Karl Tetzlaff , 17.07.2023

„Aktualisierungen romantischer Naturphilosophie – Gewinne und Gefahren“

Bericht zum Workshop des Graduiertenkollegs „Modell Romantik“ in Jena

„We are nature, and Schelling’s philosophy of oneness reminds us that we’re part of a great thumping web of life“, schrieb Andrea Wulf, Autorin eines Bestsellers über die Jenaer Frühromantik, Ende 2022 in der New York Times. Ihr Artikel ist exemplarisch für eine Reihe von rezenten Versuchen, naturphilosophische Konzeptionen der Sattelzeit als geistiges Gegenmittel gegen die globale Klimakrise zu mobilisieren. Welche „Gewinne und Gefahren“ in solchen „Aktualisierungen romantischer Naturphilosophie“ stecken, war das Thema eines Workshops, der am 14. und 15. Juni im Jenaer Normannenhaus stattfand. Ausgerichtet wurde er vom Graduiertenkolleg „Modell Romantik“, das sich der Geschichte und Gegenwart jener an der Schwelle zur Moderne entstehenden Aufbruchsbewegung verschrieben hat, der es auch, so noch einmal Wulf, um die Kultivierung eines „deep bond between humans and nature“ ging.

In ihrer Einführung deutete Sandra Kerschbaumer (FSU Jena), die Organisatorin des Workshops, das bei Wulf, aber z.B. auch im Eco Criticism zu entdeckende Bestreben einer Revitalisierung romantischer Naturphilosophie als Ausdruck eines Wunsches nach Komplexitätsreduktion. Die Beschreibung der Natur als einen den Menschen in sich begreifenden Organismus geschehe angesichts von Differenzierungen, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt der Moderne mit sich gebracht habe. Bereits im 19. Jahrhundert sei dieses organologische Totalitätspathos aber der Kritik vonseiten der erstarkenden Naturwissenschaft ausgesetzt gewesen. So habe Matthias Jacob Schleiden damals das romantische Streben nach Reintegration von Mensch und Natur als bloß wunschgesteuerte Spekulation entlarvt, die der Erkenntnis schlechthin unzugängliche Zusammenhänge konstruiere. An der Frage, ob der Konstruktionscharakter dieser Zusammenhänge im Blick bleibt, lassen sich, wie der Fortgang des Workshops zeigte, Gewinne und Gefahren einer Aktualisierung romantischer Naturphilosophie gut unterscheiden.

Benjamin Specht (FAU Erlangen-Nürnberg), der ausgehend von Schellings Diktum „Ueber die Natur philosophiren heißt die Natur schaffen“ einige „Grundzüge der romantischen Naturphilosophie“ rekonstruierte, warnte in diesem Sinne vor Entdifferenzierungswünschen. Wenn alles Natur sei, werde schnell das Bestehende zum unhinterfragbar Gegebenen. Am Beispiel des durch Schelling beeinflussten Naturforschers Lorenz Oken zeigte Specht, wie schmal der Grat zwischen romantischem Einheitsfuror und totalitärer Weltanschauung sein kann, der Okens Rassenklassifikation bedenklich nahegekommen sei. An Schellings Naturphilosophie wies er mithin eine zunehmende Tendenz zur Verwechslung von ideeller Konstruktion und Tatsachenbeschreibung auf. Dies gehe damit einher, dass die moderne Verfügbarmachung der Natur – besonders extrem bei Carl Ritter ausgeprägt – sich hier auf andere Weise wiederhole: Im Schatten der schellingschen Identitätsthese werde sie zum immer schon Vertrauten und Bekannten herabgesetzt, das den Menschen nicht eigentlich als ein Anderes herausfordern könne. Specht plädierte schließlich dafür, sich weniger an die Naturphilosophie als vielmehr an die Kunst der Romantik zu halten. Denn sie nehme die Natur stärker als etwas Eigenständiges und die menschliche Neugier bleibend herausforderndes Fremdes, ja auch Bedrohliches in den Blick. Eine künstlerisch-ästhetische Perspektive, die keine Wissenschaft sein wolle, könne gerade in Zeiten der Klimakrise den Respekt vor der Alterität der Natur lehren.

Solches Alteritätsbewusstsein im Blick auf die Natur ist den Positionen fremd, die Frederike Middelhoff (Universität Frankfurt) in ihrem Vortrag „Neue Theorien des Pflanzlichen: Potentiale und Probleme gegenwärtiger Phyto-Romantisierungen“ vorstellte. An den Philosophen Emanuele Coccia und Michael Marder, die beide unter Rückgriff auf Autoren wie Schelling und Oken ein revolutionäres Andersdenken über Pflanzen initiieren wollen, monierte Middelhoff insbesondere einen eklektizistisch-selektiven Zugriff auf die Quellentexte. Coccia behaupte etwa, dass Schelling den Pflanzen ein Selbstverhältnis zugeschrieben habe und Marder entnehme seiner Oken-Lektüre die These einer diesen innewohnenden Vernunft. Beides aber, so zeigte Middelhoff auf, gehe an den romantischen Referenzautoren vorbei, die an der Differenz zwischen pflanzlichem und menschlichem Leben festgehalten hätten. Ein Gewinn dieser Aneignung romantischer Naturphilosophie entdeckte Middelhoff im ökologischen Potenzial einer ästhetischen Aufwertung des Vegetativen. Neben der offensichtlichen Fehlinterpretation von Quellentexten erweist sich aber auch Coccias und Marders Entdifferenzierungsstreben als irrlichtern: Wer alle Unterschiede zwischen humanem und pflanzlichem Leben einebnen will, unterschlägt, dass ethische Forderungen nach einer ökologischeren, naturverbundeneren Lebensweise immer noch von Menschen gegenüber Menschen erhoben werden.

Die in Benjamin Spechts Vortrag empfohlene Begrenzung des Aktualitätsanspruchs einer romantisierenden Naturbetrachtung auf den Bereich der Kunst wurde in Jens Ole Schneiders Präsentation (FSU Jena) indirekt zum Thema. Unter der Überschrift „Entlastung vom Ich“ fokussierte Schneider „Nature writing und monistisches Selbst bei Ulrike Draesner“. Dabei verwies er zunächst auf Draesners Verständnis von Literatur als einer Anwältin des wissenschaftlich Unsichtbaren. Als unsichtbar oder unsagbar werde dabei die Koinzidenz von Ich und Natur markiert, die im übergreifenden Zusammenhang des Lebens verbunden seien, an dessen Einheit sich Literatur aber nur prozesshaft annähern könne. Entlastungen vom Ich, das sich zumeist in Differenz zur Natur auch des eigenen Körpers wisse, verschafften epiphane Momente des Einsseins, worin Schneider einen allerdings ins Innerweltliche geblendeten Rest von Metaphysik und mithin Analogien zu neoromantischen Positionen (Hoffmansthal, Mann) um 1900 entdeckte. Schließlich führte er Draesners Poetik anhand des Gedichts „What is poetry?“ vor Augen. Es schildert den Tagesablauf einer Frau, die im „Mutti-Tasking“ gefangen ist und schließlich eine plötzliche Entlastung erfährt, als sie sich selbst im Spiegelbild eines Teichs begegnet. Draesner, so Schneider, präsentiere den Körper einmal als normierten Körper des Alltags und dann als befreiten Körper des epiphanischen Augenblicks, der aber das Subjekt an die Grenzen des Sagbaren führe.

Die bei Draesner sich andeutende Entgegensetzung eines von der Natur entfremdeten und eines mit der Natur verschmelzenden menschlichen Selbst wurde in Hartmut Rosas Vortrag (FSU Jena) als spezifisch moderne Grundspannung beschrieben. Unter der Überschrift „‚We are made of star stuff‘. Das Comeback romantischer Motive in zeitgenössischen Naturkonzeptionen“ entwarf er zunächst das düstere Panorama einer durch aggressive Verfügbarmachung der Natur dominierten Moderne. Es herrsche ein regelrechter Zwang zur dauernden Effizienzsteigerung, dem die Natur als Ressource zum Opfer falle. Im Anschluss an Charles Taylor verwies er auf ein um 1800 aufkommendes romantisches Gegenmodell, das auf die Aufhebung ontologischer und epistemologischer Dualismen gesetzt und stattdessen eine ursprüngliche und durchaus auch (!) realistisch zu verstehende Verbundenheit zwischen Subjekt und Natur beschworen habe. Diese werde in Erfahrungen der Resonanz manifest, aus denen sich ein mediopassivisches Verhältnis zur Natur gewinnen lasse. Anhand von mannigfachen Beispielen aus Wissenschaft, Kunst und Alltagspraxis führte Rosa vor Augen, dass die damit anvisierte Überwindung des durch die Aktiv/Passiv-Spaltung dominierten Naturverhältnisses eine verbreitete Gegenwartssehnsucht darstellt. Die Frage aber, wie sich eine primär durch Resonanz, durch das Hören auf die „Stimme der Natur“ geleitete Praxis gesellschaftlich durchsetzen solle, blieb am Ende offen.

Solveig Nitzke (TU Dresden) sprach daraufhin über „Poetische Störfälle. Wissenschaft und Waldromantik im 21. Jahrhundert“. Sie stellte heraus, dass die sogenannte „Waldromantik“ als Reaktion auf die zunehmende Vernutzung der Wälder im 19. Jh. aufkam, also auch ein Gegenmodell gegen Modernisierungserfahrungen darstellte. Die poetisch erschaffenen imaginären Wälder als Sinnbilder einer den Menschen in sich begreifenden intakten Natur seien aber nicht ‚nur‘ als Imaginationen anzusehen. Das jedenfalls machte Nitzke anhand aktueller (populär-)wissenschaftlicher und literarischer Fortschreibungen waldromantischer Motive deutlich. So nehme die seit den 1990er Jahren für die unterirdischen mykorizalen Symbiosebeziehungen aus Pilzfäden und Wurzeln verwendete Bezeichnung „wood-wide-web“ das Internet als Metapher für das natürliche Phänomen einer komplexen, unsichtbaren Vernetztheit, die aber real sei. An aktuellen Publikationen von Suzanne Simard, Peter Wohlleben, Jill Lepore u.a. zeigte Nitzke, wie das zwischen Bäumen bestehende Beziehungsgeflecht zur Inspirationsquelle ganzheitlicher Selbst- und Weltdeutungen auch im Sinne einer sorgevolleren, umweltbewussteren Lebensweise wird.

Dass der in solchen Diskurszusammenhängen häufig ergehende Ruf  „Zurück zur Natur“ jedoch mit Vorsicht zu genießen ist, zeigte Martin Müller (HU Berlin) anhand von „Rettungsimperativen zwischen neoromantischer Ökologie und Geo-Engineering“ auf. Beide Rettungsimperative forderten die Rückkehr zu einer so gar nicht mehr existenten Natur: Die einen strebten nach der Revitalisierung einer romantisierten Naturharmonie, die in Form von Permakulturen oder Waldgärten real werden solle, ohne dass dies aber ein Lösungsweg im globalen Maßstab sein könne. Die anderen glaubten die Natur durch gezielte technische Maßnahmen, wie stratosphärische Aerosol-Injektion, in ein längst verlorenes Gleichgewicht zurückversetzen zu können, was im Einzelnen mehr Science Fiction als Wissenschaft sei. Müller plädierte demgegenüber dafür, die Vorstellung eines harmonischen Naturzustands ebenso über Bord zu werfen wie den prometheischen Machbarkeitswahn und sich mit den mittlerweile unausweichlich gewordenen Klimawandel-Folgen zu konfrontieren. Zugleich aber schärfte er abschließend ein: „Es gibt eine Pflicht zur Hoffnung.“

Wurden die Gefahren einer sich gegen drängende Herausforderungen immunisierenden Romantisierung der Natur so am Ende des Workshops noch einmal deutlich herausgestellt, liegt der Gewinn einer imaginierten Integrität von Mensch und Natur vielleicht darin, ein wenig Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten zu stiften. Denn ohne die Aussicht, dass die Dinge zumindest ein Stück weit besser werden können, wird sich niemand zum Handeln motivieren lassen. „For decades scientists and activists have tried to convince us with predictions and statistics“, schreibt in diesem Sinne Andrea Wulf, „but somehow they don’t change our behavior. Most of us understand on an intellectual level what’s at stake, but that doesn’t seem to be sufficient.“ Es brauche dafür „potent visualization[s] that we’re part of nature“, wie sie die Romantik geschaffen habe.