Matthis Glatzel , 21.12.2022

„Individuum und Gemeinschaft in (kosmo-)politischer Perspektive“

Das diesjährige Schleiermacher-Symposium als Beleg einer lebendigen Schleiermacher-Forschung

Alljährlich findet in Martin Luthers alter Wirkungsstätte, der Leucorea in Wittenberg, das Schleiermacher-Symposium statt. Organisiert wird das Symposium von der in Halle ansässigen Schleiermacher-Gesellschaft. Seit 1817 sind die ehemalige Friedrichs-Universität und die Leucorea vereinigt, 1933 erhielten sie den Namenszusatz „Martin Luther“. Dementsprechend finden Veranstaltungen der eigentlich in Halle ansässigen Universität auch in Wittenberg statt.

Neben den Schleiermacher-Kongressen bietet das Symposium Wissenschaftler:innen aus der gesamten Welt die Gelegenheit zum gegenseitigen Austausch und auch in diesem Jahr sammelte sich die Schleiermacher-Forschung im eingeschneiten Wittenberg. Das diesjährige Treffen stand unter dem Titel „Individuum und Gemeinschaft in (kosmo-)politischer Perspektive“. Motiviert war dieses Thema, wie der Vorsitzende Jörg Dierken in der Eröffnung ausführte, durch den Angriff Russlands auf die Ukraine im Frühjahr. Die Auseinandersetzung mit Schleiermacher solle so ganz bewusst auch unter dem Vorzeichen des aktuellen politischen Tagesgeschehens stehen und der Blick richte sich vor allem auf Schleiermachers Individualitätstheorie und deren Implikationen.

In Schleiermachers Philosophie stellt der Begriff „Individuum“, wie er ihn insbesondere in seinen beiden romantischen Frühschriften, den Reden über die Religion und den Monologen ausgearbeitet hatte, einen zentralen Baustein dar. Demnach konstituiert sich das Individuum immer in Wechselwirkung zur Gemeinschaft, beide entstehen erst durch das jeweils andere, die Gegensätze sind relativ. Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ragt somit weit hinein in die politische Sphäre, dem im zweiten Teil des Konferenztitels Rechnung getragen wurde. In dieser Hinsicht fragte Jacqueline Mariña im ersten Vortrag, inwiefern Schleiermachers politische Theorie als Quelle der liberalen Demokratie gelesen werden kann. Mariñas Vortrag ist der freudigen Entwicklung geschuldet, dass in diesem Jahr die angelsächsische Schleiermacher-Forschung deutlich stärker als sonst eingebunden war. Ein Tatbestand, der bereits vergangenes Jahr vorbereitet wurde, als Christine Helmer, Professorin für Religious Studies in an der Northwestern University in Illinois, in den Vorstand gewählt wurde. Mit Mariña, die einen Lehrstuhl an der Purdue University in Indiana innehat, befand sich eine weitere Wissenschaftlerin aus dem internationalen Kontext unter den Vortragenden. Darüber hinaus befand sich eine von Helmer betreute Doktorarbeit unter den Projektvorstellungen. Entgegen der Forschung von Miriam Rose und Andreas Arndt versuchte Mariña in ihrem Vortrag Schleiermacher als demokratie-affinen Denker zu inszenieren. Hierbei verwies sie auf Schleiermachers Ablehnung der neuzeitlichen Vertragstheorien, konstatierte jedoch zugleich, dass Schleiermacher keineswegs ein Rechtsbegriff abgesprochen werden könne. Seine Ablehnung der Vertragstheorien sieht Mariña darin begründet, dass nach Schleiermacher Individuum und Gruppe überhaupt nicht voneinander getrennt werden könnten. Dem entgegen entwerfe er ein Verständnis des Rechts als Verkehr von Individuen. In diesem Sinne inszeniere Schleiermacher, so Mariña, Gesellschaftsbildung als harmonischen Diskurs zwischen Individuen.

Ein solches Potenzial in Schleiermachers Politikverständnis erkennt auch Christine Helmer. Mit Blick auf Schleiermachers Predigten über das Alte Testament arbeitete sie heraus, wie eine politische Theologie im Sinne Schleiermachers verstanden werden könne: Schleiermacher enthalte sich in seinen Predigten einer hohen religiösen Aufladung politischer Handlung, gleichzeitig insistiere er jedoch darauf, dass Christ:innen sich keineswegs – wie im Sinne der pietistisch geprägten Herrnhuter Brüdergemeine, in der Schleiermacher aufgewachsen war –, dem politischen Diskurs enthalten sollten. Vielmehr sollten Christ:innen ihre Überlegungen und Überzeugungen in die Politik hineintragen und dadurch den politischen Diskurs bereichern.

Ähnliche Schlüsse zog auch Arnulf von Scheliha, Professor für Systematische Theologie in Münster. Auch Scheliha sieht in Schleiermachers Denken Potenziale für die liberale Demokratie. Dies macht er vor allem in Schleiermachers frühem Entwurf einer neuen Kirchenverfassung fest. Dieser Entwurf sei geprägt von basisdemokratischen Elementen. Schleiermacher sieht hier für alle kirchlichen Positionen – bis auf den Bischof, der weiterhin vom König eingesetzt werden soll –, Wahlen vor. Darüber hinaus verweist Scheliha auf Stellen, in denen Schleiermacher der Entwurf einer parlamentarischen Verfassung vor Augen zu stehen scheint. Dass Schleiermacher hier die Demokratie nicht explizit affirmiert, liegt, so Scheliha, vor allem am Demokratiebegriff um 1800, der weniger dem heutigen Verständnis von Demokratie denn einer Tyrannei der Mehrheit gleichkommt. So entzieht sich Schleiermacher denn auch einer Festlegung auf eine bestimmte Staatsform, scheint jedoch eine Art Synthese von Demokratie und Monarchie vor Augen zu haben. An der Erbmonarchie möchte Schleiermacher festhalten, gleichzeitig soll der Monarch jedoch außerhalb der politischen Sphäre stehen und das politische Geschehen prüfen. Durch diese Synthese sehe Schleiermacher, so Scheliha, die absolutistischen Elemente der Monarchie eliminiert. In diesem Sinne versteht Scheliha Schleiermacher durchaus als einen Vordenker der Demokratie, weil er vor allem auf kirchlicher Ebene demokratische und vom Monarchen unabhängige Strukturen etablieren möchte.

Roderich Barth wiederum wählte eine ganz andere Zugangsweise zum Individuum-Begriff. Während die anderen Vorträge vor allem die politische Dimension im Blick hatten, insistiert Barth darauf, dass die Rede vom Individuum bei Schleiermacher keineswegs, wie etwa der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Vorwurf an den evangelischen Theologen Adolf von Harnack formuliert hatte, eine Vernachlässigung des Allgemeinen darstelle, sondern vielmehr gleichermaßen die Gemeinschaft im Blick habe. In seinen Monologen, so legte Barth dar, begreife Schleiermacher die Individualität als Mischungsverhältnis. Jedes Individuum besitze der Möglichkeit nach dieselben Anteile, allerdings seien sie in jedem Individuum anders zusammengestellt. Das Individuum zeichne sich hierbei somit durch die ihm eigentümliche Mischung und nicht seinen exklusiven Besitz aus. In diesem Sinne wird das Individuum intersubjektiv und kommunikativ bestimmt und die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gemeinschaft erscheint hierbei als Bestimmung des Menschen. Ähnliche Überlegungen sieht Barth auch im Hinblick auf Schleiermachers zweite Frühschrift, die Reden über die Religion, bestätigt. Es zeige sich nun, dass diese Eigentümlichkeit des Individuums, trotz ihrer Eigenschaft als Mischungsverhältnis, wesentlich unübertragbar sei, wie Barth in Arbeit mit dem späten Schleiermacher, namentlich Ethik, Ästhetik und Psychologie herausarbeitet. Hier attestiert Barth eine Akzentverschiebung: Schleiermachers Interesse ziele vornehmlich auf die Darstellung des Individuums, wie sie sich im Begriff des individuellen Symbolisierens verdichtet. In der Darstellung sei das Individuum jedoch auf Mitteilung und Gemeinschaft angewiesen. Es zeige sich somit für den frühen Schleiermacher und den späten Schleiermacher insbesondere, dass er seinen Individuumsbegriff, entgegen der Vorwürfe, in strenger Wechselwirkung mit der Gemeinschaft entwickele und damit eben keinem subjektiven Solipsismus das Wort rede.

Neben den Vorträgen fanden dieses Jahr wie immer auch Einheiten konzentrierter Textarbeit statt, die die Möglichkeit boten, in konzentrierter Atmosphäre Schleiermachers Denken zu studieren. Den Beginn machte Carolyn Iselt mit einer Einheit zum Rasse-Begriff in Schleiermachers Psychologievorlesungen. Hier konnte vor allem eine Diskrepanz zwischen theoretischer und deskriptiver Ebene festgestellt werden: Während Schleiermacher einerseits einen klaren Rasse-Begriff kennt, den es vor dem Hintergrund der Geschichte des Rassismus zu kontextualisieren gilt, bietet seine Individualitätstheorie doch gerade das Potenzial eines hierarchielosen Verständnisses, eines Miteinanders von Individuen. Einen Seitenblick auf Kants Rechtslehre bot Jacqueline Mariña, die Kants Metaphysik der Sitten zu lesen aufgab. Hier bot sich vor allem die Möglichkeit, die Implikationen einer Rechtsauffassung in Orientierung an der Idee der Freiheit (Kant) und der Idee des Verkehrs (Schleiermacher) zu reflektieren. Zum Schluss bot Dirk Schmid, der ebenso wie Carolyn Iselt am an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten DFG-Forschungsprojekt zu Schleiermachers Christlicher Sittenlehre arbeitet, einen Einblick in ausgewählte Textpassagen aus dem Forschungsbereich. Es zeigte sich, dass Schleiermacher hier einen ganz eigenen politischen, sittlichen Entwurf vorlegte, auf dessen weitere Editionen man gespannt sein darf. Neben den Projektvorstellungen und auch dem Austausch mit internationalen Wissenschaftler:innen zeigte sich, dass die Schleiermacher-Forschung vielseitig und lebendig ist, auch wenn sich sein Denken doch wohl immer nur in unendlicher Annäherung erschließen lassen wird.