Christian Quintes , 20.05.2020

„Fremde Heimat – Heimat in der Fremde, Clemens Brentano und das Heimatgefühl der Romantik“

Brentano-Kolloquium (Koblenz, 22.-24.10.2019)

Wie problembehaftet der Begriff ‚Heimat‘ 75 Jahre nach dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus ist, lässt sich in intensiven Mediendebatten darüber vielfältig verfolgen. Ein besonders prägnantes Bild bietet der von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah bei Ullstein herausgegebene Essayband Eure Heimat ist unser Albtraum [1]. Anlass für die Autorinnen, ein solches Werk in Angriff zu nehmen, war die Umbenennung des Bundesinnenministeriums in „Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat“. Dass mit der Ernennung von Horst Seehofer zum Innenminister eines der wichtigsten deutschen Ministerien den Begriff ‚Heimat‘ in seinen Namen integrierte, verdeutlicht den – auch durch die politischen Erfolge der AfD ausgelösten – Kampf um die Meinungshoheit über diesen Begriff.

Spätere Nutzer griffen und greifen noch immer bei der Verwendung des Heimatbegriffes auf romantische „Vorarbeiten“ zurück. Im Zuge der Befreiungskriege gegen Napoleon entwickelte sich ein deutsches Wir-Gefühl, aber auch eine Abgrenzung zwischen ‚der Heimat‘ und ‚der Fremde‘. Wobei ergänzend erwähnt werden muss, dass die Auseinandersetzung mit diesen beiden Themenfeldern in der Romantik hochkomplex und vielfältig war und sich nicht darauf reduzieren lässt, dass ‚Heimat‘ positiv und ‚Fremde‘ negativ konnotiert ist. Als Beispiel für die Ambivalenz sei ein Gedicht aus Eichendorffs Satire Viel Lärmen um Nichts zitiert, das das Spannungsverhältnis auf den Punkt bringt:

Lindes Rauschen in den Wipfeln,
Vöglein, die ihr fernab fliegt,
Bronnen von den stillen Gipfeln,
Sag’t, wo meine Heimat liegt?
Heut’ im Traum sah ich sie wieder,
Und von allen Bergen ging
Solches Grüßen zu mir nieder,
Daß ich an zu weinen fing.
Ach, hier auf den fremden Gipfeln:
Menschen, Quellen, Fels und Baum,
Wirres Rauschen in den Wipfeln –
Alles ist mir wie ein Traum. [2]

Eben diesem, hier nur kurz angeschnittenen, vielschichtigen Diskurs und seinen Auswirkungen bis in die heutige Zeit widmete sich das von Stefan Neuhaus und Helga Arend veranstaltete Brentano-Kolloquium 2019, dessen Ziel es war, das Heimatgefühl der Romantik unter besonderer Berücksichtigung Brentanos herauszuarbeiten.

Wissenschaftlich eröffnet wurde das Kolloquium, dem eine abendliche Lesung mit Peter Zudeick vorausging [3], von Anja Oesterhelt, die in einem dreiteiligen Vortrag die Geschichte des Heimatbegriffes resümierte und dabei bereits auf die Problematik einging, dass eine reine Reduktion der Begriffsgeschichte auf die NS-Zeit viel zu kurz greife. Stattdessen verdeutlichte sie, wie der heute emotional aufgeladene Begriff ursprünglich vor allem eine rechtsterminologische Funktion hatte oder allenfalls in religiösen Texten eine Rolle spielte, bevor er in der Romantik „entdeckt“ wurde. Der religiöse Unterbau von Heimat als etwas Verlorenem bot dann die Basis für die daran anknüpfenden Vorträge, die sich vor allem auf den eschatologischen Charakter von Heimat bezogen. Patricia Czezior definierte Heimat in der Romantik als a priori unerreichbaren Raum, der aber von den Figuren in den romantischen Texten stets angestrebt und zu erreichen versucht wird. Die in der Hochromantik, insbesondere von Brentano und Arnim negativ stilisierte Figur des Philisters ist für Czezior, wie sie anhand von Brentanos Satire Der Philister vor, in und nach der Geschichte (1811) nachzuweisen suchte, eine Chiffre für den Verlust dieser Heimat. Wie Brentano als Gegenentwurf eine „geistliche Heimat“ zu konstruieren versuchte, verdeutlichte Lothar van Laak anhand der Einleitungsterzinen der Romanzen vom Rosenkranz und ging dabei auch auf das für die Romantik eminent wichtige Verhältnis von Kunst und Religion ein. Anhand von Einzelanalysen und mit Rückgriff auf Bernd Auerochs‘ maßgebliches Werk zur Kunstreligion [4] verdeutlichte er, dass Brentano sich konträr zu Schiller positionierte: Kunst kann Religion für ihn nicht ersetzen.

Die Idee einer geistigen Heimat im weiteren Sinne war dann auch Thema in Christian Quintes Vortrag, der zeigte, wie das triadische Geschichtsmodell in der Romantik zur Basis literarischer Traumdarstellungen wird. Der von Schelling beschriebene Akt der intellektualen Anschauung wird in die literarischen Träume verlagert. Die Protagonisten gelangen zurück in einen Raum, an dem die Trennung von Subjekt und Objekt noch nicht oder gerade erst vollzogen ist. Maßgeblich wird dafür in der Hochromantik das Symbol des (Paradies-)Gartens. Höhepunkt dieses ersten, intensiven Konferenztages war die Lesung von Jan Koneffke aus Als sei es dein [5], die Anknüpfungspunkte für die Diskussion über den Heimatbegriff aus literarischer Perspektive bot. Diese wurde von den Teilnehmenden bei einem Glas Rheinwein bis in die späten Abendstunden fortgeführt, bevor es in den zweiten Tag hineingehen konnte, der mit dem Vortrag von Susanne Scharnowski eröffnet wurde.

Ausgehend von Caspar David Friedrichs bekanntem Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer, eröffnete Scharnowski dem Plenum eine weitere Facette des Diskurses und legte dar, dass der Begriff ‚Heimat‘ in der politischen Romantik nicht von Bedeutung gewesen sei. Vielmehr sei ‚Heimat‘ in der Romantik kein Ort gewesen, sondern ein Gefühl. Eine These, die im Anschluss durchaus kritisch diskutiert wurde, hier wurde auch auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen und erstmals das Verhältnis der beiden Begriffe ‚Deutsch‘ und ‚Heimat‘ beleuchtet. Diese stehen aber, wie sich in der Diskussion zeigte, zumindest zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch in keiner besonderen Bindung zueinander. Der Begriff der ‚Heimat‘ ist lange Zeit, dies zählt sicherlich zu den wichtigsten Erkenntnissen der Konferenz, auch unabhängig vom Begriff der ‚Nation‘.

In eine ähnliche Richtung gingen die Überlegungen von Sandra Markewitz, die ihren Schwerpunkt auf Karoline von Günderrodes Studienbuch legte. Ausgehend von Fichtes und Schellings grundlegenden Überlegungen zur Transzendentalphilosophie („Das Ich setzt sich selbst“) erläuterte Markewitz, wie ‚Heimat‘ bei der Günderrode zu einem Konstrukt wird, das in einem performativen Akt vom Ich hergestellt werden muss. Nach diesen sehr abstrakten Überlegungen gab Sabine Gruber in ihrem Vortrag ein konkretes Beispiel für die Divergenz von Heimat- und Fremdheitserfahrungen. Clemens Brentano stammte schließlich aus einer italienischen Kaufmannsfamilie. Wie aber wirkte sich dieser biografische Hintergrund auf Brentanos private Kontakte und auf die Fremdheitserfahrungen in seinem Werk aus? Breit gefächert legte Gruber die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Familienzweigen, die Beziehungen zu dem für Brentano so wichtigen Bruder Christian und Brentanos „Entdeckung“ Italiens dar.

Dem erbaulichen Ausblick folgte der, wie Lothar Bluhm es formulierte, Blick auf die „dunkle“ Seite des Heimatgefühls, dem in der Romantik mitunter sehr präsenten Antijudaismus. Bluhm kritisierte zu Beginn, wie wenig dieser in der deutschen Erinnerungskultur gegenwärtig sei, und verwies beispielhaft auf die sogenannten „Hep-Hep-Unruhen“, deren 200-jähriges „Jubiläum“ 2019 in der Wissenschaft kaum beachtet wurde. (Als kleines Gegenbeispiel mag immerhin ein Artikel des Deutschlandfunks dienen, der die Ereignisse um die Unruhen treffend zusammenfasst [6]). Der Kern seines Vortrages überschnitt sich mit einer weiteren wichtigen Erkenntnis der Konferenz: Um ‚Heimat‘ und insbesondere einen ‚Heimatraum‘ definieren zu können, ist es notwendig, eine Abgrenzung zu betreiben. Wenn es eine Heimat gibt, dann gibt es auch Räume, Orte und Personen, die nicht zu dieser Heimat gehören. Wie diese Räume bewertet werden, kann sich sehr unterschiedlich gestalten. Fremde Räume können – als typisches Beispiel sei das Land, „wo die Zitronen blühen“ genannt – Sehnsuchtsräume sein. Am Beispiel des Antijudaismus der Romantik zeigt sich auf eine Weise, die erschreckend aktuell ist, wie schnell es zu einer Ausgrenzung von Menschen kommt, die sich zwar im als Heimat definierten Raum aufhalten, aber auf irgendeine Art „anders“ oder „fremd“ erscheinen. Wie verbreitet der Antijudaismus innerhalb der Romantik tatsächlich war, belegte Bluhms Aufzählung der Mitglieder der „Deutschen Tischgesellschaft“.

Die letzten beiden Vorträge unternahmen einen abschließenden, thematischen Schwenk. Einen scheinbar unorthodoxen, aber sehr ergiebigen Ansatz, Migration zu betrachten, zeigte Frederike Middelhoff, die in ihrem Vortrag auf das verbreitete Motiv der Zugvögel und das steigende wissenschaftliche Interesse an diesen in der Romantik einging. Abgerundet wurde die Konferenz schließlich durch einen Ausblick auf das Werk Peter Härtlings, sodass auch die Romantik-Rezeption nicht zu kurz kam. Paola Quadrelli konnte anhand von Härtlings Werk zahlreiche Anknüpfungspunkte an die Themenschwerpunkte „Wanderschaft“ und „Heimatlosigkeit“ aufzeigen.

Insgesamt konnte im Rahmen der Konferenz das intensive Spannungsfeld des Heimatbegriffes deutlich gemacht werden. Dabei zeigte sich nicht nur die Vielschichtigkeit des Begriffes, es zeigten sich auch die Schwierigkeiten, die sich im Rahmen einer möglichen Definition ergeben. Die Ambivalenz von Heimat ist ein Problem, das seinen Anfang in der Romantik nimmt und sich bis heute im Diskurs fortsetzt. Inwiefern die Romantik-Rezeption dabei eine Rolle spielt, konnte nur ansatzweise herausgearbeitet werden. Auch der Heimat-Diskurs in seiner komplexen Gesamtheit konnte an den beiden Konferenztagen verständlicherweise nur angeschnitten werden. Umso gespannter darf man auf den geplanten Sammelband zur Konferenz sein. In dessen Rahmen werden sich die Autoren den Themen noch einmal umfassender widmen: der Entstehung des Heimatdiskurses zu Beginn der Romantik, das Verhältnis der Begriffe ‚Heimat‘, ‚Romantik‘, ‚Nation‘ und ‚Deutsch‘ sowie die beginnende Abgrenzung von ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘ und das Problem des Antijudaismus in der Romantik [7].

 

Programm

Auftaktveranstaltung am Di., 22. Oktober 2019, 19 Uhr (Stadtbibliothek Koblenz)

Peter Zudeick liest aus: Heimat, Volk, Vaterland. Eine Kampfansage an Rechts

23.10.2019 (Campus Koblenz, Aula D239)

13:00 Uhr: Begrüßung und musikalischer Auftakt

13:30 Uhr: Anja Oesterhelt (Gießen): Clemens Brentano und die Geschichte der Heimat

14:15 Uhr: Patricia Czezior (München): Der ‚Philister‘ als Chiffre für den Verlust der ‚inneren Heimat‘ bei Clemens Brentano

15:00 Uhr: Pause

15:30 Uhr: Lothar van Laak (Paderborn): Geistliche Heimat. Ästhetische Ich-Bildung in Clemens Brentanos Einleitungsterzinen zu den Romanzen vom Rosenkranz

16:15 Uhr: Christian Quintes (Saarbrücken): „Ihm wurde so wohl und heymathlich zu Sinne“ – Darstellungen des goldenen Zeitalters in den literarischen Träumen der Romantik

19:00 Uhr: Abendveranstaltung: Jan Koneffke liest aus: Als sei es dein (Stadtbibliothek Koblenz)

24.10.2019 (Campus Koblenz, Aula D239)

09:00 Uhr: Susanne Scharnowski (Berlin): „Heimat in der Ferne: Der ‚Wanderer über dem Nebelmeer‘.“ Zur Ambivalenz der Heimat in der Romantik und zu Rezeption der romantischen Heimatidee

09:45 Uhr: Dr. Sandra Markewitz (Vechta): Heimat/Fremdheit. Zu einem philosophischen Diskurs in Karoline von Günderrodes Studienbuch mit Rücksicht auf Brentano

10:30 Uhr: Pause

11:15 Uhr: Sabine Gruber (Tübingen): Deutsch-italienische Kontakte und Fremdheitserfahrungen im Werk Clemens Brentanos

12:30 Uhr: Mittagspause

14:00 Uhr: Lothar Bluhm (Landau): Die ‚dunkle‘ Seite des Heimatgefühls. Brentano und der Antijudaismus in der Romantik

14:45 Uhr: Frederike Middelhoff (Würzburg): Die Fremden in der Heimat, die Heimat in der Fremde: Migration in der deutschen Romantik

15:30 Uhr: Paola Quadrelli (Mailand): Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus“: Wanderschaft und Heimatlosigkeit als konstitutive Lebensformen der Moderne im Denken von Peter Härtling

19:00 Uhr: Abendveranstaltung: Eröffnung der Ausstellung „Brentanos Heimaten“ in der Landesbibliothek Koblenz

 

Anmerkungen

[1] Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah (Hgg.): Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin 2019.

[2] Joseph von Eichendorff: [Erinnerung]. Ich zitiere hier die Fassung aus Viel Lärmen um Nichts, in: Ders. Sämtliche Erzählungen II. Dichter und ihre Gesellen, in: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, hg. von Wolfgang Frühwald/Brigitte Schillbach/Hartwig Schultz. Frankfurt am Main 1985–1993, S. 22.

[3] Peter Zudeick: Heimat, Volk, Vaterland. Eine Kampfansage an Rechts, Frankfurt am Main 2018.

[4] Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006.

[5] Jan Koneffke: Als sei es dein, Heidelberg 2018.

[6] Gunnar Lammert-Türk: „Würzburger Juden. Erst gleichgestellt, dann vertrieben“, in: https://www.deutschlandfunk.de/hep-hep-unruhen-vor-200-jahren-wuerzburger-juden-erst.871.de.html?dram:article_id=455300 (abgerufen am 17.05.2020).

[7] Stefan Neuhaus/Helga Arend (Hgg.): Fremde Heimat – Heimat in der Fremde. Clemens Brentano und das Heimatgefühl seit der Romantik, Königshausen & Neumann 2020.