Ruth Barratt-Peacock , 14.06.2019

„Romantik und Moderne“

Fachtagung der Internationalen Novalis-Gesellschaft 2019 (Oberwiederstedt, 02.–05.05.2019)

Zentrale Fragestellung der Tagung

Die Romantik ist mehr als nur eine Ansammlung ausgeschöpfter Bilder – etwa dem der blauen Blume. Sie wirkt ungebrochen über die Jahrhunderte hinweg bis in unsere heutige Zeit. Die Internationale Tagung der Novalisgesellschaft 2019, die unter dem Titel Romantik und Moderne im Novalis-Schloss Oberwiederstedt vom 2.-5. Mai stattfand, widmete sich der Frage, inwiefern die Moderne eine „Erfindung der Romantik“ sei. Dabei stellte die Tagung zunächst die ambivalente Wirkung der Romantik auf die europäische Politik- und Kulturgeschichte in den Vordergrund. Der Schwerpunkt verlagerte sich am zweiten Tag hin zu Reflexionen poetologischer Konzepte und deren Wirkungsgeschichte in Literatur und Kunst. Angrenzend zur Tagung bot Schloß Oberwiederstedt zudem Raum für die feierliche Verleihung des Novalis-Preises (an Dr. Nina Amstutz, Oregon) und die Eröffnung der hauseigenen Ausstellung Die Figur des Kindes bei Novalis.

Anarchie – Gesellschaft

Dr. Rainer Barbey (Regensburg) befasste sich in seinem Vortrag Novalis und die Anarchie mit anarchistischen Denkfiguren der Frühromantik. Barbey unterscheidet drei Auffassungen von Anarchie bei Novalis: den ästhetischen Anarchismus (hier aufgefasst als „Naturanarchie des Märchens“), den politischen Anarchismus sowie die Vorstellung eines religiös-anarchistischen Christentums. Das anarchistische Prinzip der freien Assoziation (beruhend auf Fichte) finde seinen Ausdruck in der formlosen „Zusammenlosigkeit“, die bei Novalis unter dem weit gefassten Begriff des Märchens figuriert. Dabei greifen gattungstheoretische und geschichtsphilosophische Prämissen ineinander: Märchen zeugen von der Zeit vor der Einrichtung des Staates und repräsentieren damit eine Naturanarchie.

Prof. Dr. Andreas Göbel (Würzburg) näherte sich der Anarchie im Denken der Frühromantik durch seinen Vortrag Anarchistische Gruppendynamik des Jenaer Romantikerkreises aus einer soziologischen Perspektive: Er plädierte dafür, die soziologische Romantikforschung als eine Rekonstruktion der faktischen sozialen Formen zu verstehen, denn in dieser Hinsicht sei die bloße Feststellung einfacher Korrelationen nicht mehr ausreichend. Stattdessen setzte Göbel auf Nancy Frazers Theorien von Gruppenprozessen, sodass die Theorien und Selbstbeschreibungsformen der Jenaer Frühromantik als Bedingung der Möglichkeit ihrer faktischen Sozialgestalt sowie als Abbildung des realen Gruppenbildungsprozesses verstanden werden können. Beispielsweise könne Schleiermachers Gedanken zur Geselligkeit als Theorie der Sympoesie dienen, die zugleich als soziale Beschreibung fungiere. Obwohl in der Arbeitsgemeinschaft der Jenaer Frühromantik ein Raum geschaffen worden sei, der die Möglichkeit einer Synthetisierung von Verschiedenheiten im anarchistischen Sinne erlaubte, lasse sich nicht uneingeschränkt von Anarchismus im Kontext der Frühromantik sprechen. Göbels Begründung: die Jenaer Gruppe sei eben theoretisch strukturiert und verfasst.

Prof. Dr. Nicholas Saul (Durham) rückte in seinem Vortrag die Rezeptionsgeschichte von Novalis‘ Schriften in den Vordergrund. Die Novalis Rezeption im Friedrichshagener Kreis wies er als „Novalis-Kampagne“ aus. Insbesondere die Werke von Wilhelm Karl Eduard Bölsche spielten im Kontext der Novalis-Rezeption um 1900 eine bedeutende Rolle. Saul machte klar, dass sich der „neue Novalismus“ beim Friedrichshagener Dichterkreis erst aufgrund der damals aktuellen Novalisforschung erschließe. Implizit brachte Nicholas Sauls Vortrag einen zentralen Gedanken der Tagung ins Spiel, indem er beispielhaft vorführte, dass die Bedeutung der historisch tradierten Forschung für die Romantikrezeption im Verlauf der Moderne nicht zu überschätzen ist.

Rezeption – Moderne

Diesen für die Tagung prägenden ideengeschichtlichen Ansatz führte Dr. Georgios Sagriotis (Osnabrück) in seinem Vortrag Dialektik von Poetisierung und Entpoetisierung in der Frühromantik im Anschluss an Walter Benjamin weiter. Sagriotis untersuchte die Entwicklung von Benjamins Romantikrezeption in der Zeitspanne zwischen seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik und Benjamins vermeintlicher Abkehr von der Romantik ab 1937. Sagriotis zeigte jedoch, dass Benjamins Interesse an der schon in seiner Dissertation präsenten Verbindung von Politik und Prosa ungebrochen in seinem Werk aufzufinden ist. Die Verteidigung und die Kritik der Romantik sei hier gleichermaßen zu erkennen. Es gelte die Frühromantik als Krankheit und Heilung zu lesen.

Die Rezeption der Frühromantik spielte auch im nachfolgenden Vortrag von Prof. Dr. Marion Schmaus (Marburg) eine zentrale Rolle, da sie die Relevanz der Romantik für die Moderne anhand von Michel Foucaults Werk veranschaulichte. Kleinere Paratexte Foucaults wie ein Vorwort und Interviews wurden genauer besprochen. Schmaus verwies dabei auf den maßgeblichen Einfluss von Novalis auf Foulcaults Entwicklung einer alternativen Traumdeutung.

Zwei kunsthistorische Vorträge, Max Klinger – der ‚romantische Künstler‘ schlechthin von Prof. Dr. Reinhard Wegner (Jena) und Prof. Dr. Gregor Wedekinds Kühle Romantik. Paul Klees Aktualisierung frühromantischen Gedankenguts, bezeugten sodann die disziplinübergreifend lebendige Romantikforschung der letzten Jahre, in dem nicht nur nach dem Nachleben der Romanik in der Literatur, sondern auch in der modernen Kunst gefragt wurde. Der Vortrag von PD Dr. Madleen Podewski (Berlin) sollte hier besonders hervorgehoben werden. Für ihren medienwissenschaftlichen Vortrag wählte Podewski einen wissensgeschichtlichen Ansatz, um anhand von Beispielen frühromantischer Medien (Das Morgenblatt, Periodika und die Athenäums-Fragmente) zu zeigen, wie sich die Publikationspraxis selbst zur ästhetischen Form entwickelte. Resultat dieser diskursiven Praxis seien neue Mischformen, die für die Zeit nach dieser Periode charakteristisch werden.

Romantik – Politik

Prof. Dr. Christina Karpenstein-Eßbach (Mannheim) und PD Dr. Olaf Briese (Berlin) zeigten in ihren Vorträgen, dass das Nachleben frühromantischer Theoreme noch bis in die 1960er Jahre im Kontext von Politik und Marktwirtschaft der Moderne aufgewiesen werden kann. Durch eine ausführliche Analyse der poetischen Konzepte in Tiecks Dramen konnte Karpenstein-Eßbach romantische Ironie im Problemfeld der deutschen Liberalismusdebatten erläutern. Handel und Warentausch bedürften eines heterogenen Marktes ohne Einschränkung. Romantische Ironie erlaube es das Differente und Verschiedene nebeneinander stehen zu lassen. Durch einen Exkurs über den Liberalismus bei Adam Smith, Fichte und Friedrich Schlegel sowie über den Unterschied zwischen „Weltgeld“ und „Landesgeld“ bot der Vortrag einen Einblick in philosophische Grundlagen noch heutigen Wirtschaftens.

Brise nahm explizit Bezug auf die neuere und neueste Geschichte: In seinem Vortrag Vom subversiven Einspruch zum Wellnessversprechen. Frühromantische Konzepte von Muße, Müßiggang und Faulheit im Wandel stellt er die These auf, dass im Gegensatz zu deren ursprünglichen anti-kommerziellen Ausrichtung, die Idee der Esoterik- und Wellnessindustrie zur marktfähigen Branche geworden sei. Brise explizierte diese These anhand einer Lektüre der Lucinde, denn in dem Roman von Friedrich Schlegel sei eine klare Wendung gegen eine protestantisch-bürgerliche Arbeitsmoral zu finden. Die Textstruktur des Müßiggangs wird seit 2008 von der Forschung registriert und verweist vermehrt auf die dem Müßiggang inhärenten Selbstwidersprüche. Die Kunstproduktion wird als Tätigkeit verstanden, womit das Müßiggehen den romantischen Gegensatz von Kunst und Arbeitskult untergrabe. Diese inneren Widersprüche setzte Brise ins Verhältnis zu Paul Lafargue und dessen Schwiegervater Karl Marx, um das Problemfeld mithilfe von Lafargues 2018 erstmals korrekt übersetztem Text Das Recht auf Faulheit zu untersuchen. Dabei ergab sich eine Verbindung zum Vortrag von Prof. Dr. Dennis F. Mahoney Die Frühromantik bei Herbert Marcuse und Norman O. Brown mit einem Exkurs zu Susan Sonntag, der sich durch den Bezug auf das Potential der Technik als Befreiungsmechanismus auszeichnete. Sowohl bei Lafargue als auch Marcuse besitze Technologie das Potenzial, die Menschheit von der Arbeit zu befreien.

Bruchstücke – Fragmente

In einem faszinierenden Vortrag mit dem Titel „Das wahrhaft Erhabene ist die Vernunft.“ Gustav Landauers Bruchstücke zu Novalis stellte Dr. Hanna Delf von Wolzogen (Potsdam) Vorträge und Notizen Gustav Landauers vor, die sich „in Bruchstücken“ befinden – unter anderem in Israel. Wiederum war der Anarchismus präsent, denn Landauer, der dem Kreis der oppositionellen Jungen sowie dem Friedrichshagener Kreis zugehörte, könne als „Romantikanarchist“ gelten, so von Wolzogen. Freilich verneine Landauer den Großteil dessen, was der Romantik zugesprochen werde und definiere die Romantik als radikale Negation, welche die Entstehung einer neuen Mystik ermögliche.

Die Wendung von den Bruchstücken hin zum Fragment vollzog Prof. Dr. Jochen Strobel (Marburg). Er versteht das Fragment als romantischen Vorgang. Strobel verglich drei Konzepte fragmentarischen Schreibens: Spuren, Fragmente und Aphorismen und kontextualisierte seine Ausführungen anhand der Frage, inwiefern das moderne und postmoderne Schreiben von Ernst Bloch und Judith Schalansky eine romantische Fragment-Praxis darstellen. Dabei gab er die Dynamik von Behauptung und Negation als gemeinsames Element von Spuren und Fragmenten vor. Strobel kam zu dem Schluss, dass weder Bloch noch Schalanski eine genuin romantisch-fragmentarische Schreibpraxis an den Tag legen, da deren Spuren und Aphorismen durch Narrative gerahmt würden.

Der Vortrag „Gedichte, blos wohlklingend und voll schöner Worte, aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang.“(Novalis) Zur modernen Lautpoesie von Prof. Dr. Francesca Vidal (Koblenz) erweiterte den Untersuchungsrahmen des Fragments in der Moderne. In einem lebhaften Vortrag stellte Vidal zwei Fragen in den Raum: Ist moderne Lautpoesie frei von Verstand und kann man dies in Verbindung mit Novalis bringen? Ihren Untersuchungsgegenstand fand die Fragende in der Lyrik von Hugo Ball und Ernst Jandl, die von Gernot Weiß überzeugend vorgetragen wurde. Trotz evidenter Hinweise auf ein eindeutiges Interesse am Sprachkonzept von Novalis auf Seiten des Poeten Hugo Ball, konnten die Einstiegsfragen des Vortrags nicht klar beantwortet werden. Jedoch gab der Vortrag Anlass zur lyrischen Betätigung, denn in der anschließenden Diskussionsrunde entstand spontan – und ganz in romantischer Manier – ein Gedicht, das die Lautpoesie von Ball und Jandl ergänzte.

Prof. Dr. Rüdiger Görner (London) befasste sich in seinem Vortrag Fragmente zu einer Grammatik der Sinnlichkeit. ‚Lucinde‘ mit/gegen Roland Barthes gelesen mit dem Konzept des romantischen Fragments. Durch Close Reading verglich Görner Schlegels Lucinde mit den Fragmenten der Liebe von Barthes und formulierte die These, dass das sensorische Ich der Lucinde bei Roland Barthes eine Wiederaufnahme erfährt. Kunst und Liebe bilden, so Görner, eine „Grammatik der Sinnlichkeit“ in hieroglyphischer Form. Bei Barthes wandele sich jedoch die „Pluralektik“, welche von Görner als Merkmal der romantischen Poesie hervorgehoben wurde, zu einem Simulakrum in sinnpoetischer Absicht.

Highlights

Besonders hervorzuheben sind noch die zwei Vorträge von Dr. Gernot Weiss (Schüpfheim, Schweiz) und Prof. Dr. Yu Takahashi (Fukushima). In Weiss‘ Vortrag Ein Schleier für Zulima: Überlegungen zum Umgang mit dem Fremden in „Heinrich von Ofterdingen“ zeigte er Parallelen zwischen Edward Saïds Definition des Orients als imaginärem Ort und der retroaktiven Konstruktion der Antike auf. Novalis zeige ein Bewusstsein für solche kulturellen Imaginationsprozesse, die Weiss an Novalis‘ Heinrich von Ofterdingen veranschaulichte. Der Roman führe die abendländische Sexualisierung des Orients vor; auch der Krieg spielt eine eminente Rolle: Nach der Novalisdeutung von Gernot Weiss wird der Krieg als etwas Schöpferisches verstanden, der ein neues Geschlecht auf den Plan rufe, das wiederum die binäre Opposition von Orient/Occident unter dem Banner des Christentums aufzulösen vermag.

Prof. Dr. Takahashi widmete sich der atomaren Katastrophe seiner Heimatstadt Fukushima. Dabei setzte er die frühromantische Kritik am Auseinanderfallen von Wissenschaft und Sittlichkeit mit der verfehlten nuklearen Energiepolitik in Fukushima in Beziehung. Er stellte die deontologische Differenz von Sein und Sollen in den Vordergrund, die bei Novalis in der Maxime mündet, dass der Mensch Gott ähneln soll, das menschliche Sein diesem Anspruch jedoch nicht gerecht werden kann. Gott sein zu wollen, wird damit als Wahn des Sinns und/oder Wahn der Sinne ausgewiesen. Mit Novalis und unter Zuhilfenahme der Marxschen Entfremdungstheorie bestätigte Takahashi den Befund beider Denker, dass die Zweck-Mittel-Relation in der Moderne einem Ungleichgewicht unterliege, das Zweck und Mittel einfach umdrehe. Der Missbrauch wissenschaftlicher Daten, deren Instrumentalisierung zur Legitimation des Status Quo, bestätige diesen Befund: Wissenschaft sei zum Selbstzweck geworden und diene nicht mehr als Mittel zur Verbesserung der Sicherheit der Menschheit, sondern erschöpfe sich in sich selbst. Beide Vorträge können als wegweisend für kritische Ansätze in der Romantikforschung betrachtet werden.

Fazit

Die Jahrestagung der Novalisgesellschaft in Schloss Oberwiederstedt fragte am Geburtsort ihres Namensgebers nach dem Einfluss der Romantik auf die Moderne und hob insbesondere den entscheidenden Wert der Rezeptionsgeschichte als Forschungsgegenstand hervor. Die Tagung versammelte wertvolle Beiträge aus vielen verschiedenen Fachrichtungen und Disziplinen – auch bot sich die Gelegenheit, mit eingeladenen Romantikexperten wie Prof. Dr. Helmut Schanze (Aachen) ins Gespräch zu kommen (und sich für 1,50 Euro einen Kaffee zu kaufen). Die Frage nach dem Nachleben der Romantik in der Moderne wurde allerdings durch eine Erweiterung auf die Postmoderne etwas unscharf. Zudem konnten weder eine gemeinsame Fragestellung noch literaturtheoretische Alternativen zu einem ideengeschichtlichen Ansatz im Laufe der Tagung erarbeitet werden. Stattdessen wurden bis zu neun Vorträge mit einzelnen Rezeptionsbeispielen an einem Tag vorgeführt – ohne jede Paneldiskussion. Die Tagung zeichnete sich also eher durch eine Polydisziplinarität als durch eine wirkliche Interdisziplinarität aus.