Joanna Raisbeck , 28.03.2022

Rezeptionsphänomen und metaphysische Dichterin: Karoline von Günderrode

Karoline von Günderrode kann als besonders aufschlussreiches Beispiel dafür dienen, wie die Rezeption eines dichterischen Werks immer wieder durch biografische Bilder bestimmt wird. [1] Ihre zwei zu Lebenszeiten erschienenen Sammelbände – Gedichte und Phantasien (1804) sowie Poetische Fragmente (1805) – wurden zwar wohlwollend rezensiert. Berühmt wurde sie durch ihren Selbstmord im Juli 1806, der in intellektuellen Kreisen Erstaunen und im Bekannten- und Familienkreis Bestürzung auslöste. Günderrodes literarischer Ruhm entstand erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Bettine von Arnims Briefroman Die Günderode (1840) sowie in der zweiten Hälfte 20. Jahrhundert durch Christa Wolfs Werkausgabe Die Schatten eines Traumes (1978) und ihren Roman Kein Ort. Nirgends (1979).

Die Rezeptionsgeschichte Günderrodes zeugt von der kritischen Anziehungskraft der Biografie. „Die Günderrode ist eine Dichterin ohne große Dichtung, jedoch mit großem Schicksal“ [2] – behauptet Hannelore Schlaffer im Nachwort zu ihrer Reclam-Auswahl von Günderrodes Werken. Der Analyse von Gerhard Schulz zufolge gilt eine aufsehenerregende Biografie als „Das Schlimmste, was einem literarischen Werk widerfahren kann [...] von solcher Belastung emanzipiert es sich nur schwer“ [3]. Im Vergleich zur Novalis-Rezeption – die gleichermaßen von mythisierten Bildern geprägt war – hat Günderrode keine bedeutende Rolle in der Literaturgeschichte eingenommen. Zwar bezeichnete Goethe die erste Sammlung von Günderrodes Gedichte und Phantasien als „wirklich eine seltsame Erscheinung“ [4], dafür fehlte es Günderrodes Werken an nachhaltiger Wirkung und publizistischem Erfolg. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erwarb der Literaturhistoriker und Begründer des Goethe-Jahrbuchs Ludwig Geiger Günderrodes Nachlass von der Familie und stellte fest, dass die beiden zu Günderrodes Lebzeiten erschienenen Sammlungen so selten geworden waren, dass sie als begehrte Sammlerstücke galten. [5]

Trotz dem Erscheinender von Walter Morgenthaler herausgegebenen Sämtlichen Werke und ausgewählten Studien (1991) gibt es bisher nur wenige kritische Versuche, Günderrode in Zusammenhang zu bringen mit den literarischen und philosophischen Entwicklungen um 1800. Dieser Mangel ergibt sich zum Teil aus der Besonderheit des Günderrode’schen Korpus selbst: zwar klein, aber formal und thematisch derart vielfältig, dass es sich einer Gesamtinterpretation entzieht. Dass die bisherige Günderrode-Forschung zu einer Auseinandersetzung mit bestimmten Themen tendierte, führt dazu, dass die Gesamtdeutung der Werke Günderrodes noch ein Desiderat in der literaturwissenschaftlichen Forschung bleibt.

In meiner Arbeit zu Günderrode bin ich deshalb der Frage nachgegangen, wie das Werk Günderrodes durch die Neuinterpretation der spinozistischen Philosophie nach dem Pantheismusstreit der 1780er Jahre zu verstehen ist. Der Pantheismusstreit war von solcher Bedeutung, dass sogar die frühesten Interpretationen der Kritiken Kants – wie Reinholds Briefe über die kantische Philosophie (1786–1788) – mit dieser Debatte zutiefst verflochten sind. [6] Der Pantheismus, einst in der Frühaufklärung mit dem radikalen Atheismus und dem Materialismus in Verbindung gebracht, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts durch die Neuinterpretation Spinozas hoffähig. [7]

Um 1800 übte der Pantheismus – oder genauer gesagt der Panentheismus – eine besondere Anziehungskraft aus. Der Begriff ‚Panentheismus‘ wurde im 19. Jahrhundert von Karl Christian Friedrich Krause, ein Schüler Schellings, geprägt. Die Gefahr des Pantheismus – so Krause – bestehe darin, dass Natur und Gott miteinander vermischt würden und sogar ineinander übergingen – und somit käme der Pantheismus dem Atheismus gleich. Um diese Gefahr zu vermeiden, wird mit dem Panentheismus der Gedanke möglich, dass Gott zwar in der Natur gegenwärtig ist, aber zugleich auch über sie hinausgeht und transzendent bleibt. Das Werk Günderrodes weist eine überwiegend panentheistische Metaphysik auf, obwohl sie in der letzten Sammlung, Melete, ausgeprägt pantheistische Züge annimmt. Anders als bei anderen philosophischen Dichtern wie Hölderlin oder Novalis vertritt Günderrode einen erstaunlich konsequenten Pantheismus, der in ihren frühesten Arbeiten und Studien schon vor 1800 bis zur letzten Sammlung Melete (1806) erkennbar ist. So wird Günderrode zum besonders spannenden Fall für die Fragestellung, warum der Pantheismus spinozistischer Prägung so bedeutend für die Frühromantiker war.

Es gibt mehrere Gründe, warum der Pantheismus zum metaphysischen Konstrukt bei Günderrode wurde. Der Gott der orthodoxen Theologie war transzendent, von der Welt der Schöpfung getrennt und nur durch die geoffenbarte Wahrheit der Heiligen Schrift und durch Wunder zu erkennen. Der Gott des Pantheismus dagegen ist in allen Naturphänomenen innewohnend. Der Pantheismus verändert aber auch das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur und wird in diesem Sinne zum Naturalisierungsversuch des Individuums. Denn durch den Pantheismus wird das Individuum in die Natur eingebunden und somit wird die künstliche Trennung zwischen dem menschlichen Intellekt und einer erstarrten Form der Natur als Gegenstand der wissenschaftlichen und empirischen Forschung aufgehoben. Oder um es streng philosophisch zu formulieren: Es geht darum, die Trennung zwischen Subjekt und Objekt aufzulösen, um die grundlegende Einheit – bei Günderrode – allen belebten Lebens zu erkennen. Die Natur wird durch empirische und naturwissenschaftliche Forschung zum passiven Objekt der menschlichen Erkenntnis, und dies ist mit der Vorstellung von Materie selbst als passiv verbunden, die der mechanistischen Kausalität der Natur unterworfen wird. Ein Verständnis der Materie als beseelt, als belebt, lässt sich am deutlichsten in Günderrodes Werk nach 1804 nachweisen, wo der Einfluss Schellings unverkennbar wird. Schellings frühe Naturphilosophie war zum Teil der Versuch, die Ergebnisse der empirischen Naturwissenschaften metaphysisch zu begründen, sodass Empirie und Metaphysik sich wechselseitig legitimierten.

Die Lebendigkeit des Universums wird bei Günderrode zum zentralen metaphysischen Prinzip. Der Begriff ‚Leben‘ und die damit verbundenen Synonyme bilden bei Günderrode ein häufig vorkommendes Semantikfeld. [8] ‚Leben‘ ist ein Begriff von metaphysischer Bedeutung. Da der göttliche Geist aller Materie innewohnt, kann die Materie selbst durch diese geistige Dimension aufgewertet werden. Die Aufhebung der Hierarchie, die den theistischen oder diestischen Gott und die Welt unterscheidet, hat den Vorteil, dass sie den verheerenden Folgen eines kalten Materialismus vorbeugt. Stattdessen wird die Materie vergöttlicht und vergeistigt.

Günderrodes Studien zu Schellings Bruno, oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge (1802) bereiten den Boden für die eigene Kosmologie der Jdee der Erde (1806), die als philosophischer Entwurf der Briefe zweier Freunde fungiert. In Günderrodes Studien ist auch ein Auszug zu finden, der in genauer Anlehnung an Schelling die Materie als das ewige, grundlegende Prinzip bezeichnet: „Die wahre Idee des Materialismus ist früher verlohren gegangen, demnach ist die Materie selbst das einfache, unveränderliche Ewige, das Eine, das über allen Gegensatz erhaben ist“ [9]. Bei Günderrode lässt sich diese Aufwertung der Materie und des Materialismus als geistiges Prinzip in den Briefe[n] zweier Freunde feststellen. Mit ihr verbunden ist die Darstellung der göttlichen Vollkommenheit als „ein wahrhaft verklärter Leib“ [10], befreit von sämtlichen Mängeln der körperlichen Materie im philosophischen und religiösen Sinne.

Ein Vorteil dieses Verständnisses der vergeistigten Materie besteht darin, dass sie die Gefahr des mechanischen Materialismus vermeidet, der mit der Radikalität der französischen Denker des 18. Jahrhunderts wie Julien Offray de La Mettrie verbunden war. Auch wenn im deutschsprachigen Raum der Materialismus nicht so stark vertreten war, so wurde ein reduktiver Materialismus zum Gegenstand der Angst. [11] Bei Günderrode ist ein vollkommen materialistisches Verständnis des Individuums in diesem Sinne unmöglich, weil dabei die Autonomie und Handlungsfähigkeit des Einzelnen ausgelöscht wird. Wenn das Individuum vollständig in der kausal-deterministischen Natur aufgeht, dann wird das Konzept der menschlichen Handlungsfähigkeit derart bestimmt, dass es vollständig von äußeren Gesetzen abhängig ist.

Dieses Problem des Determinismus wird von Günderrode in drei fragmentarischen Texten aus dem Nachlass besonders deutlich dargelegt. Es handelt sich dabei um Traumerzählungen, die bei Günderrode eine Besonderheit darstellen, weil sie biografische Bezüge aufweisen. Alle befassen sich mit dem Determinismus und auch mit der prophetischen Funktion von Träumen, die im Leibniz’schen Sinne als Offenbarung von Wahrheiten über das Universum verstanden werden. Das zweite Fragment stellt den Determinismus infrage und hat zum Thema das Vorauswissen des Todes zweier Schwestern des Erzählers bzw. der Erzählerin – hier eine Anspielung auf die zwei kurz hintereinander verstorbenen Schwestern Günderrodes. Der Ich-Erzähler bzw. die Ich-Erzählerin sieht sich in der Offenbarung eines deterministischen Weltverständnisses mit dem Horror-Vacui konfrontiert – nicht nur mit dem Schrecken des Nichts aufgrund der Tode der Verwandten, sondern auch mit dem Schrecken des Todes Gottes:

Jch hatte zwei Schwestern, die Älteste liebte ich vorzüglich weil sie mit mir eine grosse Ähnlichkeit der Gesinung hatte; ich war seit mehrern Wochen von ihr entfernt und dachte oft mit Sehnsucht und Liebe an sie, da träumte mir einst diese beide Schwestern seyn gestorben, ich war sehr traurig darüber. Da erschienen mir ihre Geister in dem Hofe eines alten Hauses indem wir einen grossen Theil unserer Jugend verlebt haben. Sie traten beide aus einer dunkeln Kammer, vor der ich immer einen gewissen Schauer gehabt hatte. Es war Nacht, eine feuchte Herbst-Luft wehte und reichlicher Regen fiel herab. Meine ältere Schwester nahte sich mir, und sprach: Eine ewige kalte Nothwendigkeit regiret die Welt, kein freundlich liebend Wesen. Jch erwachte; Es träumte mir noch mehrmals sie sei gestorben obgleich sie sehr gesund war. Nach zwei Jahren erfülte sich der Traum, beyde starben kurz nacheinander – [12]

Was hier hervorzuheben ist, ist die unmotivierte Erklärung der älteren Schwester, dass „eine ewige kalte Nothwendigkeit die Welt regiert, kein freundlich liebendes Wesen“. Um der Logik des Textes zu folgen: Die Wahrheit dieser entsetzlichen Offenbarung wird implizit bestätigt, weil die Vision vom Tod der Schwestern Wirklichkeit wird („Nach zwei Jahren erfülte sich der Traum“). Ebenso faszinierend ist die literarische Vorlage für diese Offenbarung: Die Formulierung „eine ewige kalte Nothwendigkeit“ ist eine Anlehnung an Jean Pauls Siebenkäs (1797), und zwar an das bekannte Blumenstück Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab. Bei Jean Paul bietet das Ende des Traums eine chaotische Vision des sich selbst vernichtenden Kosmos, während die Rahmenerzählung des Blumenstücks die nihilistischen Elemente des Traums zu verneinen versucht.

Günderrodes Anlehnung an Jean Paul ist aufschlussreich, denn es handelt sich um ein Zitat aus der vorletzten Rede des auferstandenen Christus: „Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich?“ [13] Günderrode ersetzt Christus durch den Geist der älteren Schwester, die Klagen Christi werden aber auch zu einem Moment von intensiver, schockierender Kürze. Der Schluss des Fragments wirkt düster im Vergleich zum wiederholten Glaubensbekenntnis bei Jean Paul. Der Wahrheitsgehalt der Aussage wird bei Günderrode nicht ausdrücklich widerlegt, sondern einfach so belassen – ohne nähere Erläuterung.

Die explizite Aussage der Schwester wird jedoch dadurch relativiert, dass sie erst post mortem zum Ausdruck kommt. Im Traum sind die Schwestern bereits gestorben und ihre Geister erscheinen. Im Traum selbst gibt es, so scheint es, ein Leben nach dem Tod und die Transzendenz zugleich. Durch die Offenbarung, die der Geist der toten Schwester verkündet, wird ein Aspekt des Materialismus diskursiv bestätigt – der Determinismus. Ein anderer Aspekt des Materialismus, nämlich die Vergänglichkeit, wird verneint, wenn auch nur performativ und nur im Traum. Was im Wachzustand wahr ist, bleibt ungesagt. Es gibt weitere Träume und die Schwestern sterben innerhalb von ein paar Jahren. Über weitere Erscheinungen im wirklichen Leben wird nichts berichtet. Zwischen dem Traum und der Realität bleibt der Leser bzw. die Leserin in einer gewissen Skepsis gegenüber der Verheißung eines Lebens nach dem Tod, als Gegenbild zur düsteren Vorstellung des Determinismus.

Zwar kann das Leben nach dem Tod weder bestätigt noch verneint werden, aber was hier infrage gestellt wird, sind die durch den orthodoxen Glauben bekräftigten Wahrheiten. So gibt es vielleicht keine Auferstehung, kein ewiges Leben und keine Transzendenz. Wie bei Jean Paul legt Günderrode das Schwergewicht auf die Abwesenheit von Liebe, wie beispielsweise in der Gegenüberstellung von „Notwendigkeit“ und „kein freundlich liebendes Wesen“ zu erkennen ist. Was hier verloren geht, ist auf ein bestimmtes Verhältnis zurückzuführen – auf die sinnvolle, emotionale Verbindung des Individuums zu einem persönlichen Gott. Im weiteren Sinne geht auch die Verbindung zur materiellen Wirklichkeit verloren, die ebenfalls von einer liebenden Gottheit abhängig ist.

Was Günderrode durch die Abwesenheit von Liebe zum Ausdruck bringt, ist auch eine Form des mechanistischen Naturalismus. Wenn das Individuum vollständig den Gesetzen der Natur – in Form der Notwendigkeit – unterworfen ist, dann wird das Individuum zum Zeugen der eigenen Existenz, nicht zu deren primärem Akteur. Die Klage in Günderrodes Text gilt daher nicht nur den prophezeiten Toden der Schwestern, sondern auch dem metaphorischen Tod des Individuums als sinnvollem, eigenständigem Konstrukt, das die Fähigkeit zur Selbstentfaltung und -verbesserung hat.

Diese kurze Traumerzählung verweist auf eine philosophische Gratwanderung. Die Überhöhung des individuellen Intellekts über die Natur mag die Natur als reinen Untersuchungsgegenstand erstarren lassen, während die Einbindung des Individuums in die Natur Gefahr läuft, jedes Individuum vollständig durch deterministische Naturgesetze zu bestimmen. Günderrode thematisiert in ihrem Werk immer wieder die Grenzen des menschlichen Intellekts und Erkenntnisstrebens gegenüber der Natur – von den Gedichten Der Adept (1804), Des Wandrers Niederfahrt (1804) bis zum Schicksalsdrama Magie und Schicksal (1805) und zum balladenartigen Gedicht Eine persische Erzählung (1806).

Bei dieser Traumerzählung und der Darstellung des existenziellen Schreckens des Determinismus aber lässt sich das Erbe des Pantheismusstreits in Günderrodes Werk eindeutig erkennen. Im Kern des Pantheismusstreits standen Fragen des Determinismus, Fatalismus sowie die der menschlichen Autonomie und Handlungsfähigkeit. Um die Besonderheit Günderrodes auszuarbeiten, ist hier eine kurze Skizze des Pantheismusstreits nötig. Der Auslöser des Streits war bekanntlich der Philosoph Friedrich Heinrich Jacobi. Einer von Jacobis Hauptvorwürfen gegen Spinoza war der angebliche Fatalismus der spinozistischen Philosophie. Jacobi zufolge funktioniert der Fatalismus als Folge der blinden Notwendigkeit, ohne Zweck oder intelligente Ursache. Jacobis Interesse galt dem philosophischen Problem der Freiheit und wie die Freiheit mit der umstrittenen Frage der letzten Ursachen in Zusammenhang zu bringen ist, die ein Element zielgerichteter Zweckmäßigkeit zur Kausalität hinzufügt. Soll es keine letzten Ursachen geben, so entpuppt sich die Freiheit als reines Phantasiegebilde und wird somit durch den Fatalismus ersetzt. Bei Jacobi – genauso wie bei Günderrode – wird das Individuum zu einem passiven Beobachter der eigenen Existenz, dessen Handlungen aber durch äußere Ursachen und nicht durch Gedanken, Affekte oder Leidenschaften bestimmt werden:

Wenn es lauter würkende und keine Endursachen gibt, so hat das denkende Vermögen in der ganzen Natur blos das Zusehen; sein einziges Geschäffte ist, den Mechanismus der würkenden Kräfte zu begleiten. Die Unterredung, die wir gegenwärtig miteinander haben, ist nur ein Anliegen unserer Leiber […] Denn auch die Affekten und Leidenschaften würken nicht, in so ferne sie Empfindungen und Gedanken sind; oder richtiger – in so ferne sie Empfindungen mit sich führen. Wir glauben nur, daß wir aus Zorn, Liebe, Großmuth, oder aus vernünftigem Entschlusse handelten. Bloßer Wahn! In allen diesen Fällen ist im Grunde das was uns bewegt ein Etwas, das von allem dem nichts weiß, und das, in so ferne, von Empfindung und Gedanke schlechterdings entblößt ist. [14]

Dieser Fatalismus ist – so Jacobi – eine der Folgen von Spinozas Philosophie. Spinoza verneint die Eigenschaften, die dem Menschen in der kartesischen Philosophie zugesprochen werden – dass der Mensch nach Gesetzen handelt, die sich von denen der physischen Natur unterscheiden. [15] Dies hätte zur Folge, wie Hasana Sharp darlegt, dass keine Willenskraft, ob göttlich oder menschlich, unabhängig von der natürlichen Ordnung von Ursachen und Wirkungen zu wirken vermöge. [16] Was bei Günderrode zum Schreckenserlebnis wird, entspricht genau dem radikalen Naturalismus, den Jacobi mit Spinoza in Verbindung bringt.

Aus einigen Gründen mag es paradox erscheinen, sich an den Spinozismus zu wenden, um gegen den Materialismus und den Determinismus vorzugehen. Doch genau das taten Lessing, Goethe und Herder in einer bedeutenden Neuinterpretation der Philosophie Spinozas. [17] Diejenigen, die Spinoza begeistert aufnahmen, brachten eine heterodoxe Lesart von Spinoza in Form des Pantheismus und Panentheismus hervor, die sich von seinen früheren Nebenbedeutungen des Mechanismus, Atheismus, Fatalismus und Nihilismus löste. [18] Hatte man früher von Spinoza „wie von einem toten Hunde“ gesprochen, wie Lessing zu Jacobi gesagt haben soll [19], so wurde er von der frühromantischen Generation und vor allem von Hölderlin, insbesondere im Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797–99), wie von Schleiermacher, Novalis und Friedrich Schlegel in ehrfürchtiger Weise umgedeutet. [20] Der philosophische Vorteil des Spinozismus besteht darin, dass die Vorstellung des deus sive natura das Desiderat des Idealismus und der Romantik nach einem absoluten Grund oder einer Einheit des Seins erfüllt. Frederick C. Beiser fasst zusammen, wie Spinozas Monismus auf diese Generation der Frühromantiker wirkte. Dies liegt zum Teil daran, dass er eine religiöse Funktion übernahm. Der Spinozismus bot eine Alternative zur Orthodoxie des Theismus auf der einen und zur wissenschaftlichen und empirischen Wissensbildung auf der anderen Seite. [21]

Moses Mendelssohn unternahm den Versuch, christliche Konzepte mit Elementen des Spinozismus zu vereinigen, um die Philosophie Spinozas in einen sogenannten geläuterten Pantheismus umzugestalten, der „gar wohl mit den Wahrheiten der Religion und der Sittenlehre bestehen könnte“ [22]. Dabei wurde eine Skala der Vollkommenheit in die Philosophie Spinozas eingefügt, sodass sie dem Leibniz-Wolff’schen Optimismus nahekam: Dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen und für die Menschheit gewählt habe. Johann Gottfried Herder war aber die zentrale Figur der sogenannten Spinoza-Renaissance, der die positiven Aspekte vom spinozistischen Monismus und Fatalismus mit dem Christentum zu vereinigen versuchte. Im „Vierten Gespräch“ von Gott. Einige Gespräche (1789) erläutert Herder die Knechtschaft des individuellen menschlichen Willens – und wie diese in Wirklichkeit zur höheren Freiheit führt: „Mir ist kein Weltmeister bekannt, der die Knechtschaft des menschlichen Willens gründlicher auseinandergesetzt und die Freiheit desselben vortrefflicher bestimmt habe als Spinoza. Dem Menschen ist kein geringeres Ziel der Freiheit vorgesetzt als die Freiheit Gottes selbst, durch eine Art innerer Notwendigkeit, d. i. durch vollständige Begriffe, die uns Erkenntniß und Liebe Gottes allein gewähren können, über unsre Leidenschaften, ja über das Schicksal selbst Herren zu werden. Gründlich beweist es Spinoza, daß, wenn man Freiheit für tolle, blinde Willkür nimmt, der Mensch ebenso wenig als Gott selbst den edeln Namen der Freiheit verdiene; vielmehr gehört es zur Vollkommenheit der Natur Gottes, daß er auf diese Art nicht frei ist, d. i. daß er eine blinde Willkür nicht kenne, wie es denn auch zur Vollkommenheit seiner Werke gehört, daß tolle Willkür aus der ganzen Schöpfung verbannt ist“ [23].

Um den Vorwurf des Fatalismus zu vermeiden, wird bei Herder Gott und damit auch der Natur absolute Freiheit zugeschrieben. Freiheit, so wird impliziert, umfasst sowohl Zweckmäßigkeit als auch den Determinismus, im Gegensatz zu der Verbindung von Freiheit mit Willkür („tolle Willkür“). Der menschliche Wille wird also durch eine globale Form des Determinismus unterjocht. Durch die Anerkennung der eigenen Unterjochung wird eine andere, höhere Freiheit möglich. Das Individuum hat Anteil an der göttlichen Freiheit, weil er ein Teil des Ganzen ist. Wenn der Einzelne „durch eine Art innerer Notwendigkeit“ handelt, wirkt auch das Göttliche durch den Einzelnen. Die Bestimmung durch Gott und die Natur stimmt mit der Selbstbestimmung überein. Herder folgt hier der Ethik Spinozas. Durch Erkenntnis und Liebe kommt das Individuum zur Beherrschung seiner Leidenschaften und kann kraft innerer Notwendigkeit handeln. Dies entspricht und zeugt von einer Faszination für Spinozas Lehre des amor dei intellectualis, der intellektuellen Liebe zu Gott. [24]

Günderrode war sich dieser Aneignung von Spinozas amor dei intellectualis durch Herder und andere Frühromantiker bewusst. Obwohl Günderrodes Lektüre von Herders Gott. Einige Gespräche nicht zu belegen ist, setzte sie sich mit seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit auseinander, die ebenfalls einen vitalistischen Spinozismus und eine Kraftontologie vertritt. Herders Umformulierung des mechanistischen Substanzbegriffs, der zum kartesischen Erbe Spinozas gehörte, in eine von Leibniz übernommene, dynamische, lebendige Kraft – macht das Individuum zum aktiven Akteur. Denn die Handlungen des Individuums tragen notwendigerweise zur Entwicklung des Selbst und damit auch zur Entwicklung des Ganzen bei. Die Gesamtheit der vergöttlichten Natur und das Individuum stehen also in einem Wechselverhältnis. Welche Form dieses Verhältnis genau annimmt, variiert bei Günderrode, aber die grundlegende Struktur bleibt dabei durchaus stabil. Durch die Neuformulierung der Substanz als Kraft wird die Notwendigkeit auch innerhalb des Individuums verortet. Stattdessen übernimmt das Individuum eine teleologische Funktion, indem es bei Herder zu einer göttlichen, reinen selbstverwirklichenden Tätigkeit beiträgt, deren Ende bei Günderrode als ein Zustand der Vollkommenheit aufgefasst wird.

Die Vervollkommnung des Selbst bereitet bei Günderrode den Boden für eine universelle Form der Vollkommenheit. Dieser Zustand der Vollkommenheit ist zwar lang ersehnt, wird aber auch ambivalent dargestellt. Da aber die Vollkommenheit letzten Endes und notwendigerweise zum Stillstand führt, gefährdet er dabei die Dynamik der vitalistischen-spinozistischen Metaphysik Herderscher Prägung. Die Vollkommenheit selbst wird zum unerreichbaren regulativen Prinzip bei Günderrode. Was bleibt, ist ein dynamischer Prozess oder – um mit Manfred Frank und Hölderlin zu sprechen – ein Prozess der unendlichen Annäherung.

Schon 1799 war Günderrodes Gottesverständnis der Vorstellung verpflichtet, dass Gott in der Welt existiert und sich im Laufe der Geschichte entwickelt. Als Günderrode die Übersetzung Ludwig Gotthard Kosegartens von Vaninis Ode an Gott, „Deo“, in ihr Studienbuch abschrieb, fügte sie Varianten des Satzes „Ich bin alles was ist, was war, und was sein wird“ ein. [25] Diese ursprünglich von Plutarch stammende Formulierung verrät, so Annette Simonis, spinozistische Sympathien am Ende des 18. Jahrhunderts. [26] Der spinozistische Pantheismus ist also fester Bestandteil des Günderrod’schen Werks, der mit den Vorstellungen des geschichtlichen bzw. metaphysischen Fortschritts verknüpft ist, in ihren Dramen wie Mahomed, der Prophet von Mekka (1805) und auch in ihren späteren philosophisch geprägten Texten wie Briefe zweier Freunde.

 

Anmerkungen

[1] Marina Rauchenbacher: Karoline von Günderrode. Eine Rezeptionsstudie, Würzburg 2014, S. 13.

[2] Karoline von Günderrode: Gedichte, Prosa, Briefe, Stuttgart 1998, S. 131.

[3] Gerhard Schulz: „Träume eines Stiftfräuleins. Zum 200. Geburtstag der Karoline von Günderrode“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Februar 1980.

[4] Johann Wolfgang Goethe: „Briefe. Anfang 1804–9. Mai 1805“, in: Goethes Werke, Abt. 4, Bd. 17, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1895, S. 131f.

[5] Ludwig Geiger: Karoline von Günderode und ihre Freunde. Mit dem Porträt der Dichterin, Stuttgart [u. a.] 1895, S. 1.

[6] Frederick C. Beiser: The Fate of Reason: German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge 1987, S. 44f.

[7] Margaret C. Jacob: The Radical Enlightenment: Pantheists, Freemasons and Republicans, London 1981, S. 224.

[8] Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien, Bd. 3, hg. von Walter Morgenthaler, Frankfurt am Main [u. a.] 2006, S. 391–396.

[9] Günderrode, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 404.

[10] Günderrode, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 360.

[11] Jonathan B. Knudsen: Justus Möser and the German Enlightenment, Cambridge 1986, S. 4.

[12] Günderrode, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 444.

[13] Jean Paul: „Siebenkäs“, in: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 2, hg. von Norbert Miller, Darmstadt 1987, S. 274.

[14] Friedrich Heinrich Jacobi: „Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785)“, in: Ders.: Werke: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 1, hg. von Klaus Hammacher/Irmgard-Maria Piske, Hamburg 1998, S. 20–21.

[15] Michael Della Rocca: Spinoza, Abingdon 2008, S. 6.

[16] Hasana Sharp: Spinoza and the Politics of Naturalization, Chicago 2011, S. 2.

[17] Herbert Lindner: Das Problem des Spinozismus im Schaffen Goethes und Herders, Weimar 1960, S. 176.

[18] John H. Zammito: „Herder, Kant, Spinoza and die Ursprünge des deutschen Idealismus“, in: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, hg. von Marion Heinz, Amsterdam 1997, S. 106–144.

[19] Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, S. 27.

[20] „Opfert mit mir ehrerbietig eine Lokke den Manen des heiligen verstoßenen Spinoza!“, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: „Reden über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“, in: Kritische Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 12, hg. von Günter Meckenstock, Berlin 1995, S. 58.

[21] Frederick C. Beiser: The Romantic Imperative: The Concept of Early German Romanticism, Cambridge 2003, S. 141f.

[22] Moses Mendelssohn: „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes“, in: Gesammelte Schriften: Jubiläumsausgabe, Abt. 3, Bd. 2, hg. von Leo Strauss, Stuttgart-Bad Canstatt 1974, S. 133.

[23] Johann Gottfried Herder: „Gott. Einige Gespräche“ in: Werke in zehn Bänden, Bd. 4, hg. von Jürgen Brummack/Martin Bollacher, Frankfurt am Main 1994, S. 741–742.

[24] Wolfgang Janke: „Amor Dei intellectualis (Spinoza – Jacobi – Fichte – F. Schlegel – Schelling). Vom Aufstieg des Geistes zur Gottesliebe“, in: Geist, Eros und Agape: Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst, hg. von Edith Düsing/Hans-Dieter Klein, Würzburg 2009, S. 291–310.

[25] Max Preitz/Doris Hopp: „Karoline von Günderrode in ihrer Umwelt, III. Karoline von Günderrodes Studienbuch“, in: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts (1975), 223–323. Siehe auch Ludwig Gotthard Kosegarten: „Vanini’s Hymne“, in: Poesieen: Erster Band, Leipzig 1798, S. 35–38.

[26] Annette Simonis: „‚Das verschleierte Bild‘: Mythopoetik und Geschlechterrollen bei Karoline von Günderrode“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft 74 (2000), S. 254–278.

 

Der Beitrag ist unter dem folgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59152

Carl Theodor Reiffenstein, „Der Hof derer von Günderrode“, 1857.