Raphael Stübe , 30.11.2022

„Romantische Materialitäten/Romantic Materialities“

15.–17. September 2022, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Wie materialsensitiv ist eigentlich die Romantik? Auch über die Forschungsdebatten hinaus dürfte sich der Eindruck, dass es sich bei romantischer Literatur um eine realitäts- und dingfeindliche, letztlich träumerische Bewegung handelt, inzwischen verflüchtigt haben. Dennoch bleibt die Frage nach den materiellen Dimensionen der historischen Romantik spannungsreich – und sie wird erst seit wenigen Jahren vermehrt und differenziert gestellt. Die interdisziplinäre Tagung an der Frankfurter Goethe-Universität verbindet Aspekte der kulturwissenschaftlichen Romantik-Forschung mit den jüngeren Debatten eines material turn: Mit welchen handfesten Materialien arbeiteten die Romantikerinnen und Romantiker? Wie wurden ihre Bücher haptisch gelesen und wie produziert? Inwiefern wirken Produktionsbedingungen auf ihre Texte zurück? Und nicht zuletzt: Welches geschärfte Profil von historischer Romantik ergibt sich, wenn man die Bücher, Almanache, Journale, Formate, Schreibwerkzeuge, Handschriften und Notizbücher der romantischen Periode heranzieht?

Um derart materialaffine Fragen kreiste die Tagung im Frankfurter Seminarhaus, die von Frederike Middelhoff (Frankfurt am Main) und Joanna Raisbeck (Oxford) organisiert wurde. Raisbeck gewann im vergangenen Jahr den ersten „Klaus Heyne-Preis zur Erforschung der Deutschen Romantik“. Einen Teil des Preisgeldes nutzte sie, um gemeinsam mit der Frankfurter Professur für Romantik-Forschung (Middelhoff) internationale und interdisziplinäre Vortragende zum Thema Materialität nach Frankfurt einzuladen. Zugleich entwickelte sie eine sehenswerte Ausstellung zu den Handschriften Karoline von Günderrodes, die noch bis Dezember 2022 im Handschriftenstudio des Deutschen Romantik-Museums zu sehen ist.

Karoline von Günderrode lieferte den inhaltlichen Auftakt, mit dem Frederike Middelhoff und Joanna Raisbeck gemeinsam die Tagung eröffneten. Während Middelhoff die Forschungsdesiderate aufzeigte, die der material turn an romantische Texte und Phänomene heranträgt, überprüfte Raisbeck diese Fragen am Einzelfall. Mit Blick auf Günderrodes naturphilosophisches Fragment Jdee der Erde wurden zwei Dimensionen diskutiert: Der Begriff der ‚Materie‘ führt einerseits ins philosophische Zentrum von Günderrodes Poetik, da gerade das Materielle zum Schlüssel für Ewigkeit und Lebendigkeit werden kann, solange den ‚Dingen‘ eine inhärente Beweglichkeit zugesprochen wird. Zweitens stellte Raisbeck ein Einzelstück des zeitgenössischen Sammlers Fritz Schlosser vor, eines frühen Günderrode-Fans, der die Texte der noch weitgehend unbekannten Autorin in Teilen handschriftlich kopierte – und zwar so, dass Satz und Seitenzahlen mit einem gedruckten Buch übereinstimmten. Wozu diese Akribie? Die materielle Symbolkraft des Textes bekommt im anbrechenden ‚Zeitalter der Serialität‘ offenbar eine neuartige Funktion – und das im Zusammenspiel mit einem nachwirkenden Geniekult der Goethezeit.

Den ersten Vortrag nutzte Volker Mergenthaler, um mithilfe des ,Affordanz‘-Begriffs die verschiedenen Angebote zu differenzieren, die ein romantischer Text allein über seinen Publikationsmodus mitbringen kann. Am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi leuchten die Unterschiede serieller und periodischer Publikationsweisen plastisch auf: Hoffmann publizierte seinen Text in verschiedenen Journalen, zum Beispiel im Sammler, für den die Leserinnen und Leser jeweils zwei Tage auf die Fortsetzung warten mussten. In der späteren Anthologie-Fassung werden die konstitutiven Cliffhanger aus den Journalfassungen marginalisiert (oder gar umformuliert), dafür rückt der Text potenziell mit umgebenden Texten in Konflikt – zum Beispiel, wenn sie sich, wie in diesem Fall, mit konkurrierenden Themen wie der Zensur beschäftigen (und diese von der Erzählung ironisch kommentiert werden).

Anschließend stellte Jochen Bär ein Mammutprojekt vor: Ein digitales Diskurswörterbuch mit Zentralbegriffen der klassisch-romantischen Kunstperiode (1760–1840), dessen Auftakt sich unter www.zbk-online.de bereits einsehen lässt. Über 400 diskursrelevante Ausdrücke werden dort in ihrer historisch konkreten Semantik rekonstruiert und subdifferenziert, wobei nicht nur sprachliche Quellen, sondern auch Bilder als Quellenmaterial ausgewertet werden. Am Beispiel dieser multimodalen Ergänzungen (‚Sprache plus‘) problematisiert Bär den Begriff des ,Originals‘, der in diskurshistorischen Zusammenhängen eher irritiert – hier herrscht statt Originalität vielmehr ein verflochtenes Netzwerk an Komplexität, das es gerade in seiner Fremdartigkeit zu gegenwärtigen Wortbedeutungen zu kartographieren gilt. Auch vom Pathos einer letztgültigen, verbindlichen Differenzierung der Wortsemantiken löst Bär sein Projekt. Stattdessen kann ein solches Wörterbuch im Idealfall begründete Vorschläge liefern, um sich der „reichen Semantik“ historischer Perioden anzunähern.

Die Keynote des Abends stammte von Carlos Spoerhase, der die Formate der Romantik am Beispiel von Goethes Volksbuch überprüft – ein Projekt, das die „Kultur aller Stände“ über eine monumentale Textsammlung erreichen sollte und letztlich unrealisiert blieb. „Alles würde aufzunehmen sein“, notierte Goethe, und jenseits einer Beschränkung auf nationale Literatur fügte er auch Texte der internationalen Kulturgeschichte ein, die er anhand von Ausschnitten vorstellen wollte. Erst das umfangreiche Format stellt für Goethe die Kohärenz der heterogenen Einzelteile her. Hierin zeigen sich Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zu Sammlungsprojekten wie Des Knaben Wunderhorn, da Goethes Volksbuch international konturiert blieb; nicht von den „schwankenden Launen des Tages“ abhängig sein sollte; und schließlich in Auswahl und Format einen solchen Zusammenhang stiften wollte, sodass Goethe selbst eine Nähe zur Bibel reflektiert.

Lea Liese eröffnete den zweiten Tagungstag mit Beobachtungen zu Achim von Arnims Zeitschrift für Einsiedler, einem eher lokalen Zeitungsprojekt aus Heidelberg, das allerdings in seiner Publikationsform eine nahezu volksavantgardistische Programmatik verfolgt. Liese charakterisiert Arnims Projekt als Zeitschrift gewordene ‚Kunstkammer‘: Nach dem Vorbild des frühneuzeitlichen Sammlungsmodells stellte es bunte „Curiositäten“ nebeneinander, auch Kleinodien und Kitsch, um damit eine ‚Welt im Kleinen‘ abzubilden, die sich als kontingente Anordnung von organisch Erwachsenem versteht. Das lässt sich mit Liese als ‚Lob der Unform‘ beschreiben: Arnim interessiert sich für organische Strukturen im scheinbar Chaotischen, was auch das Sammlungsprojekt seiner Zeitschriften grundiert. Dass er damit seine Leserschaft auch überfordert, mag das ökonomische Scheitern der Zeitschrift erklären, zielt aber zugleich auf ein poetologisches Spannungsfeld zwischen Volk, Masse und Elite: Die Einsiedler-Zeitschrift richtete sich an eine Leserschaft, die nicht als bürgerliche Massenkultur missverstanden sein sollte, sondern als eine Art Volkselite, die Vielfalt, Buntheit und Organisches in diesen Kunstkammern wiederfinden und wertschätzen würde.

Eine weitere Möglichkeit wilder Materialsammlungen stellte Florian Gödel vor, der über den Titel „Miszellanität und Misstrauen“ zugleich den Publikationsmodus Gérard de Nervals charakterisiert. Am Beispiel der Erzählung Les Faux Saulners, zuerst im Le National veröffentlicht (24.10.1850), führte Gödel in die assoziativen Textstrategien Nervals ein, die in ihrem abschweifenden, unvorhersehbaren und ‚exzentrischen‘ Modus auch eine Medienreflexion beinhalten. Mehr noch: Die Erzählung spiegelt das Zeitungsganze in Form einer mise en abyme, da seine wilde Signifikation zugleich auf eine willkürliche Nebeneinanderstellung von Einzelartikeln hinweist, die sich im Zeitungskontext unmotiviert abwechseln. Auch Nervals Projekt zielt dabei auf eine Emanzipation des Volkes, indem es diese Mechanismen durchschaubar macht – und zugleich auf eine Individuierung des Einzelnen, der sich vor diesen Sammlungsmechanismen ambivalent verhalten kann.

Mit philosophischem Blick rückte Sandra Markewitz noch einmal die Materie und die Dinge bei Karoline von Günderrode in den Fokus und griff damit die Diskussionen vom Anfang auf: Markewitz erinnerte an die unübersehbaren Injektiven, die Günderrode gegenüber den Dingen und festen Formen in ihr Werk einstreut: „Ich liebe die Menschen nicht und nicht die Dinge“, so wird Günderrode schon im Vortragstitel zitiert, um ihren Fluchtpunkt in einem fluideren Lebensideal zu suchen, in dem ihre Texte performativ ‚mitschwingen‘. Dynamiken kämpfen bei Günderrode stets gegen verkrustete Festigkeiten an, wobei literarische Formen, so Markewitz, als einzige Materialitäten verschont bleiben, da sie eine fluide Sehnsucht abbilden und in ‚Ewigkeit‘ überführen können.

Was mit den Körpern passiert, wenn man zu viele Bücher liest, arbeitete Luisa Banki mit Blick auf romantische Leserinnen um 1800 hervor. Durch eine grassierende ‚Lesewut‘, so diskutiert es zeitgenössisch Johann Adam Bergk, „entwöhnt man sich den Naturgesetzen“, man verändert sich „in Gesinnung und Denkart mit jedem Buche“ und läuft Gefahr eines frühen Todes. Diesen kuriosen Debattenstand nutzt Banki als Auftakt, um die Rollenbilder und Praktiken von Leserinnen im Umfeld der Romantik soziohistorisch und praxeologisch herauszuarbeiten. Neben konkreten Details, zum Beispiel einer bevorzugten Lektüre im Haus und in produktiv-mitdenkender Haltung, wurde den Leserinnen eine spezifische Art der Einbildungskraft attestiert: Anders als bei den ernsten und kategorisierenden Männern beobachte man bei Frauen eine grenznivellierende Lektüre, die „Antheil und Urteil“ in unvoreingenommener Freiheit verbinde (so Friedrich Schlegel an Caroline). Als implizite Leserschaft romantischer Texte rücken damit die Leserinnen neu in den Fokus: Erfolgreiches Lesen bedeutete in der Romantik zuerst weibliches Lesen, womit Banki auch die Funktion der Leserin als „produktionsanregende Rezipientin“ von Literatur akzentuiert.

Nach dem Besuch im Romantik-Museum gab Maximilian Bach konkrete Einblicke in einen romantischen Autographenkult, den er an der vielgelesenen Sammlung Facsimilie von Handschriften berühmter Männer und Frauen (1836–1838) von Wilhelm Dorow illustriert. An diesen „eigentümlichen Handschriften“, so formuliert es Rahel Varnhagen in einem Brief an den Sammler und Editor Dorow, zeige sich ein „geheimer Zauber der Gegenwart“. Die 1830er und 1840er Jahre charakterisiert Bach als Umbruchsphase im Feld handschriftlicher Markierungen, u.a. durch das innovative Druckverfahren der Lithographie, sodass nun vermehrt ein produktiver, individualisierter Umgang mit Schriftbildern aufscheint. ‚Berühmtheit‘ und früher Star-Kult wirken konstitutiv an diesem Aufschwung mit, sodass bei Dorow ausschließlich Persönlichkeiten „mit europäischem Ruf“ versammelt werden. Beobachten lassen sich hier die Konstruktionsmechanismen von Authentizität, zum Beispiel über die Nennung privater und intimer Details, aber auch über die Korrektur öffentlicher Images, die manche Autographen und Briefe vornehmen.

Yvonne Al-Taie untersuchte anschließend, inwiefern Briefe, Handschriften und materielle Beigaben verschiedenster Art in der Kultur um 1800 als Residuen körperlicher Präsenz fungieren. Romantische Autoren wie Novalis beschreiben beispielsweise plastisch die Szenen und Umstände ihres Schreibens („kann nur mit zwei Fingern schreiben“, an Sophie von Kühn), aber auch Haarlocken werden zur Substitution der eigenen Anwesenheit in die Briefe geflochten. An diesem Phänomen sind nicht nur die subjekt- und mediengeschichtlichen Innovationen, sondern auch einige genuin ‚romantische‘ Momente interessant: Al-Taie diagnostiziert im Umfeld der Romantik eine neuartige ‚Auratisierung von Materialität‘, eine Evokation körperlicher Präsenz durch Schrift und durch Dinge, die im Modus der medialen Vermittlung (auf nahezu paradoxe Weise) Distanzen minimiert. Romantisches Schreiben soll eben ganz nah dran und körperlich sein, es prozessiert Individualität und Echtheit erst über den Umweg von Schrift und Vermittlung.

Zur Eröffnung des dritten Tagungstages blickte Charlotte Coch auf die beiden Bibel-Projekte von Novalis und Friedrich Schlegel, um deren Umrisse und Pläne eines ‚absoluten Buchs‘ genauer zu verorten. Sie nutzt dabei die zwei heuristischen Idealtypen von ‚Bibel‘ und ‚Bibliothek‘: Während die Bibel auf Traditionsstiftung und Bewahrung in einem esoterischen Sinne zielt, setzt die Bibliothek einen ordnenden, kommunikativen und primär exoterischen Akzent. Coch arbeitete heraus, dass Novalis‘ Bibelprojekt eher in Form einer bibliothekarischen Sammlung angelegt ist, folgt man seinen brieflich artikulierten Plänen; während Schlegels Bibel stärker auf einen verbindenden Bezugsrahmen für Wissensgemeinschaften zielt und somit die esoterische Dimension betont. Im Briefwechsel aus dem Jahr 1798 lässt sich beobachten, wie die Briefpartner ihre Pläne zunächst unabhängig voneinander entwickeln, eigene Akzente platzieren und in ihrem Austausch auch auf die impliziten Vorwürfe reagieren, die sie von ihrem Briefpartner zu erwarten haben. Der new materialism, so ordnete Coch forschungsgeschichtlich ein, hilft in diesen Fällen dabei, die imaginativen Überformungen der Frühromantik wahrzunehmen und ihre Konzepte sowohl auf die allzu anthropozentrischen, aber auch auf sozioökonomische (und protoökologische) Elemente abzuklopfen.

Eine ganz andere Form der Materialität stellte Catriona MacLeod vor, die am Beispiel von Luise Dottenhofer das Phänomen eines selbstreflexiven Scherenschnitts präsentierte. Duttenhofer darf als herausragende Scherenschnittkünstlerin ihrer Zeit gelten, die das Genre von einem populären Handwerk zu einer formbewussten Kleinkunst entwickelt. Genuin romantische Materialstrategien wie Improvisationstechniken, Perspektivenvielfalt, Phantastik und optische Täuschungen spielen in ihren Werken eine Rolle. Aber auch motivisch beinhalten die zahlreichen Verweise auf Schmetterlingsflügel eine medienreflexive Komponente, da sie die Möglichkeit einer Falttechnik heranzitieren, die Duttenhofer gerade nicht wählt (ein berühmtes Selbstbildnis zeigt die Künstlerin, wie ihr die Schmetterlingsflügel gestutzt werden, mit den Worten MacLeods: „Amputating the Wings“).

Dass auch die Schreibfeder genau in jenem historischen Moment romantisiert wird, in dem sie von technischen Innovationen allmählich vom Markt verdrängt wird, zeigte Martina Wernli in ihrem abschließenden Vortrag zu Feder und Tinte um 1800. Nicht nur der aufkommende Bleistift, sondern auch Metallfedern und neuartige Farbstoffe ermöglichten eine zunehmende Kontrolle der Schreibmaterialien, die bis dahin einiges Geschick und Expertise in Herstellung und Anwendungen benötigten. Wernli illustrierte diese praxeologischen Herausforderungen an reichem Quellenmaterial, zum Beispiel an zeitgenössischen Ratgebern zur bestmöglichen Handhaltung, aber auch mithilfe einer echten Schreibfeder, an der sich die materiellen Schwierigkeiten im Textproduktionsprozess erahnen lassen. Auch literarisch wird dieser Kampf ums Schreibmaterial in der Romantik produktiv gewendet – so in Brentanos Märchen vom Baron von Hüpfenstich, einer Wiederaufnahme des italienischen Märchens vom Floh, in der die Figuren jedoch nun mit Schreibmaterialien und Tintenklecksen um Worte fechten.

Die historische Romantik erscheint damit, so resümiert die Abschlussdiskussion, in ihren interdisziplinären Facetten hochgradig materialreflexiv. Schreibprozesse werden in romantischen Praktiken jeweils reflektiert und in diesem Zuge zugleich mit einem Signum an Individualität angereichert. Einzelstücke und Objekte können dadurch, auf eigentlich paradoxe Weise, auratisiert werden, denn sobald die Materialität erkannt und in ihrer medialen Potenz adressiert wurde, rückt auch die Eigentümlichkeit eines Objekts in die Wahrnehmung des Betrachters. Erstaunlich häufig stießen die Diskussionen über materielle Dimensionen romantischer Texte dabei auf Dichotomien – ob auf Gegensatzpaare wie Esoterik und Exoterik, Volk und Elite oder auf Universalität und Serialität. Romantik kümmert sich zudem in besonderer Weise um prekäres Material: um Dinge und Konzepte, die möglicherweise von einer Modernisierung verdrängt werden, aber in Kunst und Literatur noch einmal in ihrer ungebändigten Materialität hervorbrechen. Romantik weiß also um die produktive Vielschichtigkeit in den Dingen.

Ausschnitt aus dem Plakat zur Tagung