024.

 

Die Jean-Paul-Gesellschaft lädt in Zusammenarbeit mit dem Herausgeberteam des Jean-Paul-Jahrbuchs aus Anlass des 200. Todestages zu einer wissenschaftlichen Tagung über Jean Paul ein. Thema soll die expandierend-enzyklopädische Schreibweise Jean Pauls sein, welche ihn in die Tradition der ›Welttexte‹ stellt. Die Tagung soll vom 13. bis 15. November 2025 in Bayreuth stattfinden. Einsendeschluss für Beitragsvorschläge ist der 30. Juni 2024 (barbara.hunfeld@uni-wuerzburg.de).


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›Welt‹ ist ein Synonym für die schlechthin große Extension, für das, was sich nur aus einer weit ausgespannten Perspektive eröffnet, für das Welt-All, aber auch für die erwünschte Breite des eigenen Nachhalls in der Leser-Welt, für Botschaften, die die ganze ›Welt‹ betreffen. Jean Paul und seine textinternen Repräsentanten wenden sich gern an die ›Welt‹: Vom ›Weltgebäude‹ herab gehalten wird die Rede des toten Christus, daß kein Gott sei; der Satiriker spricht gerne von einer eingebildeten Kanzel zur Welt.

›Welt‹, das ist auch das Draußen als Pendant eines Drinnen: der weitgehend unvertraute Raum der großen Gesellschaft, die kritisch gesehene große Welt des Adels und der großen Politik – kurz: eine Dimension der Wirklichkeit, von der sich die Idylliker abschotten (»Wie in einem durchsichtigen Eispalast wohnhaft, sah er ruhig und kühl die äußeren Schneestürme um sich fliegen und sagte: Es ist halt Welt«, Leben Fibels). Und es gibt neben der Außenwelt innere Welten, in denen sich Elemente der äußeren gespiegelt finden mögen, die Imagination aber auch Neues schafft.

Die Frage nach Formen der Welt-Betrachtung bildet den Kernpunkt der Reflexionen über Satiriker und Idylliker, über große und kleine Akteure der sozialen Welt, aber auch, anders akzentuiert, über poetische Materialisten und Nihilisten in der Vorschule. Das Interesse an dem, was sich unter dem Begriff ›Welt‹ zusammenfassen lässt, bedingt nicht zuletzt Jean Pauls Anschlussstellen an den poetischen Realismus und sein Interesse für die Dinge der Welt. Im Stichwort ›Welt‹ bündeln sich, so könnte man sagen, die zentralen poetologischen Interessen und Fragen, die in seinen Texten verhandelt werden. Schon die Vielfalt literarischer Variationen über ›Welt‹ – Vielfalt dessen, was als Welt in den Blick rückt, und Vielfalt der impliziten oder expliziten Welt-Konzepte – lässt es naheliegend erscheinen, Jean Pauls Texte als Welttexte zu charakterisieren.

Freilich, Max Kommerell hat Jean Paul als Dichter ohne Welt beschrieben; es mangle ihm an epischer Breite, schlichtweg an Welt-Erfahrung. Auch diese Charakteristik hat ihre Evidenzen, irritierenderweise ohne der vorangehenden Beschreibung der Welthaltigkeit zu widersprechen. ›Welt‹ ist also ein Terminus, der im Falle Jean Pauls sehr divergierende Deutungsmöglichkeiten eröffnet. – Es kommen weitere Stichworte unterschiedlicher Couleur hinzu: Lesbarkeit der Welt (Welt als Text, Metaphorologie des Textuellen); Weltliteratur und Weltrang; Welt als enzyklopädische Versammlung (Sammler, Enzyklopädisten, Polyhistorismus); innere Welt (Geist und Aberglaube) versus äußere Welt (Mimesis, Natur); die Vielzahl der Welten im nachkopernikanischen Weltbild; die absurd gewordene, verlachte und nihilisierte Welt.

Alle diese Fragen haben auch ihre textphilologischen (Gegen-)Seiten. Jean Pauls Textwelten sind Gegenstand der Jean-Paul-Ausgabe (Werk und Nachlass), die seit den 90er Jahren und seit 2023 unter dem Titel Sprachgitter digital als Langzeitprojekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an der Forschungsstelle Jean-Paul-Edition in Würzburg erarbeitet wird. Dabei geht es auch um den Zusammenhang von Text und Welt, indem die Edition zeigen kann, wie die Literarisierung des schriftgewordenen Weltwissens um 1800 zur Welt aus Text, zur Welt als Text führt. An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ist unlängst im Rahmen der Jean-Paul-Edition das komplette Briefwerk ediert worden. Es existiert also eine rege Editionstätigkeit in Sachen Jean Paul.

Edieren heißt heute mehr denn je, sich philologisch an der Formation und Transformation von Text-Welten zu beteiligen. Unter dem Einfluss einer beschleunigten Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) verändern sich auch die traditionellen philologischen Prozesse des Sammelns, Konstituierens und Kommentierens von Texten und Textkorpora. Dass der Einsatz von KI-Algorithmen die automatisierte Transkription, Annotation und Analyse von Texten in bislang ungekanntem Ausmaß ermöglicht, hat auch für die Jean-Paul-Philologie (und angrenzende Editionsprojekte) weitreichende Konsequenzen: Wann, wo und wie wir auch immer Jean Pauls Schriften der Welt zugänglich machen, wir reichern dabei stets auch die großen Datenrepositorien mit Jean Paul an, die zunehmend unser Leben bestimmen werden und bereits bestimmen. Jean Pauls höchst individuelle Textwelten werden mehr und mehr zu Elementen einer globalen Textwirklichkeit, die sich über die großen generativen Sprachmodelle der Gegenwart universell fortschreibt. So betrachtet, reicht die Diskussion zu Fragen der Editionsphilologie und Textkritik bei Jean Paul und seinen Zeitgenossen weit über innereditorische Entscheidungen hinaus.

Mögliche Themen im Zusammenhang editionsphilologischer Fragestellungen können sein: Zeichen und Typen: zum Umgang mit Jean Pauls Typographie und Orthographie; Historiographien von Jean-Paul-Digitalisaten; Jean Paul im Netzwerk von editorischen und automatischen Übersetzungsprozessen; die Anwendung von automatisierter Texterkennung und -transkription in der Edition von Schriftstellern und Schriftstellerinnen um 1800; die Anwendung von KI-Algorithmen zur Textannotation und -analyse (bis hin zu Projekten der digitalen Diskursanalyse); die Zusammenarbeit zwischen Philologinnen und Philologen und Informatikerinnen und Informatikern im Horizont von Jean Pauls ›Dintenuniversum‹.

Die Editionswissenschaft hat seit der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe eine tiefgehende Debatte zur Frage der Editionsformen von Textprozessen erlebt. Sie reichte bis zu der Annahme, es wären nicht Texte (als Werke), sondern Schreibbewegungen in der Editionstätigkeit abzubilden. Jean Pauls unablässiges Schreiben ist der zentrale Bezugspunkt von Sprachgitter digital. Seiner wuchernden Textwelt kann allerdings nicht mit einer Editionspraxis, wie sie bei Hölderlins schmalem Werk möglich ist, begegnet werden. Auf diesen Problemkomplex – unabschließbares Schreiben in abschließbarer Ausgabe – muss die Edition Antworten geben.


Wir bitten um Themenvorschläge bis zum 30.6.2024 an: barbara.hunfeld@uni-wuerzburg.de.

Eine mögliche Gliederung der Tagung in Sektionen ist im voranstehenden Exposé angedeutet. Ihre Konkretisierung sei den Überlegungen vorbehalten, die sich aus den eingehenden Themenvorschlägen ergeben. Die Beiträge zur Tagung werden anschließend im Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft veröffentlicht. – Wir ermuntern Forscherinnen und Forscher, die sich mit Jean Paul und seinem Umfeld befassen, zur Teilnahme an der hiermit ausgeschriebenen Tagung. Insbesondere sind auch NachwuchswissenschaftlerInnen aufgerufen, sich zu bewerben. Eine kurze Skizzierung des geplanten Vortrages ist erbeten.
 
Mit der gespannten Vorfreude auf die Themenvorschläge,
Jörg Paulus, Monika Schmitz-Emans, Ralf Simon und Barbara Hunfeld