Charlotte Nell , 06.09.2021

​Die Liebe als Spielball der Natur?

Einige Überlegungen bei der Lektüre von Sebastian Foltins „Romantische Liebe im Licht neuerer Naturphilosophie“

Bei der Erklärung der Liebe muss entweder ein physikalisches Phänomen oder ein historisches Faktum angenommen werden. Ist es Sympathie, wie der dumme Magnet das rohe Eisen anzieht? Oder ist eine Vorgeschichte vorhanden, deren dunkles Bewusstsein uns blieb und in uner-klärliche Anziehung und Abstoßung sich ausspricht? [1]

Die Frage wie sich die Liebe wissenschaftlich erklären lässt, beschäftigte nicht erst den „entlaufenen Romantiker“ Heinrich Heine. Vielmehr ist die Liebe nicht nur Gegenstand, sondern doch auch ein Ursprung systematischen Denkens an sich, welches sich doch gerade auch auf eine Liebe – zur Weisheit – gründet. Im obigen Zitat scheint Heine allerdings über zwei zu seiner Zeit gängige Erklärungsmodelle und vielleicht sogar über das Unterfangen, Liebe überhaupt in einer solchen Weise „erklären“ zu wollen, zu spotten: Die deduktiv-nomologische Herangehensweise, die Liebe entweder in naturalistischer Manier mithilfe oder analog zu den Naturgesetzen auf biologische, psychische, chemische oder eben historische Prozesse als kausal wirkende, objektive Gesetzmäßigkeiten reduzieren will, schien Heine nicht vollends zu überzeugen. Die Vorstellung, dass Liebe und darüber hinaus jegliche menschliche Wahrnehmung auf eine vom Menschen und seinem Handeln ganz unabhängige bestehende Wirklichkeit, sei es als Natur, sei es als Geschichte, zurückgeführt werden könne, die dann die Akteure bis in ihre Gefühle hinein „hinterrücks“ navigiere, stellt allerdings bis heute auch noch immer eine attraktive Deutungsfolie für das Phänomen der Liebe bereit: Hormone, Persönlichkeitstypen, Beziehungsmuster oder auch Kapitalsorten werden herangezogen, um das Zustandekommen, Bestehen und sogar Scheitern von Liebesvorhaben und Liebesbeziehungen zu erklären.

Obgleich die Informationsdichte zur „Liebesfrage“ auch innerhalb der letzten Jahrzehnte noch einmal rapide angewachsen ist, scheint das ihr innewohnende Mysterium zunächst weder aus wissenschaftlicher Perspektive noch für den Alltagsmenschen selbst vollends entzauberbar zu sein – nicht zuletzt deshalb ist wohl das Interesse an ihr auch weiterhin ungebrochen. [2]

Darüber hinaus ist es offensichtlich die historische Erscheinung „Romantischer Liebe“, die noch einmal innerhalb der letzten 200 Jahre zu einer rapiden Bedeutungssteigerung des Phänomens eben unter den Bedingungen der „Moderne“ geführt hat. Gleichwohl – oder vielleicht gerade deshalb – erweist sich die wissenschaftliche Explikation des Phänomens der Liebe auch noch bis ins 21. Jahrhundert hinein als schwierig: Während auf der einen Seite in den naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen immer exaktere Informationen zu den Aktivitäten der Hirnregionen Verliebter, zu bio-chemischen „Lockstoffen“ als Kompatibilitätsmarker oder Hormonausschüttungen, die das Gefühl der Verliebtheit entstehen lassen, generiert werden, äußert sich die Philosophie demgegenüber recht zurückhaltend: „Die Philosophie spricht heute nicht mehr über die Liebe, oder nur selten.“ [3]

Sebastian Foltin, promovierter Philosoph, bemüht sich nun in seinem im Jahr 2020 erschienen Buch Romantische Liebe im Licht neuerer Naturphilosophie darum, die in der Erforschung des Phänomens ‚Liebe‘ zwischen den Einzelwissenschaften und der „Einheitswissenschaft“ Philosophie klaffende Lücke zu überbrücken: Denn während sich auf der einen Seite die Philosophie im Hinblick auf die Liebe wortkarg gibt, liegen auf der anderen Seite zwar innerhalb der verschiedenen Fachdisziplinen eine Vielzahl an Einzelbefunden vor (insb. Anthropologie, Soziologie, Ethnologie, aber auch in den Neurowissenschaften), denen es zugleich aber an einem einheitlichen Begriffsinstrumentarium und einer konsistenten Theorie der Liebe mangelt [4]. So erscheint nicht nur die Liebeserfahrung mystisch, sondern auch die ubiquitäre Verwendung der Romantischen Liebe mystifiziert. [4]

Vor diesem Hintergrund setzt sich Foltin in seinem Buch zum Ziel, eine stimmige und einheitliche Theorie „Romantischer Liebe“ zu entwickeln, in deren Rahmen die empirischen Befunde der Einzelwissenschaften geordnet und reflektiert werden sollen (S. 21). Dabei geht es ihm allerdings nicht nur um eine De-Mystifizierung der Begriffsverwendung, sondern auch des Phänomens der Liebe im Ganzen: Der Autor verfolgt dazu die Absicht „die Romantische Liebe unter Beibehaltung der naturalistischen Position begreifbar zu machen, ohne dabei das emotive Erleben des Menschen zu übergehen“ (ebd.). Die Liebe soll also mithilfe naturwissenschaftlicher Beschreibungsmöglichkeiten in ihrer Binnenstruktur, ihren Wirkmechanismen und ihrer Funktion erklärt werden, wodurch ein wissenschaftlich-nüchterner Blick auf sie ermöglicht werde (vgl. S. 20) – ohne, so der selbst formulierte Anspruch des Buches, die Erfahrungsperspektive der Akteure, also die Liebe der Liebenden selbst aus den Augen zu verlieren (vgl. S. 21). Vielmehr ist der Anspruch des Buchs, das Phänomen der Liebe – nahezu in Weberianischer Manier – allumfassend „erklären und verstehen“ zu können. (S. 18) [5]

Das Buch lässt sich grob in drei Teile gliedern: Der erste Teil widmet sich der Begriffsarbeit am „Explanandum“, also der romantischen Liebe, anhand eines als Heuristik entwickelten Modells „Romantischer Liebe“ (Kapitel 2–5). Der zweite Teil erläutert, zusammengetragen aus den Einzelwissenschaften der Anthropologie, Biologie, Neurologie und Soziologie die Funktionsweisen der romantischen Liebe als „evolutiven Mechanismus“, dessen Fortbestand durch eine selbsterzeugte Mystik der Liebe auf der Erfahrungsebene der Akteure gesichert werde (Kapitel 5–6). Der dritte Teil des Buches besteht aus einer Einbettung der bis dahin herausgearbeiteten Sinnstruktur und den Funktionsweisen der Liebe in eine allgemeine erkenntnistheoretische Reflektion, die in erster Linie die vom Autor gewählte Position eines „naturalistischen Monismus“ (S. 328) gegenüber anderen Positionen auf ontologischer, epistemologischer und heuristischer Perspektive zu behaupten und zu plausibilisieren sucht (Kapitel 7). Insgesamt scheint es Foltin neben der Entwicklung eines Modells der Romantischen Liebe, das das empirische positive Wissen der Einzelwissenschaften ernst nimmt und integriert, darum zu gehen, zugleich die Argumentationskraft der naturalistischen Position zu demonstrieren, wobei die Liebe – die bis heute ja repräsentativ für die Grenzen rationaler Erklärungskraft und für eine epistemologische „Unverfügbarkeit“ [6] steht – für solch ein Unterfangen einen hervorragenden Schaukasten abgeben kann. An dieser Stelle möchte ich die einzelnen Schritte der Argumentation Foltins rekonstruieren, bevor ich drei Anmerkungen hinzufüge, die das Buch kontextualisieren und kommentieren sollen.

Entlang von „W-Fragesätzen“, versucht Foltin das so ausufernd erscheinende Phänomen der Liebe einzugrenzen. Auf die Frage nach dem „Wo“ der Liebe wird zunächst die These einer Universalität und Ubiquität des Phänomens „Romantischer Liebe“ mithilfe einer „interkulturellen Kurzbetrachtung“ (S. 22) herausgearbeitet. Diese basiert auf ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten, die dies sowohl im geschichtlichen als auch interkulturellen Vergleich immer wieder dokumentieren und somit den Schluss zulassen, dass die Romantische Liebe – entgegen aller Relativierungen – „nicht kulturell, sondern evolutiv entwickelt und damit natürlicher Bestandteil des Menschen ist“ (S. 23). Allerdings relativiert sich dieser Befund gewissermaßen selbst, da Foltin anmerkt, dass in den referierten Studien der Begriff „Romantische Liebe relativ intuitiv und unscharf verwendet [wurde], um die unterschiedlichen Ausprägungen des Phänomens in den verschiedenen Ethnien deklarieren zu können“ (S. 25). Entsprechend gestaltet sich die zunächst formulierte These der Universalität der Romantischen Liebe tatsächlich als recht wackelig, da hier ggf. unterschiedliche Phänomene unter einen Begriff gefasst werden.

Genau dieses Problem möchte Foltin dann allerdings mit einer eigenen Begriffsbildung lösen. Im nächsten Schritt („Was bedeutet Liebe?“) bereitet er diese vor, indem er auf die klassische Differenzierung der unterschiedlichen Liebesbegriffe in der griechischen Philosophie Bezug nimmt, die idealtypisch drei unterschiedliche Liebeskonzepte (Eros als erotisch-begehrende, Philia als „konditionale“ Freundes- und Agape als selbstlose Gottesliebe) voneinander unterschiedet. Auch wenn keine dieser Formen der Romantische Liebe umfassend entspricht (vgl. S. 62), so wird vor dem Hintergrund der vorgestellten Liebeskonzepte die spezifische Genese der Romantischen Liebe, die Eigenarten aller drei Liebesmodelle aufgreift bzw. episodenhaft synthetisiert, deutlich.

Darüber hinaus arbeitet Foltin an dieser Stelle das Liebesideal der historischen Romantik, „wie es vor allem die zeitgenössische Literatur formte“ (S. 62) als eine weitere Differenzfolie heraus, mit der das „etablierte Verständnis der Postmoderne“ abgeglichen werden soll (vgl. S. 18). Neben typischen Motiven wie der Funktion der Romantischen Liebe als „Gegenwelt“ zur rationalen, bürgerlichen Kultur im Sinne einer „emotiven Revolution“, in welcher das „Herz über den Verstand [dominiert]“ (S. 66), betont Foltin allerdings auch die wirkungsgeschichtliche Begrenztheit des Romantischen Ideals und damit einhergehend eine gehörige Diskrepanz zwischen der Fassung des Ideals und einer damals wie heute gelebten Praxis (vgl. S. 75). Dieser Punkt erweist sich allerdings auch aus heutiger Sicht noch als interessant, wenn Foltin, bezugnehmend auf Sören Kierkegaard und Odo Marquard, diese Diskrepanz bereits in der „romantischen Ironie“ der Autorinnen und Autoren der romantischen Epoche selbst reflektiert sieht, welche das Ideal der Romantischen Liebe in dem Wissen proklamierten, ihr selbst nicht zum Opfer fallen zu müssen. Vielmehr ermöglichte ihnen ihre Autorenschaft sich als distanzierte Genießer dieses tragischen Schauspiels zu positionieren und sich damit in Sicherheit gegenüber deren absoluten Forderungen wiegen zu können (vgl. S. 79). Dazu zitiert Foltin aus Flauberts Madam Bovary: „So wird ihr [der Protagonistin] bewusst, dass das romantische Ideal nicht real sein kann, dass es gemeine Ironie ist“ (S. 82).

Die Beschreibungskraft des romantischen Ideals erweist sich, bezogen auf die tatsächliche Erfahrungswelt also als verkürzt und begrenzt, trotzdem hat sie, so Foltin eine zentrale Innovation hervorgebracht, die bis heute fortwirkt: Diese liegt in der Begründung der Institution der Ehe aus dem bloßen Umstand der Liebe heraus. Die Liebe stelle schließlich empirisch betrachtet bis heute die nahezu einzig sozial gebilligte Legitimationsgrundlage zur Eheschließung dar (vgl. S. 77) – während ökonomische Kalküle disqualifiziert würden. [7] An dieser Stelle fällt freilich auf, dass Foltin trotz der reichen Analyse von Quellen und Texten, mit einem recht reduzierten Romantikbegriff arbeitet. So bleibt der sich ebenfalls aus der Subjektkonzeption der Romantik entwickelnde und sich in der Liebe – aber auch darüber hinaus – kristallisierende Anspruch der „authentischen Selbstverwirklichung“ im romantischen Liebeserlebnis bei ihm weitgehend unbeachtet. [8]

In Abgrenzung zum zuvor diskutierten Ideal der historischen Romantik und zur Systematik der antiken Philosophie führt Foltin dann sein theoretisches Modell der romantischen Liebe (bezugnehmend auf die Frage „Wann ist es Liebe?“) ein, das sich gerade nicht durch literarische oder sittliche Stilisierungen von der Erfahrungswelt der Akteure selbst abkoppeln, sondern eine umfassende Deskription der gelebten romantischen Liebe darstellen soll, also „einen neuartigen Ansatz zur phänomenologischen Erfassung der Romantischen Liebe“ zu bieten sucht (S. 93). Der Autor bemüht sich hier darum, an die Husserlsche Methode der „eidetischen Reduktion“ erinnernd, die „Invarianten“, gerade also jene Wesensmäßigkeiten herauszuarbeiten, die das Phänomen der Liebe als solches konstituieren. [9] So trennt Foltin sein Modell in jene „konstitutiven“ Aspekte, die der romantischen Liebe wesensmäßig immanent seien, und solche, die „als kontingent gelten müssen“ (S. 91). Anzumerken ist, dass weder die Methode noch der Stellenwert einer solchen Modellbildung näher erläutert oder begründet wird, was die Nachvollziehbarkeit und vermutlich auch die empirische Validierung des Modells beeinträchtigt und somit auch die Überzeugungskraft der einzelnen Befunde innerhalb der Modellbildung selbst schmälert.

Auf diese Weise exkaviert der Autor sieben konstitutive Eigenschaften der romantischen Liebe, die in seiner Zusammenschau das Modell ergeben: Konstitutiv erscheinen für Foltin: (I) die emotionale Beeinflussung durch die Emotionen des Geliebten, also dass sich „nicht bloß das Verhalten, sondern auch die Emotionen des Geliebten auf die des Liebenden auswirken“ (S. 93). Bezugnehmend auf Niklas Luhmanns Arbeiten zur „Codierung der Intimität“ ließe sich ggf. von einer der Liebeskommunikation inhärenten Erwartung nach „absoluter Offenheit“ bzgl. allem Erlebtem sprechen. [10] (II) Die Wertschätzung des Geliebten, also der Bezug auf die „liebenswerten Eigenschaften“ des geliebten Gegenübers, (III) Der „Wunsch nach dem Wir“ (S. 95), (IV) ein Wunsch nach Gegenliebe, (V) Der Wunsch nach körperlicher Intimität, häufig getragen durch Sexualität (S. 99), (VI) der Wunsch nach emotionaler Intimität und schließlich (VII) der Wunsch nach einer andauernden nicht endenden Kommunikation, die ggf. durch Kommunikationsabbruch oder -entzug dramatisch erschüttert und als Leid erfahren wird (vgl. S. 106). Kontingente Aspekte der Romantischen Liebe umfassen Foltin zufolge hingegen jene häufig in popkulturellen Bebilderungen der Liebeserfahrungen aufgegriffenen Aspekte wie die „Idealisierung des Gegenübers“, eine „gemeinsame Geschichte“, „Eifersucht“, „Entscheidung und Selbstverpflichtung zur Liebe“ und „Körperliche Reaktionen“ auf die Liebe, die gerade nicht notwendigerweise die Romantische Liebeserfahrung ausmachen müssen. Das so konstruierte Modell nutzt Foltin anschließend, um andere Formen der Liebe typologisch anhand der aufgestellten Kriterien abzugrenzen (Liebe zu Dingen, Selbstliebe, unter Tieren, zu Tieren, Freundschaftliche, Familiale Liebe).

In einem zweiten Teil der Modellbildung will Foltin dann neben den konstitutiven Merkmalen auch die Funktionsweise der Liebe herausarbeiten. Bezugnehmend auf empirische Studien aus unterschiedlichen Einzelwissenschaften montiert Foltin ein komplexes Bild aus naturwissenschaftlichen Ursachen, Faktoren, Parametern der Liebe, die zu einem evolutionstheoretisch fundierten Erklärungsmodell zusammengefasst werden (vgl. S. 128). Entlang der evolutionstheoretischen Begriffe der „Ontogenese“ und „Phylogenese“ untersucht Foltin die Funktionsweisen der Liebe in der Entwicklung einzelner Individuen und die „evolutive[n] Genese“ der romantischen Liebe für die menschliche Art grosso modo (S. 130). Zusammengefasst begründet sich Foltin zufolge die Bedingung der Möglichkeit der Romantischen Liebe in der einzigartigen evolutionär bedingten Ausstattung des Menschen als intelligenzbegabtem Tier, da die „autonome, weil vorteilige Entwicklung des geistig-emotiven Vermögens des Menschen […] ihm schließlich die einzigartige Fähigkeit in heutiger Komplexität und Tiefe zu lieben [gab]“ (S. 142).

Dieser Annahme folgend, scheinen auch die biologische Ausstattung und ihre Regelhaftigkeiten bis heute die Art und Weise, wie Menschen sich verlieben und lieben, zu determinieren, wobei sich die Romantische Liebe als Anpassungsmechanismus, als effektivste und vorteilhafteste Option für den Menschen, angesichts seiner Umweltbedingungen und der vorhandenen Lebensumstände den eigenen Fortbestand zu sichern, entwickelt habe (vgl. S. 132). Während Foltin für dieses Argument auf bekannte anthropologische Befunde zur (seriellen) Monogamie, zur Entwicklung menschlicher Fortpflanzung und zu verschiedenen Lebensformen, rekurriert, bleibt allerdings die Frage offen, inwiefern insbesondere auch kulturelle oder auch ökonomische Faktoren, wie bspw. der Wandel kultureller Schönheits- und Attraktionsvorstellungen oder auch der wirtschaftlichen Bedingungen, hier nicht stärker aufgenommen werden müssten. Foltin betont zwar, dass auch kulturelle Faktoren oder der Zufall als Selektionsmechanismen einzubeziehen seien, im Buch finden sich dann aber sehr wenige kulturwissenschaftliche, ökonomische oder gar soziologische Erörterungen der Liebe in ihren sozialen Funktionen für die moderne, aber auch jede andere, Gesellschaft.

Vertieft wird der naturalistische Anspruch des Buchs in den jeweiligen Unterkapiteln, in welchen das „liebende Gehirn“, also die Frage, welche Gehirnareale während des Liebens aktiviert werden, oder die biochemischen Wirkstoffe (welche Zusammensetzung lässt jemanden als attraktiv erscheinen?) und die „unbewussten Signale während der Partnerwahl“ (wie reagiert die Person?) thematisiert werden. Zudem vernachlässigt diese Perspektive vollkommen das im ersten Schritt bereits entwickelte Modell, dessen Merkmale nicht alle vollends „funktional naturalistisch“ erläutert werden. So scheint auch der abschließende Befund zu diesem Abschnitt in seiner Explikationskraft selbst etwas ernüchtert auszufallen, nämlich, „dass die Physiologie der Romantischen Liebe nicht auf die Aktivitäten einer oder zweier Hirnschichten sowie auf die lineare Wirkung weniger biochemischer Substanzen an festgelegten Orten reduziert werden kann“ (S. 163), was freilich die anfangs gestellte Frage nach dem naturalistischen Erklärungspunkt des „Seins“ der Liebe etwas unzureichend beantwortet.

Dies hält den Autor aber nicht davon ab, die Liebe nun vollends und zwar nun auch in ihrer wahrgenommenen Phänomenalität „abschließend“ erklären zu wollen. Unter der Überschrift „So ist die Liebe“– hier wechselt die Fragehaltung ins Deiktische – vertritt Foltin die These, „dass die empfundene Mystik der Liebe auf naturalistischer Ebene vollständig erklärt werden kann“ (S. 220). So wie man den Zaubertrick eines Illusionisten durschauen könne, der dadurch seine magische Wirkung allerdings verliert, ließe sich schließlich auch die Liebe entzaubern (vgl. ebd.). Die Mystik entstehe nur, man könnte sagen, kompensatorisch, weil das menschliche Gehirn die schiere Komplexität und Parallelität der neuronalen und zerebralen Prozesse, die während der Liebeserfahrung abliefen, nicht erfassen könne. Freilich bleibt die Frage bestehen, warum beim Autofahren oder beim Videotelefonat, bei welchem auch nicht alle komplexen Prozesse en detail transparent und verständlich sind, nicht eine ähnliche Mystik empfunden wird. Einen weiteren Grund für die Mystifizierung der Liebe stelle Foltin zufolge das undurchschaute Zustandekommen der eigenen „emotiven Reaktionen dar, die sodann als fertige Phänome (…) auftauchen“. (S. 225) Dabei handele es sich um die Verobjektivierung oder Reifizierung der Liebesemotion, welche dem Menschen als objektives Phänomen, erscheint, obwohl es sich bei der Liebe, Foltin folgend, um einen rein subjektiven Prozess handele. (S. 223) Dies freilich trifft auch auf mannigfaltige andere Phänomene zu, um nicht – wie auch argumentiert werden kann – zur Einsicht zu gelangen, dass es sich bei dieser Form der Objektivierung vielmehr um einen grundlegenden Mechanismus der Alltagskonstitution von Menschen überhaupt handelt. [11]

Dass sich das hier herangezogene naturalistische Erklärungsmodell von recht beschränkter Explikationskraft für das Phänomen der Romantischen Liebe erweist, sei an dieser Stelle mit der folgenden Annahme des Autors belegt: Demnach sei „der Mensch nämlich so veranlagt, dass er Dingen, die er nicht intuitiv begreift, eine transzendente Aura andichtet“ (S. 223). Bezogen auf die Romantische Liebe bedeute dies, das sie zwar naturalistisch abschließend erklärt sei, der Mensch sich dieser wissenschaftlich operierenden Prozesse allerdings nicht bewusst sei und deshalb die Liebe als mystisch erfahre: „Die Mystik der Romantischen Liebe ist multipel expliziert. Einerseits sind die neuralen, die biochemischen, die kommunikativen, die onto- und phylogenetischen sowie die situativen Abläufe viel zu kompliziert, als dass der menschliche Geist sie in einer verständlichen Form integrieren könnte. Andererseits bleibt ihm selbst der Versuch verwehrt, weil er die Prozesse im Augenblick seiner Liebe nicht erfassen kann.“ (S. 225f.) An diesem Punkt will Foltin also nicht nur die Prozesse der Liebe, sondern auch den Grund für die phänomenale Erfahrung der Liebe als Mystik mithilfe einer strikt naturalistischen Position erklärt und entsprechend „demystifiziert“ haben.

Auf die – bereits nach ontologischen Klärungen rufende Frage „Was ist die Liebe?“ – folgt nun eine ca. ein ganzes Drittel des Buchs einnehmende Apologie des „naturalistischen Monismus“, also jener erkenntnistheoretischen Perspektive, mithilfe derer, nach Foltin, im Buch bewiesen worden sei, dass dadurch nicht nur das Phänomen der Liebe abschließend erklärt werden könne (vgl. S. 226), sondern dem auch eine grundlegende Erklärungskraft für das („menschliche“ [sic]) Sein im Ganzen zukommen könne. Eingebettet in die philosophische Debatte um das „Leib-Seele-Problem“ hält Foltin dann abschließend ein Plädoyer für seine „Auffassung der Wirklichkeit (…), die sich vollständig im Rahmen der physikalischen Entitäten und Prozesse erschöpft.“ (ebd.) Lesenden und anderen Kritikerinnen wird an diesem Punkt die Aufgabe zuteil, sich mit der Frage eines hier vorliegenden Zirkelschlusses weiter zu beschäftigen.

Während Foltin sich von ontologischen Dualisten und Pluralisten sowie anderen naturalistischen und theoriegeschichtlich relevanten Positionen (Supervenienz und anti-reduktionistischen Theorien) abzusetzen sucht und seine Position dazu am Phänomen der Liebe illustriert gewusst haben möchte, lässt er sein Werk schließlich mit einem umfassenden Ausblick auf die Verfasstheit der Wissenschaft sowie der „Menschheit“ im Allgemeinen (S. 320) enden. Diese verlange aus seiner Perspektive nach „einer globalen Resolution moralischer Maximen und einer gesellschaftswirksamen Autorität der Philosophie, die die Faktoren individueller Fitness neu entwirft und mittels der der Mensch sein infantiles Selbst überwindet, um als erwachsene und endlich auch etwas weise Spezies sein epistemisches Potential noch viele Jahrtausende ausschöpfen zu können“ (S. 321). Diese, an evolutionstheoretische, aber auch anthroposophische Spekulationen und Entwicklungsfantasien aus dem späten 19. Jahrhundert erinnernde Position (und sie ist nicht die einzige Stelle, an der das Buch eher das Genre der Ratgeber-Literatur oder populärer Lebenslehren berührt bzw. eine Art autoritär-autoritativen Habitus annimmt) wird schließlich durch einige erkenntnistheoretische Fragen zur Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit absoluter Erkenntnis abgeschwächt, wobei der Autor diese Relativierungen aber zugleich in Bezug auf das Phänomen der Liebe vollends zurückweist: „Die Liebe ist vollständig auf ihre Physiologie reduziert. Ihre phänomenalen Ausprägungen können für jedermann logisch nachvollziehbar den spezifischen zerebralen Erregungen zugeordnet werden. Die einstige Kontingenz weicht eindeutiger und vernünftiger Determination“ (S. 333). Es wirkt fast unglücklich, dass diese fulminante Erkenntnis philosophiegeschichtlich, aber auch historisch und nicht zuletzt lebenspraktisch bisher untergegangen zu sein scheint.

Dieses Ziel einer für ihn maßgebenden Determination ist es dann auch, das Foltin schlussendlich zur anfangs gestellten Frage nach der Liebe und den Liebenden selbst zurückführt: Der „naturalistisch liebende Mensch“ (S. 335), den Foltin zu guter Letzt hoffnungsvoll vorstellt, akzeptiere schließlich das Wissen um die Liebe, nicht als eine mystische oder übernatürlich Kraft, sondern als „ein Produkt (neuro-)physiologischer Vorgänge“ (S. 348), das ebenso wenig autonom existieren könne, wie das Bewusstsein selbst (vgl. ebd.). Dieses Wissen als Wissen um die Determiniertheit des Menschen aus seiner „Natur“ heraus, lasse dann aber gerade einen zentralen Aspekt der romantischen Liebe „wiedererstehen: das füreinander Bestimmtsein.“ (S. 349) Diese Erkenntnis einer ent-mystifizierten Liebe, und die absolute Erkenntnis und Akzeptanz dieses Umstands würden – hier kommt das Kaninchen wieder aus dem Zylinder – den naturalistisch Liebenden dann aber mit einem „reale[n] Äquivalent ihrer einseitigen Mystik“ belohnen – was immer dies jenseits einer „gelungen“ vollzogenen naturalistischen Reduktion für die Erklärung der in Rede stehenden Phänomene heißen soll. Ein Schluss, der dem Autor als ein ‚tröstlicher‘ Gedanke vorkommt, der aber auch hinter den Anspruch und Reflexionsgrad einiger liebenden Romantikerinnen und Romantiker um 1795 zurückzufallen scheint.

An dieser Stelle möchte ich drei allgemeine Überlegungen anführen, die sich in größtmöglicher Knappheit auf (1) die vorgeschlagene Definition der Liebe, (2) die Modellbildung der Romantischen Liebe und (3) den Versuch, die erkenntnistheoretische Position des „naturalistischen Monismus“ am Beispiel der Liebe zu plausibilisieren, konzentrieren.

  • Foltin zielt darauf, das Phänomen der Liebe vor dem Hintergrund naturphilosophischer Debatten und insbesondere der durch das „Leib-Seele-Problem“ aufgeworfenen bis heute diskutierten Fragen nach den Möglichkeiten und Bedingungen von Erkenntnis einzuordnen und zu diskutieren. Er schlägt dazu entsprechend vor, die Liebe als „dynamische Komposition teils intentionaler Qualia“ zu verstehen (S. 309), also als ein „innerlich-emotives“ Erleben, das seinen Ursprung ausschließlich im individuellen Menschen hat; sie ist ein „menschliches Phänomen, das von Menschen hervorgerufen wird. Sie fällt nicht zufällig vom Himmel, sondern ist aufs Engste verbunden mit den liebenden und geliebten Personen“ (S. 119). Liebe wird damit als emotionaler Zustand im liebenden Subjekt verortet, auch wenn sie mit der geliebten Person durchaus verknüpft sei: „Sie ist eine dynamische Mischung aus Perzeptionen und überwiegend intentionalen Emotionen, die mehr oder weniger bewusst sind“ (S. 241). Rekonstruiert man zusätzlich das von Foltin formulierte Modell, so lässt sich das klassisch kognitivistische appraisal-belief-desire Modell der Liebe rekonstruieren. [12]
  • Meine zweite Anmerkung betrifft das hier vorgestellte Modell der Romantischen Liebe. Zunächst soll dabei die Bemühung des Autors gewürdigt werden, angelehnt an die historische Romantik ein Modell der Romantischen Liebe zu entwickeln, das seine Geltungskraft bis ins Erleben spätmoderner Akteure hinein entfalten kann. So wird in aktuellen gesellschaftstheoretischen Zugriffen zwar die Relevanz der Liebe als ein sinnstiftendes Element, als der „überirdische Sakralraum“ (Jean Paul) einer „nachreligiösen Gesellschaftsordnung“ [25] reflektiert, ihre inhärente phänomenale Binnenlogik aber zunehmend zugunsten funktionalistischer Erklärungsweisen vernachlässigt. [15]
  • Eine häufig dem Naturalismus, der die Erfahrungsperspektive negiert oder suspendiert, entgegengehaltene Mahnung betrifft die des „naturalistischen Fehlschlusses“: Lebenswelt und Erklärungsmodell nicht zu verwechseln. Man möchte hier Alfred Schütz beipflichten, der in seiner Korrespondenz mit Talcott Parsons zu den grundlegenden philosophischen Begründungsfragen der Sozialwissenschaften auf die wissenschaftliche, aber auch forschungsethische Notwendigkeit des Einbezugs der (Selbst-)Interpretationen und -erzählungen der Akteure hinweist, um Erfahrungsstrukturen überhaupt herausarbeiten zu können: „Das Festhalten an der subjektiven Perspektive ist die einzige, freilich auch hinreichende Garantie dafür, dass die soziale Wirklichkeit nicht durch eine fiktive, nicht existierende Welt ersetzt wird, die irgendein wissenschaftlicher Beobachter konstruiert hat.“ [20]

Wir erinnern uns, zu Beginn steht der emotionale Ausdruck des Geliebten (I), auf dessen Grundlage wir annehmen oder glauben, dass der Geliebte liebenswert sei (II) und aus dem dann unsere Begehren nach Gemeinsamkeit und Intimität erwachsen (III–VII). Wir glauben oder bewerten also qua kognitiver Prozesse, dass die andere Person liebenswert ist (belief/appraisal), wünschen uns mit ihr zusammen zu sein (desire) und nennen diesen Vorgang dann „Liebe“.

Mir scheint es in diesem Zusammenhang wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine solche Perspektive die leibliche (Selbst-)Erfahrung, die über viszerale oder neuronale Reaktionen hinausgeht, übergeht und somit eine allzu reduktionistische Beschreibung der Liebeserfahrung vornimmt. Insbesondere, da Foltin sich dafür ausspricht, die sog. „Liebe auf den ersten Blick“ ebenfalls als romantische Liebe zu fassen (S. 124), also eine unmittelbare leibliche Bezogenheit und Attraktion, der kein explizites kognitives Urteil über die andere Person vorausgehen muss (im Sinne von „diese Person ist attraktiv, weil sie viel Geld verdient“), erscheint die Annahme eines „Nacheinanders“ von Wahrnehmung und leiblicher Reaktion, die wiederum nur noch als Begleiterscheinung konzeptualisiert wird, nicht ganz treffend.

Darüber hinaus dürfte eine evolutionstheoretisch fundierte Erklärungsweise, wie die von Foltin formulierte, vor der Schwierigkeit stehen, dass zwar diachron die Transformation verschiedener „Liebestypen“, wie sie bspw. Niklas Luhmann von der ständischen, über die passionierte bis hin zur romantischen Liebe nachzeichnet, auf eine sich verändernde „Umwelt“ zurückgeführt und erklärt werden kann. [13]

Aus einer „synchronen“ Perspektive aber, jedenfalls in der hier präsentierten Allgemeinheit und Universalität in der Betrachtung der umweltlichen Bedingungen sowie der physiognomischen Ausstattung des Menschen, das Vorhandensein unterschiedlicher Liebes- und Beziehungstypen (Ehe, Fernbeziehungen, Wochenendpartnerschaften, Monogamie, Polyamorie etc.) bei nicht absolut herrschender „Liebesanarchie“, also wenn jede Person einen ganz und gar eigenen Weg wählt, weiterhin explikationsbedürftig ist. Im Anschluss an Talcott Parsons Kritik einer utilitaristischen Handlungstheorie, die zum Ziel hatte, alles menschliche Handeln auf ein bloßes Reiz-Reaktion-Schema zurückzuführen, sei hier auf die Relevanz von Werten und Normen in den Handlungsorientierungen und damit Sinnhorizonten der Akteure und damit auf die Interdependenz von Interaktion, Intention und Reaktion hingewiesen. Erst durch jene scheint die relative Gleichförmigkeit bei möglicher und im Einzelnen signifikanter Variation der Ausgestaltung von Liebesbeziehungen ersichtlich, beschreib- und erklärbar zu sein. [14]

Vor diesem Hintergrund vermag der hier vorgenommene Versuch einer (sozial-)ontologischen Bestimmung der konstitutiven Wesensmerkmale, welche die Liebeserfahrung als solche konstituieren, zunächst eine immer noch bestehende Leerstelle anzusprechen und kenntlich zu machen.

Während einige Aspekte der Modellbildung damit durchaus an die bspw. von Niklas Luhmann, aber auch von Talcott Parsons oder Georg Simmel formulierten Kommunikationsanforderungen des Liebens anschließen, [16] erscheinen andere Aspekte, auch aufgrund der unzureichenden Explikation des Autors, als diskussions-, ja fragwürdig: So ließe sich aus leibesphänomenologischer Perspektive fragen, ob das Merkmal der „körperlichen Reaktion“ tatsächlich nur eine kontingente Eigenschaft anspricht und ob das Phänomen der Romantischen Liebe als rein mentales Phänomen ohne Betrachtung der immer auch leiblichen Bezogenheit überhaupt angemessen beschrieben werden kann. [17]

Nimmt man das leibliche Fühlen, die menschliche Bezogenheit auf die Welt (das „Zur-Welt-Sein“ [18]) als Ausgangspunkt zur Analyse Romantischer Liebe, so zeigt sich, dass zum einen, wie Foltin es formuliert, die Qualität eines bestimmten intentionalen Objekts, bspw. der geliebten Person, erfahren werden kann. Das Fühlen stiftet also einen „Weltbezug“. Zum anderen scheint aber für die Romantische Liebe das „romantische Selbstverhältnis“ als authentisch Liebendes sowohl in seinen literarischen Ausgestaltungen als auch aus sozialtheoretischer Perspektive ebenfalls von ganz entscheidender Bedeutung zu sein: Das Erlebnis des Selbst als liebender Person, vermittelt durch die eigene Leiblichkeit, erzeugt somit einen spezifischen und m. E. nicht nur für die historische Romantik breit diskutierten, sondern auch für die Bestimmung romantischer Liebe darüber hinaus konstitutiven Selbstbezug, der das Erleben zugleich in ein Reflexionsverhältnis stellt. [19]

In dieser Eigenart ermöglicht die Romantische Liebe nun eine „doppelte Sinnbestätigung“, indem sie zum einen die Einzigartigkeit des Selbst der liebenden Person, zum anderen die gemeinsam entstehende Nahwelt mit der geliebten Person (Punkt III bei Foltin) bestätigt [26]. Foltin übergeht diesen Punkt, indem er die Romantische Liebe ohne, bzw. nur mit schwachem Ich-Bewusstsein und Ich-Gefühl als Automatik naturalistischer Prozeduren konzipiert. (S. 240) Vielleicht ist es aber gerade die in diesem Deutungs- und Reflexionsverhältnis erkennbare Idiosynkrasie Romantischer Liebe, die es verständlich macht, warum sie als Quelle der Anerkennung von solch einer gesteigerten Relevanz für die Moderne als Epoche „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) werden konnte.

Foltins Beschreibung der subjektiven Erfahrung, die dem Menschen als „one trick pony“ eine rationale, oder „evolutionär egoistische“ Einstellung ansinnt (S. 60) und alle weiteren Befunde als hieraus begründet ableitet, erscheint in diesem Zusammenhang als unterkomplex. Insbesondere in der Modellierung seines „naturalistisch liebenden Menschen“ scheint Foltin Liebenden ein viel zu enges, naturalistisches „Ideenkleid“ überzustülpen, das nicht nur ihre Erfahrung verdeckt, sondern sie sogar eher entstellt. [21]

So erscheint der von Foltin umrissene Mensch als eine Karikatur oder als eine zwischen neuronaler Steuerung und kontingenter Umwelt gefangene Apparatur, welche die Erforschung ebenjener Strukturen verunmöglicht, die die subjektive Erfahrung entstehen lassen, aber auch vermitteln. [22]

Freilich besitzt das von Foltin vorgebrachte Erklärungsmodell einige erläuternde Kraft bzgl. der Frage, welche „unbewussten“ Prozesse auch die Liebe in ihrer Konstitution zu formen vermögen. Doch das von ihm zum Ende seines Buches entworfene Bild eines auf „Autopilot“ laufenden Liebenden, der sich seinem vorbestimmten Schicksal einfach ergibt, erscheint dann eher als Schwundstufe eines menschlichen Erlebens, wie es vielfältig und über alle Kulturen hinweg für die Liebe in unterschiedlichen Mustern, Artefakten und Handlungen dokumentiert und wahrgenommen wird, denn als eine adäquate Beschreibung der Liebe, sei es in kultureller, anthropologischer oder sozialer Perspektive. Den Anspruch, als „Mythenjäger“ (Norbert Elias) der Liebe ihre Mystik vollends austreiben zu können, kann das Buch nicht einlösen. Viel eher zeigt sich, dass Foltin die Liebe zwar mit den gewählten Ansätzen ggf. partiell „erklären“, aber eben als Phänomen nicht „verstehen“ kann, denn dazu würde auch das Ernstnehmen der gelebten Liebeserfahrung und der Liebenden in ihren verschiedenen, konkreten, im Einzelnen auch unhintergehbaren Facetten selbst zählen. [23] Das Buch scheint, trotz seiner professionellen und produktiven Nutzung der Liebe als Schauplatz zur Aushandlung und Diskussion erkenntnistheoretischer Fragestellungen, das eigentliche Untersuchungsobjekt, nämlich die Liebe und die Liebeserfahrung, aus den Augen zu verlieren.

 

Anmerkungen

[1] Heinrich Heine: „Aphorismen und Fragmente“, in: ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden, Bd. 7, hg. von Gotthard Erler, Berlin [u. a.] 1972, S. 432. 

[2] Wovon nicht zuletzt das vorliegende Buch selbst zeugt. Aber vgl. auch: Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche im Kapitalismus, Frankfurt am Main 2003.

[3] Jean-Luc Marion: Das Erotische. Ein Phänomen. Sechs Meditationen, München 2011, S. 11, zit. n. Martin Hähnel/Annika Schlitte/René Torkler: Was ist Liebe? Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2015, S. 10.

[4] Vgl. Sebastian Foltin: Romantische Liebe im Licht neuer Naturphilosophie, Freiburg [u. a.] 2020, S. 25. Im Folgenden werden die Zitate aus Foltins Buch direkt im Text mit der dazugehörigen Seitenangabe aufgeführt.

[5] So wird unter dem Begriff eine ganze Bandbreite an Phänomenen von der Verliebtheit über langfristige Partnerschaften bis hin zu „toxischen Beziehungen“ subsumiert. Vgl. zur uneinheitlichen Verwendung des Begriffs auch bell hooks: „Preface“, in: dies.: All about Love, New York 2000.

[6] Bekannterweise begründet Max Weber die Soziologie als eine Wissenschaft, die „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären will“. Max Weber: „Soziologische Grundbegriffe“, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988 [1921], S. 542 [503]. Damit geht er zugleich einen methodologischen „Kompromiss“ ein, indem er den Anspruch des deduktiv operierenden Naturwissenschaftlichen Modells an die hermeneutische Methode des Sinnverstehens knüpft, also die Notwendigkeit auf den subjektiven Sinn der Akteure zu rekurrieren, um soziale Sachverhalte erklären zu können. Vgl. hierzu Thomas P. Wilson: „Theorien der Interaktion und Modelle soziologischer Erklärung“, in: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, hg. von der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Wiesbaden 1980 (= WV-Studium 54/55), S. 54–79.

[7] Zum Begriff der „Unverfügbarkeit“ siehe Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Wien [u. a.] 2018.

[8] Vgl. hierzu bspw. die Studie des sog. Familienministeriums aus dem Jahr 2014. Carsten Wippermann: Partnerschaft und Ehe – Entscheidungen im Lebensverlauf, Berlin 2014, S. 16.

[9] Andreas Reckwitz: „Erschöpfte Selbstverwirklichung: Das spätmoderne Individuum und die Paradoxien der Emotionskultur“, in: ders.: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 210.

[10] Edmund Husserl: „Der Encyclopedia Britannica Artikel: Vierte, letzte Fassung“, in: ders.: Phänomenologische Psychologie, Den Haag 1962, S. 277–301.

[11] „Das gesamte Erleben der Partner soll gemeinsames Erleben sein, jeder soll erzählen, was er täglich erlebt, soll seine Probleme vor dem anderen ausbreiten und sie mit ihm gemeinsam lösen“. Niklas Luhmann: Liebe: Eine Übung, hg. von André Kieserlin, Frankfurt am Main 2008, S. 16.

[12] Vgl. hierzu den Begriff der „Objektivierung“ oder genauer „Vergegenständlichung“ (Reification): Peter L. Berger/Thomas Luckmann (Hgg.): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1969, S. 22.

[13] Martha C. Nussbaum: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotion, Cambridge 2001. Für eine kritische Diskussion des Modells s. Thomas Fuchs: „Verkörperte Emotionen. Emotionskonzepte der Phänomenologie“, in: Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Hermann Kappelhoff/Jan-Hendrik Bakels/Hauke Lehmann/Christina Schmitt, Berlin 2019, S. 95–101.

[14] Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1994.

[15] Talcott Parsons: „The Place of Ultimate Values in Sociological Theory“, in: International Journal of Ethics 45/3 (1935), S. 282–316.

[16] Vergleiche hierzu bspw. die einschlägigen Arbeiten von Eva Illouz zur Liebe in der Spätmoderne, in denen sie sich explizit von einer „Phänomenologie der Liebe“, die es sich zum Ziel setzt die Eigenelogik der Liebe als „Realität sui generis“ zu erfassen, absetzt, Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 6. Vgl. zur relativen Enthaltsamkeit hinsichtlich einer phänomenologischen Bestimmung in kontemporären Theorien der Liebe in Philosophie und Soziologie: Martin Hähnel/Annika Schlitte/René Torkler: „Einleitung“, in: Was ist Liebe? Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Martin Hähnel/Annika Schlitte/René Torkler, Stuttgart 2015, S. 9–35; sowie Barbara Kuchler/Stefan Beher: „Einleitung: Soziologische Theorien der Liebe“, in: Soziologie der Liebe, hg. von Barbara Kuchler/Stefan Beher, Berlin 2014, 7–38.

[17] Vgl. zur Liebesrezeption der soziologischen Klassiker und insb. bei Parsons: Mihai Stelian Rusu: „Theorising love in sociological thought: Classical contributions to a sociology of love“, in: Journal of Classical Sociology 18/1 (2018), S. 3–20. Zu Luhmann s. o.

[18] Einen ersten Ansatzpunkt hierfür könnten die Arbeiten von Thomas Fuchs zur phänomenologischen Analyse von Emotionen darstellen, in denen er Emotionen als leibliche Phänomene sui generis, die intentional auf Welt bezogen sind definiert. Vgl. hierzu Thomas Fuchs: „Verkörperte Emotionen. Emotionskonzepte der Phänomenologie“, in: Emotionen, hg. von Hermann Kappelhoff/ Jan-Hendrik Bakels/Hauke Lehmann/Christina Schmitt, Berlin 2019, S. 95–101.

[19] Zum Begriff des „Zur-Welt-Seins“ (etre-au-monde) siehe Maurice Merleau-Ponty: „Vorwort“, in: ders.: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 3–18.

[20] Erich Fromm: Die Kunst des Liebens, München 1956, S. 11.

[21] Alfred Schütz/Talcott Parsons: Zur Theorie sozialen Handelns. Ein Briefwechsel, hg. von Walter M. Sprondel, Frankfurt am Main 1977, S. 64.

[22] Edmud Husserl: „§9 Galileis Mathematisierung der Natur“, in: ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1962, S. 52.

[23] Zu einer Kritik an objektivistischen Erklärungsmodellen und ihren Grenzen, wie sie hier m. E. deutlich werden vgl. auch Pierre Bourdieu: „The Objective Limits of Objectivism“, in: ders.: Outline of a Theory of Practice, Cambridge 1977, S. 1–71. Freilich geht es mir nicht darum, objektiv operierende Erklärungsmodelle insgesamt auszuschließen, sondern um eine angemessene Perspektive, die erst aus einer Berücksichtigung der subjektiven Erfahrungen unter Reflexion der objektiven Strukturen erfolgen kann (vgl. Bourdieu: The Objective Limits of Objectivism, S. 3f.).

[24] Vgl. dazu Manfred Frank: Die Uninhtergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlass ihrer ‚postmodernen‘ Toterklärung, Frankfurt am Main 1986, S. 124–131; Thomas Fuchs: Verteidigung des Menschen: Grundfragen einer verkörperten Anthropologie, Berlin 2020.

[25] Vgl. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990, S. 223f.

[26] Vgl. Luhmann: Liebe, S. 21.

 

Der Beitrag ist unter dem folgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59024