Hanna Delf von Wolzogen , 04.06.2025

Neoromantik. Tautologiepoetik. Nicht-Landschaften.

Neue Perspektiven der Romantikforschung anlässlich der Verleihung des Novalis-Preises

Am 3. Mai 2025 wurde in den Rosensälen der Friedrich-Schiller-Universität Jena der Novalis-Preis 2025 verliehen. Der Preis wird von der Internationalen Novalis-Gesellschaft und der Forschungsstelle Europäische Romantik der Universität für herausragende Forschungen zur Romantik und ihren Wirkungen (Dissertationen, Habilitationen) in zweijährigem Turnus ausgelobt.

Am 2. Mai, dem Geburtstag von Friedrich von Hardenberg, hatten die Veranstalter zu einem wissenschaftlichen Kolloquium eingeladen, das sich der Frage nach den „Politiken der Romantik“ widmete.

Ausgezeichnet wurde in diesem Jahr Raphael Stübe für seine Dissertation mit dem Titel „Neoromantik der Jahrhundertwende. Transformationen eines romantischen Erzählmodells um 1900“. Raphael Stübe widmet sich in seiner Arbeit dem literarhistorischen Phänomen der Neuromantik und deren Motiven und Wirkungen, wobei er zum einen diskurstheoretisch nach der Virulenz des Begriffs ‚Neuromantik‘ im medialen Diskurs und auf dem literarischen Markt der Zeit um 1900 fragt und andererseits die Schreibstrategien einzelner Autoren und Autorinnen exemplarisch untersucht, um modelltheoretisch zu beschreiben, was genau sich in neoromantischen Texten im Vergleich zur Romantik um 1800 verändert hat. Ein gewagtes Unternehmen insofern, als schon der Begriff ‚Neuromantik‘ in seiner Zeit nicht mehr kanonisch gebraucht wurde, sondern als einer unter vielfältigen Ismen, literarischen Moden und Lebensreformbewegungen, die eine Moderne propagierten, die sich keineswegs in allen Aspekten als modern erwies. Um so bemerkenswerter, dass es Raphael Stübe in seiner Arbeit gelingt, den Blick nicht nur fokussiert zu schärfen, sondern im Vergleich mit der historischen Romantik um 1800 gerade auch für die problematisch vereinfachenden Tendenzen der Romantik-Rezeption um 1900 zu öffnen.

In seinem Kolloquiums-Vortrag konnte er anhand von Gedichten von Richard Dehmel, eines um 1900 weithin rezipierten Schriftstellers, diese Tendenzen als Monoperspektivierungen (etwa des Begriffes „Liebe“), pluralisierte Synthesen („Erlösungen“) oder Verrätselungen (disguised symbolism) zeigen; mit anderen Worten: die kulturell-gesellschaftlichen Befindlichkeiten hinter Begriffen wie Individuum, Liebe, Natur oder eben Erlösung haben sich im Verlauf des Jahrhunderts von 1800 zu 1900 weitgehend verändert – und mit ihnen das, was man unter „Romantik“ begrifflich wie landläufig verstand und versteht.

Auch Julia Soytek und Martin Ehrler, deren Arbeiten die Jury ebenfalls in die engere Wahl gezogen hatte, betonten in ihren Vorträgen auf je eigene Weise die historische Diskursivität des Romantik-Begriffs.

Julia Soytek wendet sich in ihrer Dissertation zum Thema „Tautologiepoetik. Begründungen frühromantischer Formkunst im Grenzbereich moderner Kommunikation“ mit Foucault den Grenzen des Sprechens und der Sprache zu und nähert sich quasi von außen, nämlich aus systemtheoretischer Perspektive den Werken der (Früh-)Romantiker. In der Zeit um 1800, so konstatiert sie mit Luhmann, habe sich eine neue Art des Sprechens, eine selbstbezügliche, autogenerative Kommunikation durchgesetzt, von der auch die Literatur der Frühromantik in ihrer Formqualität geprägt ist. Seinem Begriff der differentiellen Selbstreferenz setzt sie den Begriff der tautologischen Selbstreferenz (Abbruch, Leerlauf, Verstummen) sozusagen als Kehrseite der Autonomisierung, an die Seite. Die Frühromantiker, so ihre These, hätten in ihren Texten mit der Möglichkeit dieser unterschiedslosen Selbstreferenz „gerechnet“ und Schreibstrategien zu deren Abwehr entwickelt und damit ein neues Formparadigma geschaffen, „das Differenz und Kontingenz in neuartiger Weise zum konzeptuellen Primat macht“; mit anderen Worten: ein Schreiben, das sich selbst als Formbildungsprozess (in der Spannung zwischen Formgewinnung und Formabbau) beobachtbar macht − eine frühromantische „Tautologiepoetik“, so Julia Soytek. Sie fundiert ihre These in der Diskussion von Hegels Romantik-Kritik und anhand formtheoretischer Romantiklektüren in der Folge Benjamins und Luhmanns, um uns schließlich zu tautologiepoetischen Lektüren von Tiecks Blondem Eckbert, Friedrich Schlegels Essay Über die Unverständlichkeit und von Brentano-Gedichten zu führen, wobei auffällt, dass tautologiepoetische Befunde stets in Kontexten prekärer „Sozialität“ auftreten.

Während der Begriff „Sozialität“ in ihrer Arbeit weitgehend unbestimmt bleibt, machte Julia Soytek in ihrem Kolloquiums-Beitrag deutlich, dass es ihr bei ihren formtheoretischen Erwägungen vor allem um Denkmöglichkeiten von Pluralität, verstanden als Denkmöglichkeiten von demokratisch verfassten Gemeinwesen, geht, die von der Generation um 1800 (unmittelbar nach den Umbrüchen der Französischen Revolution) allenfalls rudimentär wahrgenommen werden konnten, uns heute indes um so mehr interessieren.

Auch in Martin Ehrlers Arbeit zum Thema „Nicht-Landschaften. Zur Rezeption der Romantik bei Wolfgang Hilbig und Wolfgang Mattheuer“ geht es um Politiken der Romantik. Ausgehend von einer Foto-Montage von Joachim Jansong „Leipziger Landschaft mit Selbstportrait“ (1982) fokussiert er anhand des romantischen Modells idealer Landschaft auf das Verhältnis von Mensch – Natur, um mit Marc Augé einen topologischen Bezugsrahmen zu entwickeln. Während dessen „Nicht-Orte“ („non-lieux“) die negierende Bewegung des Transitorischen meinen, erhält der Begriff der „Nicht-Landschaft“ bei Martin Ehrler eine politisch existentielle Dimension. Er kann zeigen, dass sowohl Hilbig wie Mattheuer, beide Romantikleser und -kenner, das romantische Form- und Motiv-Arsenal gezielt gegen die offizielle Kunstdoktrin ästhetisch einsetzten, wenngleich mit anderen Konsequenzen. Während Mattheuer in seiner Bildsprache, die Ideal und Realitäten konfrontativ einsetzt, sozialistische Surrealismen erzeugt, überlagern sich Kunst und Leben bei Hilbig. In den verwilderten Landschaften seiner Texte scheinen sich sämtliche Semantisierungen wie in einem negierenden Sog in ihren Grund zurückzunehmen.

Ein romantisches Thema − und zugleich ein eminent politisches. An allen drei Beiträgen des Kolloquiums wurde deutlich, dass sich mit romantischem Arsenal trefflich nachdenken lässt, dass aber über „Romantik“ reden, immer auch heißen sollte, die politisch-historisch-anthropologischen oft schillernden Semantiken von Begriff und Phänomen genau in den Blick zu nehmen.

Wie breit das Spektrum dessen ist, was in und außerhalb der Wissenschaften unter Romantik verstanden werden kann, zeigte Sandra Kerschbaumer in ihrem Impulsreferat. Lang ist die Liste der Vorwürfe gegen die Romantik (Träumertum, Utopimus, Subjektivismus, Irrationalismus, Profaschismus) und die Liste ihrer antikapitalistischen, liberalen und libertären Indienstnahmen bis heute. Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte der Romantik von Hegel und Lukács einerseits bis Kropotkin und Rorty andererseits zeigt, dass wir es stets mit Vereinfachungen und Funktionalisierungen zu tun haben, von denen auch die wissenschaftlichen Diskurse nicht immer frei waren. Kerschbaumer mahnte daher einen verantwortlichen wissenschaftlichen Umgang mit den historischen Befunden an und fragte, mit Blick auf die Gegenwart, wer heute auf Konzepte und Ideen von Novalis, Schlegel, Adam Müller oder Caspar David Friedrich zurückgreife. Mit Blick auf den neurechten Vordenker Götz Kubitschek, der mit Novalis‘ „Christenheit oder Europa“ eine Konsensbildung jenseits demokratischer Mehrheitsentscheidungen propagiert (Sezession, April 2022), oder den Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke, der sein Rechts- und Verfassungsordnung abwertendes Politikverständnis auf eine „romantische Tiefenhellsichtigkeit der Deutschen“ (Nie zweimal in denselben Fluss, 2018) bezieht, müsse immer wieder gefragt werden, inwieweit solche Bezüge sich einem Kernbestand vermeintlich „romantischer Traditionen“ verdanken, oder ob es sich dabei nicht vielmehr um politisch motivierte Symbolpolitiken handelt, die durch präzise ideengeschichtliche Kontextualisierung (wie dies Matthias Löwe und Tilman Reitz getan haben) zu widerlegen sind.

Die Diskussion des Nachmittags zeigte, wie vielschichtig die Problematik sich im Fächerkanon der Wissenschaften, aber auch in europäischer Perspektive darstellt. Nicht zuletzt deshalb wäre es wünschenswert, wenn Forschungseinrichtungen und Gedenkstätten und Museen als Wissensvermittler in die breitere Öffentlichkeit noch enger zusammenarbeiten würden. Wie erfolgversprechend das sein kann, bewies auch die Festrednerin Anne Bohnenkamp-Renken am Konzept des Frankfurter Romantik-Museums. Die Forschungsstelle Europäische Romantik der Friedrich-Schiller-Universität Jena und die Internationale Novalis-Gesellschaft Oberwiederstedt, das erwies sich auch in diesem Jahr, tragen mit dem Novalis-Preis wesentlich dazu bei.

Raphael Stübe, Foto: privat