Christoph Jamme und Stefan Matuschek , 01.06.2020

Die alte Frage: Hölderlin – ein Romantiker?

Ein Gespräch von Christoph Jamme und Stefan Matuschek

Stefan Matuschek: In der Geburtstagsessayistik zu Hölderlins 250. hat mir ein Satz von Navid Kermani gefallen: „Der Abgrund, der sich [bei Hölderlin] auftut, ist metaphysisch, aber kann auch ein ablehnender Brief von Schiller sein.“ Kermani trifft damit etwas, meine ich. In dem hochtönig Allgemeinen drückt sich bei Hölderlin zugleich eine konkrete individuelle Not aus, die Not des jungen Intellektuellen, der von sich und seiner Zeit Großes erwartet und nur Elendes erfährt. Das reicht über das Individuum hinaus und betrifft die Generationserfahrung nach der Französischen Revolution. Sie erklärt die persönliche Intensität, mit der Hölderlin das Weltschicksal beschwört. Vor diesem Hintergrund wird die Ablehnung durch das verehrte und arrivierte Vorbild Schiller dann der reale Abgrund, der in den Hymnen die Dimension der götterfernen Verlassenheit annimmt. Kannst Du dem folgen oder hältst Du mich jetzt für küchenpsychologisch trivial?

Christoph Jamme: Etwas küchenpsychologisch schon, aber es trifft auch etwas Wahres, im Biografischen wie im Theoretischen. Hölderlin spricht ja selbst explizit von der Überwindung der „Trennungen“, in denen wir nicht nur „denken“, sondern auch „existieren“. Die Erfahrung von Verlust und Scheitern prägt ihn seit den frühen Verlusten gleich zweier Väter bis hin zum Tod von Diotima und man kann sein Denken als den Versuch verstehen, der (auch historischen) Verlusterfahrung einen Sinn zu geben, und das dadurch, dass er versucht, wie Dieter Henrich nicht müde wird zu betonen, die konfligierenden Tendenzen des Lebens zu versöhnen.

S. M.: „Versucht, zu versöhnen“ ist etwas missverständlich, finde ich. Zwar ist alles bei Hölderlin von der Sehnsucht nach Versöhnung beherrscht. Doch drücken seine Texte diese Sehnsucht am kräftigsten ex negativo aus, durch die Klage über die Unversöhntheit. Eichendorffs Mondnacht ist ein Beispiel für einen poetischen Versöhnungsversuch: Versöhnung von Natur- und Transzendenzerlebnis. Für Hölderlin ist etwas anderes charakteristisch: der Leidensausdruck. „Aber die Sonne des Geists, die schönere Welt ist hinunter / Und in frostiger Nacht zanken Orkane sich nur.“ Das ist der Hölderlin-Sound. Er ist ein weltschicksalhafter Trauergesang, der dann ergreift, wenn man nicht an das Weltgeschick überhaupt denkt – das ist allzu abstrakt, alles und nichts –, sondern an persönliche Verlusterfahrung, Aussichtslosigkeit und Trostflucht in die wunderbare, ‚große‘ Versöhnung.

C. J.: Leiden und Versöhnung gehören in der Tat zusammen, es gibt für Hölderlin (nicht von Beginn an, aber spätestens mit dem 2. Band des Hyperion-Romans) keine Versöhnung ohne Schmerz und Streit. „Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder“, heißt es am Schluss seines Romans. Zu Beginn der Arbeit am Roman hieß es noch, die Versöhnung von Natur und Selbst, Objekt und Subjekt sei möglich, aber weder auf theoretischem noch auf praktischem Weg, sondern allein ästhetisch realisierbar – durch Schönheit. Sie – (neu-)platonisch inspiriert – sei der einzige Weg zur Wiedergewinnung der göttlichen Schönheit und Weisheit. Doch dann dämmert Hölderlin, dass diese Schönheit, die immer auch eine Vision der menschlich-göttlichen Gemeinschaft beinhaltet (eine „schönere Geselligkeit als nur die ehernbürgerliche“), nicht unmittelbar erreichbar ist. Dialektisches Denken entsteht (übrigens gleichzeitig bei seinem Freund Hegel): nur im und durch den Zwist, die Antinomien der Welt ist Vereinigung, Versöhnung möglich. Schönheit, so hat es Otto Pöggeier formuliert, wird zu einem tragischen Geschehen, oder – mit Wolfgang Binder gesprochen – das Absolute erscheint in gebrochener Gestalt. „Das Reine kann sich nur darstellen im Unreinen“, schreibt Hölderlin in einem Brief. Diese Einsicht hängt natürlich auch etwas mit den historisch-politischen Umwälzungen um 1800 zusammen.

S. M.: Was Du so beschreibst, müsste man als Abkehr von Schillers Konzept der „Ästhetischen Erziehung“ bezeichnen, Abkehr von einem nicht tragischen, sondern Versöhnung und Harmonie vermittelnden Schönheitskonzept. Ist das so? Wendet Hölderlin sich von Schillers Ästhetik ab? Und wohin gelangt er dann? Zu einer mit Hegel vergleichbaren Dialektik? Was Du zitierst, klingt für mich nicht nach Dialektik. Dass Versöhnung nur als Gegensatz zum Zwist, das Reine nur als Gegensatz zum Unreinen gedacht werden kann: Das ist keine Dialektik, sondern das, was bei Fichte und Schiller „Wechselbestimmung“ und „Wechselwirkung“ heißt. Bleibt Hölderlin nicht eher diesem Konzept verbunden? Das allerletzte Bild im Hyperion stellt das „ewige Leben“ genau nach diesem Konzept vor: „Es scheiden und kehren im Herzen die Adern“ – ein ewiges Hin und Her, Wechselwirkung. Wo bleibt da die für Hegels Dialektik kennzeichnende „Aufhebung“?

C. J.: Ich hänge nicht an Begriffen, aber beim jungen Hegel haben wir uns angewöhnt, die Formel von der „Verbindung der Entgegensetzung und Beziehung“ bzw. von der „Identität der Identität und der Nichtidentität“ als Keimzelle der späteren Dialektik zu bezeichnen. Und bei Hölderlin begegnet ganz Analoges. So bestimmt er in den Homburger Aufsätzen zur Dichtungstheorie das poetische Ich als höchste Einheit der Einheit und der Trennung. Das Gedicht ist simultane Innigkeit und Unterscheidung. Der Grund des Gedichtes ist die Einheit von „idealischer Behandlung“ (d. i. Vereinigung) und „Ausdruck“ (d. i. Trennung). Die „Einheit des Einigen“ ist die Einheit von Einheit und Entgegensetzung, m. a. W. eine Vereinigung durch Entgegensetzung. Hier liegt auch die entscheidende Differenz zu Schiller: Hölderlin (wie auch Hegel) stimmen darin mit Schiller überein, dass sie die Differenz zwischen Natur und Vernunft anders als Kant als historisch entstandenes Dilemma der Aufklärung und somit als veränderbaren Zustand begreifen. Die angestrebte Einheit selbst allerdings wird von ihnen nicht anthropologisch mit dem Spieltrieb, sondern ontologisch mit Hilfe von Platons Ideenlehre und Spinozas Substanzmetaphysik begründet. Aber wir sind in Gefahr, Hölderlin zu einem waschechten Philosophen zu machen, was er – ich möchte fast sagen: zum Glück – nicht war. Er war mindestens ebenso sehr ein Dichter, aber ein solcher – was die George-Schule und in ihrem Gefolge auch Heidegger übersahen – mit politischen Interessen und Zielen. Hölderlin überträgt nämlich seine am Beispiel der Dichtung entwickelte Anschauung vom notwendigen „Herausgehen“ des „Einen Seyns“ in die stoffliche Welt seiner „Fühlbarkeit“ auf die Geschichte des Vaterlandes, in dessen Phase des Untergangs die Chance einer umfassenden Erneuerung gelegen ist. Das Mögliche wird wirklich, indem das Wirkliche sich auflöst. Das ist nichts anderes als die Revolution.

S. M.: Vom einsamen metaphysischen Seher, wie die George-Schule und Heidegger Hölderlin gedeutet haben, zurück zum literaturgeschichtlichen und politischen Kontext: da folge ich Dir gern. Es hilft, meine ich, wenn man Hölderlin dabei nicht nur im Zusammenhang mit den Tübinger Stiftlern und Schiller sieht, sondern im weiteren, europäischen Horizont. Mehrere charakteristische Parallelen zeigen sich etwa zum italienischen Dichter Ugo Foscolo. Sie beide politisieren den Briefroman: Der Hyperion im Blick auf die Französische Revolution und deren Gewalt, Foscolos Jacopo Ortis im Blick auf Napoleons ‚Verrat‘ an der Republik Venedig, die der siegreiche französische General aus strategischem Interesse den Habsburgern überlassen hatte. Beide Werke machen das in der Gattung Briefroman entwickelte empfindsame zum politischen Leid. Der subjektive Schmerz wird zur Anklage der Gesellschaft, zur objektiven Anzeige ihres elenden Zustands. Eine weitere Parallele liegt in den Versdichtungen der beiden. Sie sind formal und in den Motiven klassizistisch, enthalten aber zugleich alle signifikanten Neuerungen der romantischen Literatur: Die Subjektivierung und Ästhetisierung der Religion sowie den Richtungswechsel in der Mythologie, d. h. deren Aufladung mit einer Erlösungserwartung, wodurch aus der Altertumskunde ein Zukunftsprojekt wird. Foscolos Grazien-Gedichte sind wie Hölderlins Hymnen eine Neue Mythologie. In ihnen herrscht dieselbe Spannung aus der Klage über den Verlust und der Sehnsucht nach der Wiedergewinnung des Heilszustands, den der antike Mythos für beide darstellt. Durch Vico hatte Foscolo dabei einen ähnlichen mythos-philosophischen Hintergrund wie Hölderlin durch Herder und Schelling. Beide haben voneinander nichts gewusst, nichts gekannt. Doch zeigt sich in beiden dasselbe Phänomen einer klassizistischen Romantik, das in der deutschen und der italienischen Literatur um 1800 hervortritt. Hätte Heidegger Foscolo gelesen, hätte er nicht so ohne weiteres von der „geschichtlichen Einzigkeit“ von Hölderlins Dichtung sprechen können. Freilich ist jedes individuelle Werk in gewisser Hinsicht ‚einzig‘. Doch versteht man nichts besser, wenn man Zusammenhänge und Vergleichbarkeiten ausblendet und einzelne Dichter stattdessen emphatisch singularisiert. Die Hölderlin-Diskussion war wohl in besonderer Weise davon betroffen.

C. J.: Die Antike als Zukunftsprojekt, und das nicht in einem nationalen, sondern einem gesamteuropäischen Kontext – das ist ein wunderschönes Stichwort zur Verortung Hölderlins! Der Vergleich mit Foscolo kann hier tatsächlich Vieles erhellen. Ein wie vielschichtiges Werk allein nur der Hyperion ist und dass man neben dem antiken den neugriechischen Kontext nicht vernachlässigen darf, hat gerade Jürgen Link in seinem neuen Buch gezeigt. Mit vielem hat sich die Germanistik schwergetan, vor allem lange mit Hölderlins politischem Engagement. Und auch bis heute mit seiner literaturgeschichtlichen Einordnung. Natürlich steht er in Vielem zwischen Klassik und Romantik, aber in einem Punkt muss ich Dir doch ein letztes Mal vehement widersprechen: Hölderlins Gebrauch des Mythos ist von Goethes mythischem Sprechen (z. B. in den Römischen Elegien) genau so weit entfernt wie von einem Friedrich Schlegel. Hölderlin gehört nicht (oder nur am Rande) in das romantische Projekt einer „Neuen Mythologie“. Was ihn davon trennt, war das ekstatische Ergriffensein von den Göttern, an deren reale Präsenz er glaubte, die aber – und das ist das Besondere – in Zeit und Geschichte verstrickt waren. Zu keiner Zeit ging es ihm um Bildungsdekor oder l‘art-pour-l‘art (nur „spielende“ Dichter hat er im Gegenteil hart kritisiert), er strebte nicht weniger an als eine „Neue Welt“, eine Utopie, die im Mangel aufscheint: „O wann, wann / schon öffnet sie sich / die Flut über die Dürre“, wie es im Empedokles heißt. Erste Bedingung dieser neuen gesellschaftlichen Organisation ist es, „dass keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden“, wie er an den revolutionären Freund Sinclair schreibt. Aber alle menschliche Weisheit alleine reicht zur Erreichung dieses Zieles nicht aus: „Ein Weiser mag mir manches erhellen; wo aber / Ein Gott noch auch erscheint, / Da ist doch andere Klarheit.“ (Friedensfeier). Damit sind wir dann doch wieder, ob wir es wollen oder nicht, bei Heidegger: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“

S. M.: Das ist ein fulminantes Schlusswort – doch eines, das mir Hölderlin sehr ins Numinose entrückt. Vielleicht aber steht er ja genau da. Christoph: Hab besten Dank für dieses Hölderlin-Geburtstagsgespräch.

Das Gespräch zwischen Christoph Jamme und Stefan Matuschek wurde im Juni 2020 per E-Mail geführt.

 

Der Beitrag ist unter dem folgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59078