Alexander Löck , 03.01.2020

IMPULSE II // Blaue Blumen Scheren Schnitte

Krämer, ein Romantiker? Möglichkeitssinn und Schwärmerkur

Wie romantisch ist nun dieser Umgang mit Romantik? Waltet romantische Ironie hier, die sich in aller Konsequenz (sonst „war´s keine“) auch gegen die Romantik selbst richtet und ihre Nichtigkeit ausweist, weil sie nur eine von vielen möglichen Posen, Modellen, Klischeereservoirs ist, die das prosaische äußere Leben für das poetisch suchende Subjekt bereithält?

Gemeinsame Bezugspunkte zwischen dem Humor der Romantischen Studien und dem Konzept einer romantischen Ironie liegen vor allem in der Idee einer unabgeschlossenen Denkbewegung und dem gemeinsamen Vorbild eines solchen Denkbewegens: Sokrates, der Friedrich Schlegel als Vorbild für sein Ironiekonzept dient und den Sebastian Krämer als zentralen Bezugspunkt seiner poetischen Wissensskepsis ausweist: „Sokrates wußte, daß er nichts weiß. Dagegen ist die Liste mit den Dingen, die ich weiß, doch schon ganz stattlich. […] Ach ja, ich weiß übrigens auch was über Sokrates. Und andere Philosophen. Ich kenne mich in Philosophie- und Musikgeschichte etwas aus, was auch mit einem – abgebrochenen – Studium in diesen Bereichen zusammenhängen mag. Aber mein eigentlicher Beruf […] ist das Liederschreiben. […] Aber wie das geht, weiß ich nicht.“ [1]

Gemäß der sokratischen Technik des dialektischen Drehens und Wendens verknüpft der Text von „Romantische Studien“ die verschiedenen Vorstellungen von Romantik so mit der Sphäre des Akademischen, dass die Bewertung dieser drei Vorstellungskomplexe ebenso in der Schwebe bleibt wie die Ernsthaftigkeit ihrer Verknüpfung. Der Text wechselt ständig zwischen dem Evozieren landläufiger und abwegiger Vorstellungen und Bewertungen. Der ständige Perspektivwechsel ermöglicht alle möglichen klaren Antworten ebenso wie er ein festes Bekenntnis zu einer dieser Antworten verunmöglicht. Er ist zentrales poetisches Prinzip von Krämers ästhetischem Programm überhaupt, das sich am besten auf eine Formel bringen lässt, die sich aus den Titeln der beiden komplementären Programme von 2013 und 2015 zusammensetzt: Kunst heißt hier die Entmachtung des Üblichen durch Lieder wider besseres Wissen. Musik, Text und Bühnendarbietung zielen auf eine Poesie, die ihr Material bewusst im Prosaischen des äußeren Lebens sucht und das Poetische als Kunst der Kombination und des Perspektivwechsels betreibt.

Wie sehr innerhalb dieses ästhetischen Programms Romantik als eine Möglichkeit solcher Poesie begriffen wird, zeigt sich darin, wie häufig romantische Vorstellungen und Vorstellungen von Romantik aufgegriffen werden oder deutlich anklingen in Titeln von Programmen wie Schule der Leidenschaft (2006), Schlaflieder zum Wachbleiben (2008), Akademie der Sehnsucht (2009), Vergnügte Elegien (2018) und in Titeln von Liedern wie „Ängste und Träume“, „Wovon träumst du“, „Chanson d’Aventure“, „Sehnsucht ist gemein“ oder eben „Romantische Studien“.

In all diesen Titeln zeigt sich jene Gleichsetzung von Romantik und Poesie, die den wirkungsgeschichtlichen Erfolg von Romantik als Programm, Modell oder auch nur als Label für einen Gegenentwurf zu einer als prosaisch empfundenen Wirklichkeit begründet. Entscheidend ist nun aber, dass diese Gleichsetzung von Romantik und Poesie nicht einfach übernommen und zur Basis für ein eigenes Modell von Romantik gemacht wird, sondern dass Romantik als Modellbildung zum Gegenstand wird: weniger als Gegenstand eines selbstbezüglichen Beziehungszaubers denn als Material für poetische Studien darüber, wie Menschen Programm-, Modell- und Labelbildung betreiben im Spannungsfeld von topischer Abgetragenheit der Klischees und ungehemmter Willkür in der assoziativen Verknüpfung.

Denn anders als in der romantischen Ironie ist die unaufhörliche Sokratische Denkbewegung hier nicht Mittel zum Zweck der Darstellung eines nicht darstellbaren Absoluten. Das Transzendentale dieser Denkbewegungspoesie liegt gerade in einem völligen Verzicht auf jene Transzendenzorientierung, die die romantische Ironie als romantische Ironie ausmacht: Die Entmachtung des Üblichen soll hier nicht in der Nichtigkeit alles Irdischen ein transzendentes Absolutes zur Darstellung bringen. Nicht das Ungewusste, sondern die „Unwissenheit“ will diese Poesie „in eine Form bringen“. [2] In diesem Zusammenhang fällt auf, dass der Autor Krämer die Möglichkeit, durch sein Werk weltanschauliches und/oder religiöses Bekenntnis abzulegen, von marginalen Ausnahmen abgesehen („In geheimer Mission“, „Mitleid mit Satan“, „Der Konterrevolutionär“), konsequent ungenutzt lässt.

Konsequent ist das schon deswegen, weil Authentizitätsverzicht als Komplement von Formbewusstsein die Geschäftsgrundlage von Krämers Kunstautonomie ist: „[W]ährend sich zeitgenössischer Deutschpop in der Exaltierung von Emotionen gefällt, verlegt Sebastian Krämer sich aufs Gegenteil: beispielhafte Contenance als Umzäunung beispielloser Abgründe.“ [3] Selbstbeherrschung und Formbeherrschung sind dabei zwei Seiten derselben Contenance: Durch die grundsätzliche Anlage der Chansons als Rollenrede ermöglicht das breite Spektrum konsequent gehandhabter verschiedener Formmöglichkeiten, ein ebenso breites Spektrum dessen zur Darstellung zu bringen, was als Nicht-Wissen in Kombination mit einem ständigen Wissenwollen das allgemein Menschliche ausmacht: Die Vergnügte Elegie „Immer schon vorher wissen wollen“ listet gnadenlos (Vortragsanweisung „allmählich beschleunigend“, ML, S. 162) auf, was man alles immer schon vorher wissen will, weil man es nicht vorher wissen kann, und das lebenslänglich: „es wär‘ schon hilfreich, wenn man das mal vorher wüßte! […] nun jetzt nicht mehr, denn jetzt ist es vorbei.“ Modellbildung als Bildung von Vorstellungen erscheint in diesem Zusammenhang als Ausdruck dieses Wissenwollens im Nicht-Wissen, des Sagenwollens im Sprachversagen.

Die Poesie des Möglichen

Ein Beispiel dafür, dass und wie dieses Bedürfnis nach Wissen und Sagen im Werkganzen des Künstlers immer wieder als soziales Phänomen vorgeführt wird, ist das Prosalied „Überwachung im Bus“ (ML, S. 83). Dort will der Fahrgast mit Bezug auf den Überwachungsmonitor des Busfahrers wissen: „Busfahrer, was hast du da? Busfahrer, was hast du da? […] Busfahrer, was soll das? Busfahrer, was soll das?“ Nicht wissen, was der Busfahrer wissen will, wenn er das Businnere mit Kameras überwacht, „das ist mir unsympathisch“. Und auf dieses unsympathische Nichtwissen eines fremden Wissenwollens reagiert der Fahrgast mit Wissensausbreitung: „Aber sag mal: ‚Windschutzscheibe‘ das Wort trifft es doch eigentlich heute nicht mehr so richtig, Windschutzscheibe! Das Wort hat man erfunden, als die Autos noch kein Dach hatten, damit der Wind nicht dem Fahrer vorn in die Augen haut. […] Im Grunde könnte dein Bildschirm ja auch was ganz anderes zeigen als den hinteren Eingangsbereich des Busses. Zum Beispiel den hinteren Eingangsbereich … eines anderen Busses. So per Funk. Ist ja heutzutage alles möglich, Busfahrer, heutzutage alles möglich, Busfahrer … .“ Wie sehr Wissen und Nichtwissen auch hier zugleich als Irritation und Ausdruck menschlicher Subjektivität interessiert, zeigt die Schlusspointe: „Busfahrer, weißt du noch, was da früher mal war, wo jetzt der Überwachungsbildschirm ist? Busfahrer, weißt du das noch, Busfahrer weißt du das noch? Ja, du weißt es, und du trauerst ihm auch ein bißchen nach: das Schild mit der Aufschrift ‚Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen!‘“

https://www.youtube.com/watch?v=bIS_WI1NLdA

Das Herausstellen der sozialen Bedeutung von Wissen in Kombination mit der ästhetischen Aushöhlung des Wissenskonzepts durch schieres Dauerbrauchen des Wissensbegriffs treibt das Stück mit dem Titel „Ich weiß“ (ML, S. 56–59) auf die Spitze: Die titelgebende Wendung „ich weiß“ wird durch endlose Wiederholung (vorsichtige Schätzungen sprechen hier von über 30 mal, die Umstellung „weiß ich“ nicht mitgerechnet) und die entsprechende Anzahl aller möglichen und unmöglichen reinen und unreinen Reime auf „weiß“ völlig sinnentleert und erscheint so als das, was Wissenwollen hier ebenso wie bei dem Busfahrgast ist: Ausdruck trotziger Uneinsichtigkeit, eines Nichtwissenwollens des sehr wohl Gewussten. Die fröhliche Variante dieses Nichtwissenwollens in Kombination mit sozialem Druck, wissen zu „müssen“ („ich muß“), zeigt das Lied, dessen Titel aus einem Fachausdruck besteht: „Kernspin“ (ML, S. 51): „Ich muß zur Kernspin- / tomographie. / Ich geh‘ nicht gern hin, / denn da erforschen sie, / worin mein Problem besteht, / warum’s mir so phantastisch geht. / Da dab di dubidub dei.“ Wohlbefinden und Wissen erscheinen hier als Gegensätze, und wer will sich sein Behagen schon wegerklären lassen? – „dubidub dei.“

https://www.youtube.com/watch?v=VWumbhHEse8

Avantgardistischen Furor poetischer Wissensverwurstung entwickelt das Chanson „Schickiwiki“ [4] , dessen Text die Form eines Wikipedia-Artikels mit den Abschnitten „Inhalt“, „Form“, „Bezüge und Verweise“, „Abweichungen“ und „Rezeption (ungeprüft)“ hat, und in dem es unter anderem heißt: „Der vollständige Text des Liedes ist mit dem auf Wikipedia über dieses Lied erschienenen Artikel identisch.“ Und: „Die Identität von Liedtext und Artikeltext folgt dem Prinzip der Selbstreferentialität, das von dem Kognitionsforscher Douglas R. Hofstadter anhand der Werke Johann Sebastian Bachs, M. C. Eschers und Kurt Friedrich Gödels einem breiteren Publikum erläutert wurde.“ Poetische Skepsis bedient sich eines populären Modells der Wissensbildung; die Abgrenzung von Poesie und Wissen erfolgt durch die Aufhebung der Grenze von Poesie und Wissen; in der Banalität des Namedroppings kommt (auch) ein poetologisches Bekenntnis zu einer Kunst des zugleich präzisen und beweglichen Denkens daher, die ihr Vorbild außer bei Sokrates auch bei Bach und M. C. Escher findet; und der Kalauer im Titel des Chansons lässt deutlich durchblicken, dass es außer um’s Wissen hier auch um das Bewusstsein des Gewusstseins geht: um das Prinzip der Anerkennung, wie es von dem Anerkennungstheoretiker Axel Honneth anhand der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels einem eingeweihten Publikum erläutert wurde.

Poetischer Gegenstand ist bei Krämer also immer die Bedeutung von Wissen (in einem umfassenden Sinne) für das Ego des Ich. Nicht wissen, aber wissen wollen; wissen, aber das nicht wissen wollen; wissen, dass man nichts weiß; nicht wissen, dass man nichts weiß. Erkenntnisskepsis sowie die Psychologie, Phänomenologie und Soziologie des Wissenwollens erscheinen in diesen Texten als drei Seiten derselben Medaille (deren Seitenzahl dann allerdings alles Wissen von Medaillen übersteigt). Und das ästhetische Instrument zur Darstellung dieses lebensweltlichen Schwankens ist der Perspektivwechsel, wie ihn ein Chanson aus dem Programm Entmachtung des Üblichen auf den Punkt bringt, das mit dem Vers beginnt: „Schau dir das Kino von außen an.“ Wie grundlegend der Perspektivwechsel für Krämers Poetik ist, zeigt dessen poetologischer Anspruch, Lieder zu schreiben, „deren Anfang noch nichts darüber verrät, wie sie enden werden“ [5].

Dieser Perspektivwechsel dient aber weniger einer Klage über die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit als einer Erkundung imaginärer Möglichkeiten, die sich aus diesen Grenzen ergeben. Eine solche poetische Erkundung nimmt besonders konzentriert das Chanson „… daß ich es kann“ aus demselben Programm vor, das allerhand auflistet, was schon deshalb sein könnte, weil es eben nicht ist, und dessen Refrain „Lalalalalala“ in seiner bedeutsamen Bedeutungslosigkeit nicht zufällig das „Da dab di dubidub dei“ anklingen lässt, mit dessen idealerweise endloser Wiederholung das Stück „Kernspin“ endet, ohne zu enden.

Wo Wissen endet, beginnt hier nicht die Götterdämmerung, sondern die Entfaltung Musil‘schen „Möglichkeitssinns“ in einer Poesie, die „Unwissenheit in eine Form bringen“ will. Romantik und romantische Vorstellungen dienen dabei als Modell einer Kunst, die sich von Nützlichkeitsüberlegungen und Wissensverbindlichkeiten ebenso autonom erklärt wie vom kabarettistischen Zwang zur politischen Tagesaktualität, von Feuilletonkompatibilität und von jeder Art Zielgruppenorientierung überhaupt. Das zeigt sich schon daran, dass Krämer in seinen poetologischen Ausführungen – ganz in der Tradition romantischer Genie- und Inspirationsvorstellungen – den schöpferischen Akt der poiesis dem Zugriff des Wissens zu entziehen sucht: „Mein eigentlicher Beruf ist das Liederschreiben. […] Aber wie das geht, weiß ich nicht.“ – „Themen sind für Leute, die Redezeit zu füllen haben. Andere haben Anliegen. Das merkt man dann schon, wenn’s soweit ist.“– „Es gibt keinen Zugang zum Schaffen! Es ist umgekehrt: das Schaffen verschafft sich Zugang zu mir.“– „Daß ich überhaupt nicht weiß, wie ich das eigentlich mache, und daß das mein Ding ist, hängt wohl zusammen. Wir sollten alle nur das in die Zeile Beruf eintragen, wovon wir nicht wissen, wie es geht. Im Hauptberuf Amateur. Alles andere ist unprofessionell.“ [6]

Von romantischen Poetiken unterscheidet sich Krämers Selbstauskunft zur Frage „Herr Krämer, wie schreibt man ein Lied?“ allerdings grundsätzlich durch eine deutlich höhere Wertschätzung des Prosaischen. Denn die Pointe, dass der Künstler sich genau dadurch als Künstler erweist, dass er „nicht weiß, wie ich das eigentlich mache“, wird eingeleitet durch eine eingehende Aufzählung und Beschreibung dessen, was er stattdessen aber sehr wohl weiß: „wie man ein endgeiles Müsli macht, wie man die Spülmaschine ausräumt, wie man bügelt, wie man einem Techniker erklärt, was er für einen Auftritt von mir tun muß, […] wie man singt, wie man atmet, wie man Klavier spielt und wie man übt […] wie man Pointen timet, damit die Leute darüber lachen, wie man ein Programm mit Liedern aufbaut, und wie man etwas auswendiglernt.“ [7] Die Auflistung umfasst des Weiteren „das formal korrekte Anfertigen von Texten in Alter Rechtschreibung, elementare Kenntnisse im GEMA-Recht, […] Kenntnisse, ein Lied mit einer Notationssoftware aufzuschreiben und zu layouten“, „was über Sokrates und andere Philosophen“, „wie man Fragen von Journalisten beantwortet“ und „wie man schöne und unsinnige Antworten auf die Frage danach geben kann, woher die Ideen kommen“. [8]

Während die historische Romantik dazu neigt, in solchen Dingen lediglich Uneigentliches zu sehen, das das poetische Ich in die Zerrissenheit zwischen lebensweltlicher Zerstreuung und der Imagination von Wesentlichkeit treibt, lässt Krämer aus dieser Ausbreitung von vorgeblich 
Nebensächlichem eine Vorstellung vom Eigentlichen entstehen: Die Entmachtung des Üblichen beruht hier auf einer detaillierten Vergegenwärtigung von Üblichem, der Möglichkeitssinn appelliert an einen Sinn für das Gegebene, die ästhetische Freude am Nicht-Wissen setzt eine Vorstellung vom eigenen Wissen voraus. Einer kreislerianischen Zerrissenheit setzt er die Vorstellung davon entgegen, dass die Einheit des eigenen Künstler-Ich gewährleistet wird durch „eine Schere im Kopf“, [9] die das Eigentliche des Menschlichen und damit auch des Poetischen ist.

Die Ethik der Schere im Kopf

Dieses Bekenntnis zur Schere im Kopf ist der Grund dafür, dass Krämers fröhliche Wissenschaft vom Menschlichen, Allzumenschlichen weder die Nichtigkeit aller prosaischen Lebenszusammenhänge propagiert, noch die eigene Erkenntnisskepsis mit vitalistischem Pathos auflädt, um die lebensweltliche Relevanz von Wissen zu leugnen. Das zeigt sich vor allem daran, dass Perspektivverschiebung und Ironisierung von Gewissheiten immer wieder durch das Prinzip der Schwärmerkur ergänzt werden: Zur Überlegung, „… daß ich es kann“ (ML, S. 75), tritt im Werkzusammenhang die Einsicht, dass „die Welt keine Jongleure braucht“: „Kein Jongleur spottet jemals der Schwerkraft, doch die Schwerkraft spottet oft des Jongleurs.“ Und in „Immer noch da, aber unsichtbar“ (ML, S. 146) wird aufgezählt, was verdrängt werden soll, aber sich nicht verdrängen lässt: „Vielleicht wollt ihr es nicht wissen, aber ihr wißt es: / So mancherlei ist erst mal da, / und dann ist es immer noch da, aber unsichtbar.“

Wie sehr hier neben den Grenzen des Wissens auch die Grenzen des Nichtwissens interessieren, zeigt das Chanson „Politiker können nichts dafür“ (ML, S. 140–145). Dort erscheinen Nichtwissen und Nichtwissenwollen als zwei Seiten desselben ethischen Problems: Politikverdrossenheit wird hier entgegen der Mehrheitsmeinung nicht als Problem der politischen Klasse („Warum haben Sie Ihre Wähler nicht erreicht?“) gekennzeichnet, sondern als Problem des Souveräns, vulgo Volks, das hier aber nicht so, sondern „wir“ genannt wird: „Politiker können nichts dafür. / Die Nieten im Amt sind wir.“ Der Text führt vor, wie die Personalisierung von Politik – die „Vertrautheit“ mit den Namen, Zitaten und Images von Politikern – es dem Wir des Textes ermöglicht, durch wohlfeile Geringschätzung von Politikern das Wissen um die eigene staatsbürgerliche Verantwortung für die Gestaltung des Landes zu verdrängen: „schnell umzuschalten“, wenn dieses Wissen um die eigene Verantwortung sich bei dem einen oder anderen „Halbsatz“ eines Politikers doch wieder meldet.

https://www.youtube.com/watch?v=mqNwfT5H9L0

Diese auf Personalisierung beruhende Politikverdrossenheit präsentiert die zweite Hälfte des Refrains als ein Schwärmen, dem der Text die entsprechende Schwärmerkur entgegensetzt: „Man wacht auf und ist König von Deutschland, da wird einem klar, / daß man’s immer schon war.“ Im Formzusammenhang des Textes lässt das Zitat den beim zitierten Rio Reiser geträumten Traum von „alledem und noch viel mehr, das ich machen würde, wenn ich König von Deutschland wär‘“ als bequemes Nichtwissenwollen erscheinen: Nicht wissen wollen, dass man – oder „wir“ – „immer schon“ etwas tun kann und muss. Und im Namen dieser Botschaft leistet sich dieses Chanson am Ende einen im Werkganzen des Künstlers seltenen bis einzigartigen Anflug von Pathos: „Nur wer sich nicht länger für Schwachsinn entlohnen läßt, / geht vielleicht in die Geschichtsbücher ein.“ Dieser Nachdruck beim Erinnern an das bessere Wissen um die eigene Verantwortung im Handeln oder Nichthandeln zeigt, wie sehr das, was 
sich als autonome Kunst versteht, ein sehr handgreifliches ethisches Anliegen haben kann. Anliegen haben andere? Ja. Aber wenn das Ich nicht zugleich ein anderer ist, dann war die Schere im Kopf keine.

https://www.youtube.com/watch?v=6uOb-BvFn6g

Die Poesie des Tatsächlichen

Dass das Prinzip der Schwärmerkur bei Sebastian Krämer aber nicht zwingend zur Krisenerfahrung wird, zeigen Chansons, in denen der Boden der Tatsachen keineswegs ein hartes Pflaster ist: „Kein Liebeslied für dich“ (ML, S. 68–69) und dessen Quasi-Fortsetzung „Erlaubte Liebe“. [10] Beide Stücke entfalten eine Vorstellung, die Christoph Martin Wieland einst auf die Formel brachte: „glückselig, weil er’s war, nicht weil die Welt es wähnte, […] in neidenswerter Ruh ein unbeneidet Leben zu [zubringen].“ [11] Besungen wird jeweils eine Liebe, die „perfekt getarnt als Ehe“ ist, „sogar behördlich registriert“, von der die Welt nichts weiß: „Wer du bist, weiß man schon, wer wir sind, allerdings nur wir.“ Und von der die Welt auch nichts wissen will: weil sie „zwar für uns phänomenal ist, doch den anderen egal ist“. Bezeichnenderweise wird Liebe als Wissen wider besseres Wissen vergegenwärtigt: „Vor dir verberge ich ja nichts erfolgreich, und schon gar nicht das, / was du ja wissen sollst und stets errätst, wenn ich sag‘: ‚Weißte was?‘“

Nun hat die Vorstellung von Liebe als intuitives Wissen voneinander und umeinander auch in der Romantik ihren Platz – im Miniaturformat in Eichendorffs „Es weiß und rät es doch keiner“ oder zeit- und raumgreifend über drei Abende und einen Vorabend im Ring des Nibelungen. Aber anders als dort fehlt hier jegliche Spur von Sehnsucht, was eben als Grund dafür angegeben wird, dass ein Lied über diese Liebe „kein Liebeslied für dich“ sein kann oder will: „Hast du dich nie gefragt, warum’s so wenig frohe Lovesongs gibt? / Nicht nur, weil man kein Lied mehr braucht, wenn man mal endlich glücklich liebt, / sondern weil Tragik unterhaltsam ist, doch Glück kränkt fürchterlich / alle, die’s nicht trifft: Die verzeihen uns kein Liebeslied für dich.“ Gegenstand des Liedes ist also nicht nur die besungene neidenswerte unbeneidete Liebe, sondern im Zusammenhang damit das Verhältnis von Selbstbild und Fremdbild, von Kunst und Leben, Liebe und Romantik. Das wird noch deutlicher in „Erlaubte Liebe“, wo aufgezählt wird, welchen romantischen Vorstellungen von Liebe diese Liebe nicht entspricht: „Das ist der Zauber der erlaubten Liebe, / die gegen kein Gesetz der Welt verstößt […], nicht Fronten verbindet, keine Stände überwindet […,] die keine Kriegserklärung nach sich zieht […,] die keinen foltert oder tötet oder Fußnägel verlötet, / die sich erfüllt und weiter nichts erfleht.“ „Vermögen und Unvermögen der Liedkunst“ erweisen sich hier (wie in dem Chanson dieses Titels) auch an dem Anspruch, romantische Modelle von Kunst und Liebe als Teil eines größeren Repertoires aufzufassen, aus dem das Ich als Mensch und Künstler wählen kann.

Das ästhetische Projekt einer Entmachtung des Üblichen kann also romantische Modelle aufgreifen und fortschreiben wie in den Romantischen Studien. Es kann diese Modelle aber auch katalogartig aufzählend verwerfen, wie die Klischees romantischer Liebe in den beiden bebeipackzettelten Liebesliedern, nämlich dann, wenn Modelle von Romantik selbst Teil des Üblichen geworden sind.

Der Welt gerecht zu werden (denn Jongleure brauchen die Welt), sucht diese Poesie gerade dadurch, dass sie sich nicht mit ihr gemein macht, dass sie also auf der Grenze zwischen Leben und Kunst besteht. Lebensweltliches Leiden und ästhetisches Vergnügen werden hier als Komplemente aufgefasst. Aus demselben Grund, aus dem diese Kunst sich gegen eine Instrumentalisierung für außerkünstlerische Interessen verwahrt, ist eine Poetisierung der Welt aber ebenfalls kein Anliegen. Modelle von Romantik werden hier vor allem deshalb aktualisiert, um inventarisiert zu werden: als kulturgeschichtlich besonders wirkmächtige unter vielen anderen Modellen, aus denen wir uns ein Bild von der jeweils eigenen Wirklichkeit zurechtschneiden – als mehr oder weniger blauer Blumenstrauß. Die Wahrheit dieser Kunst ist die Wahrheit der Schere im Kopf – im Lied vom „Elfenborn“, vom „Sonnenuntergang am Strand von Frankfurt/Oder“, vom „Möllnhausener Riesenrad“, vom „Planetarium“ und vom „Mozartfest Würzburg“, das es in Wahrheit genauso wenig gibt wie das Märchen von der Salzhexe, das der Mann im Bus Linie 104 den greinenden Gören der Mater Dolorosa, die einst passionierte Satanistin … dab di dubidub dei.

 

Anmerkungen

[1] Sebastian Krämer: „Herr Krämer, wie schreibt man ein Lied?“, in: Ders.: Meine Lieder – Das große Sebastian Krämer Songbook, S. 4–6, hier S. 5. – Alle Zitate im Haupttext mit der Siegle ML und Seitenangabe folgen dieser Ausgabe.

[2] Marcus Moetz in einem Interview des DRF1, 23. Februar 2017, in: www.youtube.com/embed/CODXE_ojhYc, abgerufen am 05.11.2019.

[3] Sebastian Krämer: Programmeinführung zu Im Glanz der Vergeblichkeit – Vergnügte Elegien, Konzert 2017, in: https://sebastiankraemer.de/zu-erleben/im-glanz-der-vergeblichkeit-vergnuegte-elegien, abgerufen am 05.11.2019.

[4] Sebastian Krämer: „Schickiwiki“, in: Im Glanz der Vergeblichkeit – Vergnügte Elegien (CD 2018).

[5] Sebastian Krämer in der Sendereihe „Klassik, Pop et cetera“ des DLF, 19. November 2017; auszugsweise nachlesbar in: https://www.deutschlandfunk.de/am-mikrofon-der-chansonnier-sebastian-kraemer-100.html, abgerufen am 05.11.2019.

[6] Krämer: Herr Krämer, wie schreibt man ein Lied?, S. 5ff.

[7] Ebd., S. 4.

[8] Ebd., S. 5.

[9] Ebd., S. 6.

[10] Sebastian Krämer: „Erlaubte Liebe“, in: Im Glanz der Vergeblichkeit – Vergnügte Elegien (CD 2018).

[11] Christoph Martin Wieland: „Musarion. Drittes Buch“, in: Christoph Martin Wieland. Werke, Bd. 4, bearb. von Hans Werner Seiffert, München 1965, S. 354–366, hier S. 362.

 

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