Mittwoch 06. - Freitag 08. Juli 2022

Internationale Tagung „GegenRomantik"

International Tagung des GRK "Modell Romantik" an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Das Graduiertenkolleg hat in zwei Förderphasen ermittelt, in welcher Weise die Romantik über ihren historischen Ursprung hinauswirkt und bis heute Formen der Weltdeutung, verschiedene Lebensvollzüge, Selbstreflexion und ästhetische Gestaltung anleitet. Die Versuche, Merkmale und Eigenschaften zu benennen, die als ‚romantisch‘ tradiert wurden, die Analyse von Modellen von Romantik, die sich vom 19. bis zum 21. Jahrhundert etabliert haben, basiert auf der Annahme, ‚Romantik‘ liefere Antworten auf spezifische Problemstellungen der Moderne.

Das Kolleg hat aber nicht nur Modellbildungen als Gegenstand untersucht, sondern auch selbst ein wissenschaftliches Modell entworfen, das heißt Merkmale der historischen Romantik benannt und als wesentlich in den Raum gestellt: Demnach entwickelt die historische Romantik Darstellungs-, Deutungs- und Handlungsmuster, die komplementär zu modernen Differenzierungs- und Pluralisierungsprozessen Einheitsvorstellungen und Ganzheitsperspektiven artikulierbar machen. Vor allem in romantischen Texten wird das Vorläufige, Subjektive und die Unerreichbarkeit der angebotenen Einheitsvorstellungen so stark markiert, dass diese Einheit nicht nur behauptet, sondern zugleich auch wieder in Frage gestellt wird (Matuschek/ Kerschbaumer 2015). Dem Kolleg kommt es auf die innere Gegenläufigkeit der historischen Romantik an, auf die gleichzeitige „Anerkennung und Synthetisierung der Diversität“ (Reinfandt 2003, 43). Die beteiligten Wissenschaftler*innen gehen also davon aus, dass die Spannung von holistischen Sinnentwürfen und modernem Kontingenzbewusstsein ein wesentliches Merkmal der historischen Romantik ist und zu ihrer Anschlussfähigkeit, ihrer fortgesetzten Produktivität und Vorbildwirkung beiträgt.

Für die Tagung des Kollegs wollen wir die Gegenspieler der Romantik in den Blick nehmen und uns mit der Romantik als Streitfall beschäftigen. Uns interessieren diejenigen, die romantische Antworten auf die mit den Umbrüchen des 18. Jahrhunderts virulent gewordenen Probleme bezweifeln. Wissen wollen wir, wie und mit welchen Gründen die Romantik kritisiert wurde. In welchem Verhältnis steht sie, stehen ihre Nachfolger zu Gegenmodellen? Die Tagung möchte untersuchen, inwiefern gerade auch zeitgenössische Fortführungen romantischer Muster als unzulänglich oder unpraktikabel wahrgenommen werden. In den Fokus treten also Positionen, die sich bewusst als nicht-romantisch verstehen und damit Debatten, Kontroversen und Konfliktlinien. Auch aus der Kritik kann sich dann eine Modellierung des Gegenstandes ergeben – natürlich ex negativo.

Als Untersuchungszeitraum setzen wir 1800 bis zur Gegenwart an, um die historische Dimension und gegenwärtige Diskurse zu verbinden, und wenden uns verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen in vier verschiedenen Sektionen zu: Romantik vs. Realismus in der Kunst und Literatur (moderiert von Johannes Grave und Dirk von Petersdorff), Romantik vs. Liberalismus (moderiert von Tilman Reitz und Matthias Löwe), Romantik vs. empirische Wissenschaft (moderiert von Caroline Rosenthal und Sandra Kerschbaumer), abgrenzende Polemik in der Publizistik der Gegenwart (moderiert von Stefan Matuschek).

Die Tagung beginnt mit einer kurzen Einführung in die bisherige Arbeit des Kollegs und seine Leitthesen. Hier werden einige Kernfragen formuliert, die in allen Sektionen wieder aufgegriffen werden sollen.

‚Romantik‘ und ‚Antiromantik‘ haben als polarisierende Erfolgsworte auch heute noch einen Streitwert. Von Beginn an verdankt sich die Karriere des Wortes ‚Romantik‘ polemischer Energie. Die erste Sektion der Tagung soll untersuchen, inwiefern diese Energie heute erschöpft oder noch lebendig ist. Dabei soll es nicht um interne fachwissenschaftliche Debatten gehen und auch nicht um Alltagsdiskurse, sondern um die Kontaktzonen von Wissenschaft und Publizistik wie die Literatur-/Kunstkritik und das politische Feuilleton. Wie sachhaltig, eindringlich und wirksam ist dort der Streit um ‚Romantik‘ und ‚Romantisches‘?

Programm

Mittwoch, 06. Juli 2022

14.00 Uhr: Begrüßung

14.30 Uhr: Prof. Dr. Stefan Matuschek (Friedrich-Schiller-Universität Jena): „Der Romantik-Popanz. Ein Wiedergänger“

15.30 Uhr: Dr. Annika Bartsch (Friedrich-Schiller-Universität, Jena): „Romantik als Beschreibungs- und Bewertungskategorie in der gegenwärtigen Literaturkritik“

16.30 Uhr: Beate Tröger (Literaturkritikerin, Frankfurt am Main): Maren Kames Gedichtband „Luna Luna“ als Exempel


19.00 Uhr: Gemeinsames Abendessen


Die Sektion zur Politik stellt die antagonistische Konstellation zwischen Romantik und Liberalismus ins Zentrum, versieht diesen Antagonismus aber mit einem Fragezeichen. Es wäre kontraintuitiv, die ‚progressive‘ Frühromantik antiliberal zu nennen, da die Frühromantiker mit dem zeitgenössischen Proto-Liberalismus die Hochschätzung individueller Freiheit teilen. Gleichwohl gibt es in der historischen Romantik markante Linien der Liberalismuskritik. In den späteren Phasen, die in Deutschland bereits mit Novalis’ Die Christenheit oder Europa einsetzen, wird den wahrgenommenen Defiziten des modernen Individualismus ein Idealbild organischer Gemeinschaft entgegengesetzt. Neben einer solchen Auslotung des liberalen Anti-Liberalismus der historischen Romantik will sich die Sektion vor allem mit Positionen der Romantikkritik beschäftigen, die Romantik und Liberalismus in eine scharfe Opposition stellen.

 
Donnerstag, 7. Juli 2022

9.00 Uhr: PD Dr. Chrisoph Henning (Universität Erfurt): Romantische und antiromantische Kapitalismuskritik in der ökologischen Bewegung

10.00 Uhr: Prof. Dr. Alexander Schmidt (Vanderbilt University): „Von Adam Müller bis Wilhelm Dilthey: Romantik und Konservatismus im deutschen politischen Denken des 19. Jahrhunderts“

11.00 Uhr: Prof. Dr. Andrea Albrecht und Dr. Kristina Mateescu (Universität Heidelberg): Romantische und gegenromantische Weltanschauung. Alfred von Martin im Kontext der NS-Kritik


12.00 Uhr: Buffet und Spaziergang


Die Sektion zur ‚Natur‘ beginnt mit dem Spannungsfeld um 1800 und zweigt Konfliktlinien zwischen einer sich ausdifferenzierenden empirischen Naturwissenschaft und einer romantisch geprägten, auf einen höheren Sinn zielenden Naturphilosophie. Es folgt ein großer Sprung in die Gegenwart: zu einem Vortrag, der darlegt, wo romantische Denkmodelle in der gegenwärtigen Debatte um das ‚Anthropozän‘ auftauchen und mit welchen Argumenten sie angegriffen werden. In den 1990ern schrieb ein früher Zweig des Ecocriticism romantische Deutungsmuster fort und sah die Natur als Vorbild für ethisches Verhalten. Diese Annahmen werden spätestens in einer zweiten Phase des Ecocriticism in Frage gestellt. So hat etwa Ursula Heise auf die Probleme der Ableitung von Handlungsnormen aus Teilbeobachtungen der Natur hingewiesen. Ein zweiter gegenwartsorientierter Vortrag stellt Ergebnisse ethnologischer Feldforschung am CERN vor und zeigt, wie selbst hier wissenschaftliche Fakten und Narrationen zusammenspielen.


14.00 Uhr: Prof. Dr. Staffan Müller-Wille (University of Cambridge): „Fragment und System. Konfliktlinien in der Naturgeschichte um 1800

15.00 Uhr: Christian Schwägerl (Wissenschaftsjournalist, Berlin): “Berührte Natur: Das Anthropozän zwischen wissenschaftlicher Diagnose und inniger Weltbeziehung.”

16.00 Uhr: Dr. Anne Dippel (Friedrich-Schiller-Universität): Fallen auf der Spur. Wie Physiker:innen sich die Welt erzählen, ethnographisch betrachtet“


19.00 Uhr: Öffentliches Abendprogramm: Lesung der Autorin Maren Kames (Luna, Luna u.a.) mit Performance und Lyrikgespräch


In der deutschsprachigen Literatur scheint die Gegenstellung von Romantik und Realismus klar diagnostizierbar zu sein: Beide Strömungen bzw. Epochen folgen zeitlich aufeinander, so dass eine Abgrenzung der Realisten von den wirkungsmächtigen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts naheliegt. Diese wurde dann auch in den programmatischen Texten des Realismus vollzogen, indem der Weltflüchtigkeit der Romantiker eine Erhöhung der Mimesis gegenübergestellt wurde, ihren ästhetischen Eskapaden eine Orientierung am Bewusstsein des Normallesers, ihrer forcierten ästhetischen Autonomie eine Bindung an andere gesellschaftliche Bereiche (z. B. Politik, Recht, Wissenschaft). Der Blick auf die literarischen Texte der Realisten zeigt allerdings, dass kein einfaches, dichotomisches Verhältnis zur Romantik besteht.

Eine vergleichbare Spannung zwischen expliziter Programmatik und praktischer Umsetzung kennzeichnet auch das Verhältnis zwischen Romantik und Realismus in der bildenden Kunst, insbesondere in der Malerei. Hier weisen die Begriffe des ‚Romantischen‘ und des ‚Realistischen‘ die Gemeinsamkeit auf, dass sie sowohl zur Kennzeichnung von eigenständigen Epochen und Strömungen herangezogen werden als auch allgemeine Haltungen, Darstellungsformen und ästhetische Strategien bezeichnen können. Es erstaunt daher nicht, dass die auf den ersten Blick so klaren Grenzziehungen zwischen Romantik und Realismus bei näherer Betrachtung fraglich werden.


Freitag, 8. Juli 2022

9.00 Uhr: Felix Schallenberg (Friedrich-Schiller-Universität Jena): „Romantik und Realismus als Dichotomie? Literarhistorische Korrekturen bei Theodor Storm“

10.00 Uhr: Prof. Dr. Stefan Tetzlaff (Georg-August-Universität Göttingen): "Wie echt sind Zeichen? Sem-Ontologie und semiotischer Wandel von der Romantik zum Realismus"

Kaffeepause

12.00 Uhr: Prof. Dr. Ségolène Le Men (Université Paris Nanterre): Vortrag zum Verhältnis von Romantik und Realismus (mit Fokus auf Gustave Courbet)

13.00 Uhr: Prof. Dr. Michael F. Zimmermann (Katholische Universität Eichstätt): „Baudelaire, Courbet und Manet: Freundschaftliche Missverständnisse und der lange Schatten der Romantik“

Falls Sie an der Tagung teilnehmen möchten, melden Sie sich bitte unter modell-romantik(at)uni-jena.de bis 30. Juni 2022 an.

Begleitend zur Tagung findet vom 03. bis 10. Juli 2022 die Summer School „Von Hoffmann bis Tocotronic - Romantik aktuell“ am GRK „Modell Romantik“ statt.