Yvonne Al-Taie , 04.11.2023

„Die Gegenwart der Romantik“

Bericht zur Jahrestagung der Friedrich Schlegel-Gesellschaft vom 18.–20. September 2023 in Greifswald

In den Geschichts- und Literaturwissenschaften ist in Anschluss an die Thesen Reinhard Kosellecks in jüngster Zeit vermehrt die Frage diskutiert worden, ab wann ein Bewusstsein von der Gegenwärtigkeit der eigenen Zeit einsetzte und wie sich das Verständnis von einer historischen Gegenwart auszubilden begann. Während unter Rekurs auf Koselleck die Zeit um 1800 für das Einsetzen eines dezidiert historischen Denkens in Anspruch genommen wurde, haben jüngere Arbeiten den Beginn eines Gegenwartsbewusstseins auf die Zeit um 1700 vorverlegt. [1] Andere Forschungslinien interessieren sich unter dem Stichwort der „Gegenwart der Romantik“ wiederum für das ‚Gegenwärtig-Bleiben‘ romantischer Wissens- und Traditionsbestände. So untersucht etwa das Jenaer ‚Modell Romantik‘ [2] den Fortbestand einzelner romantischer Denkfiguren, Motive oder Themen, die losgelöst von den größeren ideengeschichtlichen Zusammenhängen, in denen sie entstanden sind, neue Verbindungen eingehen und Bedeutungsverschiebungen erfahren. Dabei stellt sich die Frage, wie die Denkfiguren der Romantik für je andere Zeitprobleme adaptiert worden sind und weiterhin adaptiert werden. 
An diese Debatten schließt die von Klaus Birnstiel und Eckhard Schumacher organisierte Jahrestagung der Friedrich-Schlegel-Gesellschaft an, die vom 18. bis 20. September 2023 im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald stattfand. Der Tagungstitel Die Gegenwart der Romantik markiert mit dem doppelt zu lesenden Genitiv diese Doppelperspektive, die einerseits nach den Gegenwartskonzeptionen fragt, die die Epoche der Romantik selbst für ihre Zeit ausbildete, und andererseits nach der Aktualität romantischer Denkfiguren in späteren Epochen. Mit beiden Perspektiven haben sich die Beiträge der Tagung auseinandergesetzt.

Wie die Organisatoren der Tagung, Klaus Birnstiel und Eckhard Schumacher (beide Greifswald), darlegten, stand im Zentrum der Tagung die Frage, wie die Romantik als zweiter Impuls der Moderne (Stefan Matuschek) ihr eigenes Zeitalter durchdachte und sich in Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart konstituierte. Drei Themenkomplexe waren leitend für die Beiträge der Tagung: (1) Zeitgeschichts- und Gegenwartsbegriffe, (2) literarische Schreibprozesse und publizistische Interventionsformen, die ein Innovationspotential gegenwartsbezogener Schreibweisen entfalteten und das Ziel verfolgten, an der eigenen Gegenwart teilzunehmen, (3) sowie die Frage, welche Aktualisierungen die Romantik in den veränderten epistemischen Konstellationen späterer Zeiten und mithin auch unserer eigenen Gegenwart erfahren hat. Diese Themenbereiche wurden anhand exemplarischer Zugänge und ausgewählter Gegenstände in den insgesamt vierzehn Vorträgen diskutiert und vertieft.

Eine erste Gruppe von Beiträgen beschäftigte sich mit Theologie, Poetik und Ästhetik der Frühromantik bezogen auf die darin enthaltenen Gegenwartskonzeptionen. Anhand von theologischen, poetologischen und literarischen Arbeiten Schleiermachers, Friedrich Schlegels und Novalis’ rekonstruierte Karl Tetzlaff (Halle/Saale) ein Konzept der erfüllten Gegenwart, das in einem Ewigkeitshorizont eingebettet ist und in dessen Zentrum der Augenblick als Moment einer unsagbaren Totalität steht, dem durch sinnbildliche Darstellung Dauer verliehen werden soll. Welche poetologischen Konzeptionen von Gegenwart die Romanpoetiken Friedrich Schlegels und Novalis’ ausgehend von den epistemologischen Denkfiguren von Tableau, Tafel und Reihe entfalteten, arbeitete Yvonne Al-Taie (Kiel) heraus. Im Anschluss an diese Wissensfiguren entwerfen die Poetiken ein Zeitgefüge, das Gegenwart in einem auf Unendlichkeit gestellten Zeithorizont zwischen Vergangenheit und Zukunft verortet. Den Gegenwartskonzeptionen der frühromantischen Ästhetik war Heide Volkenings (Greifswald) Beitrag gewidmet, der anhand der frühen Schriften Friedrich Schlegels aufzeigte, wie sich Fragen der Gegenwartskunst in ihrer Verhältnisbestimmung zu Vergangenheit und Zukunft entlang der Begriffsdichotomie charakteristisch/charakterlos entfalteten. Wurde der Kunst der Moderne im Gegensatz zur Antike Charakterlosigkeit bescheinigt, so begriff man Charakterlosigkeit wiederum als Vorteil der Vielseitigkeit, von der ein Fortschritt in der ästhetischen Bildung erwartet wurde. Das Charakteristische, so resümierte Volkening, beschreibe in der Romantik das schwer zu entziffernde Signum der Gegenwart. Neben Gattungspoetik und Ästhetik konzentrierte sich der Vortrag von Raphael Stübe (Frankfurt am Main) auf den Strudel als Denkfigur der Beschleunigung. Anhand ausgewählter literarischer Texte von Wackenroder, Brentano und Eichendorff beschrieb Stübe den Strudel als eine Beschleunigungsfigur, die er mit Hartmut Rosas Konzept der adaptiven Stabilisierung zu konzeptualisieren versuchte.

Andere Vorträge rückten die gesellschaftlichen Bedingungen, die zur Herausbildung eines dezidierten Gegenwartsbewusstseins in der Romantik führten, in den Vordergrund. So arbeitete Johannes Lehmann (Bonn) ein Modell der von jedem möglichen empirischen Beobachter entsituierten Beobachtung der eigenen Gegenwart heraus, das sich in unterschiedlichen Konstellationen zu etablieren begann  – u. a. in der medizinischen Diagnostik und der Polizey –, um davon ausgehend die Reflexion der strukturellen Unbeobachtbarkeit der eigenen Gegenwart im Roman der Romantik (etwa in E.T.A. Hoffmanns Elixiere des Teufels) aufzuzeigen. Ein kulturpolitisches Instrument der Gegenwartsintervention war die Akademieausstellung, die für das Jahr 1810 mit Blick auf die Werke Caspar David Friedrichs sowie die sich daran anlagernden publizistischen Debatten, u. a. in Kleists Berliner Abendblättern, von Ralf Klausnitzer (Berlin) betrachtet wurde. Antonia Eder (Karlsruhe) zeigte am Beispiel des Roman des Freiherrn von Vieren, einem von Eichendorff, Chamisso, Salice-Contessa sowie de La Motte Fouqué gemeinsam bearbeiteten Projekt, wie Experimente kollaborativen Schreibens Konzepte der singulären Autorschaft herausforderten und mit der Offenheit und Prozessualität des Schreibprozesses Gegenwartsreflexion im Roman stattfinden ließen. Der Beitrag von Walter Erhart (Bielefeld) weitete den Horizont am Beispiel der Reiseberichte Adelbert von Chamissos auf eine globale Perspektive. Erhart stellte Chamisso als einen Postromantiker vor, der neue Wege ging und eine poetische In-Frage-Stellung des Eurozentrismus vorlegte, die die Romantik einem weltweiten Praxistest aussetzte. Chamissos ethnographische Studien seien von einer romantischen Sicht auf die Südseevölker getragen; sein Zugang zur Volkspoesie erfolge dabei aber nicht wie bei Achim und Brentano oder den Grimms über Bücher und Bibliotheken, sondern vor Ort im Pazifik.

Neben den Gegenwartskonzeptionen der programmatischen und fiktional-literarischen Schriften der Romantik wurden auch Textsorten der Alltagskommunikation und der Buchführung betrachtet. So rekonstruierte Martina Wernli (Frankfurt am Main/Zürich) am Beispiel von Dorothea Schlegels zwischen 1801 und 1803 geführten Notizbuch eine Pragmatik der Gegenwart, die ökonomische Buchführung, Tagebuchnotizen und Vorbereitung literarischer Werke nebeneinander stellte. Cosima Jungk (Mainz) untersuchte die Zeitdiagnosen in den späten Briefen Friedrich Schlegels im Kontext seiner Zeitschriftenprojekte Neues Museum sowie Concordia und rekonstruierte ein kulturpolitisches und ein eschatologisches Gegenwartskonzept, die beide den Denkfiguren vom ‚wildgewordenen Zeitgeist‘ und der ‚Krankheit des Zeitalters‘ folgten. Jochen Strobels (Marburg/Mainz) Vortrag war den Briefen August Wilhelm Schlegels gewidmet. Er betrachtete sie als Reflexions- und Interventionsform der Gegenwart und richtete dabei seine Aufmerksamkeit auf Formen des Durchbrechens von Linearität, auf die Dynamisierung der Zeit sowie auf narrative Strategien der Verzeitlichung in den Briefen, die ebenso Unmittelbarkeitseffekte erzeugten wie sie eine Zukunftgerichtetheit artikulierten.

Eine weitere Sektion von Beiträgen beleuchtete Aktualisierungsformen romantischer Traditionsbestände seit dem frühen 20. Jahrhundert. Moritz Strohschneider (München) befragte die katholisch-politisch ausgerichtete Publizistik Hugo Balls und Rudolf Borchardts auf ihre Adaption von Denkfiguren der katholischen Romantik, wobei er insbesondere eine Geschichtskonzeption, die eine mit Luther beginnende Verfallsgeschichte entwirft, als romantische Bestände in den geschichtsphilosophischen Entwürfen der beiden Publizisten identifizierte. Ein politisches Interesse an der Romantik skizzierte auch Daniel Neumann (Jena) für den französischen Poststrukturalismus, der sich in der Nachfolge der nonkonformen, rebellischen Jenaer Frühromantik sieht und sich noch bei Gegenwartsautoren wie Reinald Goetz findet. Formen der Adaption romantischer Erzählverfahren in der Gegenwartsliteratur zeigte Nico Imhof (St. Gallen) am Beispiel der Romane Hysteria und Spitzweg von Eckhart Nickel auf, die als Aktualisierungen einer romantischen Darstellungsform zu begreifende artifizielle Chronotopoi ausbilden.

Methodisch rekurrierten die Beiträge auf die geschichts- und sozialwissenschaftliche Theoriebildung, wobei sich höchst unterschiedliche methodische Ansätze als anschlussfähig erwiesen. 

Ulrich Breuer (Mainz) und Dirk von Petersdorff (Jena) bestimmten in ihren Abschlussstatements die Epoche der Romantik als eine historische Phase, die von der Erfahrung des Bruches, der Diskontinuität, der Zerrissenheit und der Dissoziation geprägt war. Dabei betonten sie die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse der Zeit um 1800, für die Erfahrungen wie die Mainzer Republik prägend waren. Folge der politischen Entwicklungen im Anschluss an die Französische Revolution war die Umstellung der Gesellschaft auf eine andere soziale Differenzierung (Niklas Luhmann). Vor diesem Hintergrund weitreichender sozialer und politischer Umbrüche wurde auch der Begriff des Fortschritts mit einem emphatischen Gefühlswert aufgeladen. Daraus resultiere, wie Breuer hervorhob, ein gesteigerter Gegenwarts- bzw. Präsenzbedarf, der als ein Signum der Moderne zu betrachten sei. Gesucht wurde entsprechend eine mit einem gesteigerten Enthusiasmus und einem erhöhten Sinnbedarf einhergehende „Evidenz im Augenblick“. In dieser historischen Umbruchphase seien zugleich, so von Petersdorff, vermehrt Versuche unternommen worden, das Subjekt zu stabilisieren, indem der Zeiterfahrung der Dauer neue Aufmerksamkeit zugekommen sei. Man könne es als einen Abwehrmechanismus gegen ein Zuviel an Gegenwart begreifen, dass eher theologisch konnotierte Zeitkonzeptionen des Absoluten und des Unendlichen als eschatologische oder zeitenthobene Denkfiguren an Bedeutung gewinnen. Ergänzend dazu beobachtete Breuer, dass die Poesie in dieser historischen Konstellation die Funktion eines Therapeutikums erhalten habe, deren Formen ebenso chaotisch wie stabil sein konnten.

Dieses Spannungsfeld zwischen Augenblicksemphase und Sehnsucht nach Dauer, zwischen Präsenzbedarf und Unendlichkeitsentwürfen spiegelt sich nicht zuletzt in den ganz unterschiedlichen Weisen der Romantik wider, Gegenwart zu denken und in die eigene Zeit zu intervenieren. Ulrich Breuer verwies auf die beiden Extrempositionen innerhalb der Konzeptionen von Gegenwart, die in den Beiträgen diskutiert wurden, und die von der Konzeptualisierung der Gegenwart als Alltag einerseits bis hin zur Emphatisierung des Gegenwartsbegriffs andererseits reichten.

Wie Dirk von Petersdorff in seinem Abschlussstatement beobachtete, hätten Fragen der Zukunft auf der Tagung erstaunlich wenig Raum gefunden, obwohl das Projekt der Frühromantik einschließlich des Athenaeum ein dezidiert zukunftsgerichtetes Projekt gewesen sei. Von Petersdorff führte diesen Befund auf den Umstand zurück, dass sich die utopischen Zukunftsvisionen der Frühromantik in unserer Gegenwart als wenig anschlussfähig erweisen. 
Ein Fragen nach der Gegenwart im Sinne einer Aktualität der Romantik, so von Petersdorff, müsse mithin ein Fragen nach dem selektiven Rückgriff auf die historische Romantik sein. Für das Verständnis unserer Gegenwart bleibe relevant, welche Elemente der historischen Romantik rezipiert und aktualisiert würden und welchen keine Beachtung geschenkt werde. Die Aneignungsprozesse romantischer Kulturbestände und Ideenreservoirs seien von einem eklektizistischen Moment bestimmt, das romantische mit nicht-romantischen Elementen zu neuen Sinnkonstruktionen verbinde. Aktuell ist es die Erfahrung einer Krisen-Zeit, die das gesteigerte Interesse an früheren Umbruchphasen bestimmt. Ein Bewusstsein nicht nur für das, was dabei gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt, sondern auch für das, was unbeachtet bleibt – die utopische Zukunftsemphase, mit der die Romantiker:innen auf diese Erfahrungen reagierten – vermag so nicht zuletzt das Verständnis für unseren Umgang mit den multiplen Krisen unserer Zeit zu schärfen.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte des Zeitwissens im 17. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2014; sowie zur daran anschließenden literaturwissenschaftlichen Debatte: Johannes F. Lehmann: Editorial: ‚Gegenwart‘ im 17. Jahrhundert? Zur Frage literarischer Gegenwartsbezüge vor der ‚Sattelzeit‘, in: IASL 42 (2017), H. 1, S. 110–121.

[2] Vgl. Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek: Romantik erkennen – Modelle finden. Zur Einführung, in: Romantik erkennen – Modelle finden, hg. von Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek, Paderborn 2019, S. 1–13.