Caroline Rosenthal , 18.12.2023

Romantisierte Natur im digitalen Raum

„Cabin Porn“ und „Cottagecore“

Einleitung

Die Sehnsucht nach einem einfachen, von den Zwängen und Korrumpierungen der Zivilisation befreiten und eng an die Natur angelehnten Leben gab es schon immer. Besonders in Krisenzeiten hat diese Fantasie Hochkonjunktur und so ist es nicht verwunderlich, dass die Internetphänomene Cabin Porn und Cottagecore in der COVID-19 Pandemie auf sozialen Plattformen wie tumblr, Facebook oder Twitter Rekordzahlen verbuchen. Beide haben ein distinktives ästhetisches Programm, mit dem Naturräume im Internet einer großen digitalen Gemeinschaft zur Verfügung gestellt werden, die diese Bilder dann kommentiert und eigene Beiträge postet. Welche bedeutungsprägenden Inhalte Cabin Porn und Cottagecore letztlich haben, bestimmt die Gemeinschaft der Nutzer:innen, die der ästhetischen Netiquette folgt. Beiden Bewegungen ist zudem gemein, dass sie sich auf den amerikanischen Transzendentalisten Henry David Thoreau und dessen Hütte am Walden Pond beziehen, die zum Inbegriff eines entschleunigten, vereinfachten und selbstbestimmten Lebens sowie eines vermeintlich anti-kapitalistischen Lebensstils wird.

Ich möchte in meinem Beitrag zunächst auf den Kontext und die Grundzüge von Thoreaus Lebensexperiment am Walden Pond Mitte des 19. Jahrhunderts eingehen und anschließend aufzeigen, wie seine Hütte zum Trendsetter für Internetgemeinschaften im 21. Jahrhundert werden konnte. Im Weiteren sollen die Phänomene Cabin Porn und Cottagecore erläutert und der Frage nachgegangen werden, warum dieser „digitale Pastoralismus“ [1] so viele Menschen begeistert und wo genau die Rückbezüge auf Thoreau und die amerikanische Romantik bestehen.

Thoreaus Hütte als Trendsetter

Als Thoreau sich 1845 für zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage an den Walden Pond, unweit des Städtchens Concord bei Boston, zurückzieht, wird er von den meisten seiner Nachbarn als harmloser Kauz wahrgenommen und seinem Experiment wenig Beachtung geschenkt. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist Thoreaus Lebensexperiment am Walden Pond aber zu einem kulturellen Mem geworden, in dem Autor, Werk und Ort zu einem Symbol verschmelzen [2]. Ohne den Inhalt oder die rhetorische Form des Buches Walden und ohne die Philosophie, Absichten und Praktiken hinter Thoreaus Experiment am Walden Pond genauer zu kennen, evozieren Bilder seiner (oder einer) einsamen Hütte unmittelbar Sehnsüchte nach Entschleunigung und Vereinfachung sowie eine Gesellschaftskritik, die im Internet verschiedenste Menschen schnell vereint. Die Hütte wird zum Inbegriff von selbstgewählter Isolation und Aussteigertum sowie einer Freiheit von Digitalisierung, Kapitalismus und sozialen Normen. Stattdessen verspricht sie Individualität, Selbstbestimmung und eine Rückkehr zu ursprünglichen Werten und Praktiken – wobei diese Fantasie in den hier untersuchten Phänomenen ironischerweise auf Internetplattformen und sozialen Medien verbreitet wird.

Für die meisten Leser:innen steht Walden modellhaft für den Rückzug eines Mannes in die Wildnis. Seine Hütte baute Thoreau auf einem Grundstück seines Lehrers und späteren Freundes Ralph Waldo Emerson unweit der Hauptstraße von Concord. In Walden beschreibt Thoreau sehr genau, dass er häufig Eisenbahnarbeiter, Jäger oder auch Farmer traf, mit denen er mal mehr, mal weniger intensiven Austausch pflegte. Es war weder ein Überleben in der Einsamkeit noch das Messen mit Naturgewalten, die ihn in seinem Experiment interessierten. Er wollte vielmehr praktisch ergründen, was er zu einem selbstbestimmten Leben jenseits habitueller gesellschaftlicher Konventionen braucht. Dazu wollte er das Leben zunächst auf das absolut Notwendige reduzieren und es so von allem Ballast befreien. Seine Lehrmeisterin war dabei, transzendentalistischen Maximen folgend, die Natur.

Thoreau geht in Walden der Frage nach, was die „gross necessaries of life“ sind [3], was tatsächlich und ehrlich unentbehrlich für unser Wohlergehen ist. Sein Rückzug in die Natur diente dem Zweck, von dieser zu lernen und sich der Frage radikal und befreit von Traditionen, Normen und Gewohnheiten zu stellen. Wir brauchen, so schreibt er, Nahrung, Obdach, Kleidung und Brennstoff. Jede dieser Kategorien entrümpelt er im Folgenden von Luxus, der seiner Meinung nach den Menschen letztlich unfrei mache. In die Wälder sei er gegangen, so Thoreau, um ein einfaches Leben zu führen, dass diese Notwendigkeiten praktisch und nicht nur theoretisch ergründe. Die meisten Menschen lebten ihr Leben in stiller Verzweiflung (7), schreibt er, weil sie, statt ihren eigenen Überzeugungen und ihrer Intuition zu folgen, unhinterfragt von den Gesetzen der Gewohnheit, Tradition und von Vorurteilen getrieben seien (11). Ein Farmer, der eine Farm erbe, sei zu bedauern, so Thoreau, weil sein Leben fortan fremdbestimmt sei durch die Notwendigkeit, Schulden und Kredite abzuzahlen, ohne dass er die Freiheit habe, sich zu fragen, wieviel Arbeitskraft und Zeit er hierfür wirklich investieren wolle (3; 31). Solchen vermeintlichen Notwendigkeiten blind zu folgen, mache den Menschen nicht nur unfrei, sondern zu seinem oder ihrem eigenen Sklaventreiber (6).

Am Walden Pond will Thoreau ausprobieren, wie es ist zu leben, ohne Teil der gesellschaftlich-kapitalistischen Maschinerie zu sein (5; 9; 14), die Bedürfnisse generiert, welche den Blick dafür verstellen, was für jeden und jede individuell wirklich wichtig ist, um glücklich und frei zu leben. Diese Erkenntnisse wollte Thoreau in die Gesellschaft zurücktragen. Er war kein Aussteiger, sondern jemand, der, ebenso wie Emerson, die Gesellschaft durch das Studium der Natur grundsätzlich reformieren wollte. Genauso wie Thoreau die Kraft der ‚Wildheit‘ – des noch nicht durch die Kultur Gezähmten – zwar aus der ‚Wildnis‘ ableitete, aber letztlich wieder in die Zivilisation integrieren wollte als Kraft der gesellschaftlichen und kulturellen Erneuerung, wollte er in und nicht jenseits der Gesellschaft leben. Die ‚Wildheit‘ bezeichnete dabei, anders als die ‚Wildnis‘, keinen tatsächlichen Raum, sondern eine Geisteshaltung, eben die, Konventionen anzuzweifeln und das was-schon-immer-so-war mit wachem Geist in Frage zu stellen. Es sind diese Bestrebungen nach Autonomie und Mündigkeit des Individuums sowie die Infragestellung von Luxus, der Anhäufung von Besitztümern und Privatbesitz, die sich in der zeitgenössischen Sehnsucht nach einsamen Hütten niederschlagen.

„Men,“ so klagt Thoreau, „have become the tools of their tools“ (36). Unser Fortschritt habe uns zu Sklaven der Dinge gemacht und uns entfremdet von den ursprünglichen Notwendigkeiten. Statt das Bedürfnis nach Obdach und Schutz zu befriedigen, würden Häuser nun innen wie außen repräsentative Zwecke erfüllen und die Menschen so in einen Kreislauf von Abhängigkeiten und Schulden stürzen. Auch dieser Gedanke findet vielfältigen Nachhall in zeitgenössischen Lifestyle-Bewegungen. Weit wichtiger ist für Thoreau aber, dass dieses Streben nach unnötigen Bedürfnissen dem Menschen zu viel Zeit, Kraft und Lebensenergie stiehlt, um sich den spirituellen Erkenntnissen zu widmen, die vor allem die Natur uns lehrt (86f.). „Our life is frittered away by detail,“ (89) schreibt er und mahnt zu „simplicity, simplicity, simplicity!“ (ebd.), um wach zu bleiben für die „essential facts of life“ (88),für das eigentliche praktische wie spirituelle Leben. Weil der Mensch seine spirituelle Erbauung aus dem Blick verloren habe, seien moderne Häuser wie Särge oder Mausoleen [4]. Dieser Entseelung möchte Thoreau sein eigenes Modell von Wirtschaftlichkeit – das erste und längste Kapitel von Walden ist denn auch mit Economy übertitelt – entgegensetzen. In ihrer kostengünstigen Schlichtheit und Effizienz im Schoße der Natur wird Thoreaus Hütte in Zeiten des Überflusses und der materiellen wie digitalen Überflutung zum Sinnbild für eine Behausung, durch die der Mensch sich sozialen und finanziellen Zwängen entzieht. Oft allerdings, wie sich weiter unten zeigen wird, nur von Freitag bis Sonntag als Zweitbehausung zur Luxusvilla in der Stadt. Während Cabin Porn in vielerlei Hinsicht also genau wider den Geist Thoreaus agiert, verkörpert seine Hütte dennoch eine Sehnsucht, die schlussendlich unerfüllt bleibt.

Wie die Natur mit jedem Frühling neu erwache, solle der Mensch sich immer wieder neuen Erfahrungen und Erkenntnissen öffnen, die allen voran die lebendige Erfahrung in der Natur eröffne. Die Zivilisation, so Thoreau im berühmten Spring-Chapter von Walden, brauche „the tonic of wildness“ (306), um sich zu erneuern. Die äußere, in der Natur erlebte Wildnis setzt sich für Thoreau immer auch im Denken und vor allem im poetischen Ausdruck des Menschen fort. Um wach und „wild“ zu bleiben, bedürfe es des Begehens neuer Wege, weil der Mensch zu schnell in ausgetretene Wege und Gedankengänge verfalle. Und so schreibt Thoreau in der Conclusion von Walden, dass er den See aus demselben Grund verlasse, aus dem er ihn aufgesucht habe, nämlich um weitere Leben und neue Wege jenseits von Konvention und Tradition auszuprobieren (313). Gelernt habe er von seinem Experiment am Walden Pond, dass Einfachheit der Schlüssel zu spiritueller Erfüllung sei und dass ein Mensch, der seinen eigenen Träumen, Überzeugungen und Rhythmen folge, ein glücklicher sei. Diese Idee von temporärem Rückzug in die Wildnis, um innere Freiheit zu erlangen, ebenso wie die, dass eine Hütte ein materielles Objekt ist, das aber vor allem einen immateriellen Traum transportiert, haben in der phänomenologischen Philosophie sowie in der Popkultur und in Lifestylebewegungen große Resonanz gefunden.

Traum und Geschichte der Hütte

In seinem phänomenologischen Klassiker Die Poetik des Raums (1964) widmet Gaston Bachelard der Bedeutung der Hütte ein ganzes Kapitel [5]. In ihm versteht Bachelard die Behausung nicht nur als materielles Objekt, sondern als Traumstätte. Durch das, was er Topoanalyse nennt, betrachtet er die Häuser, in denen ein Mensch im Laufe seines Lebens gewohnt hat, als Behausungen tagträumerischer Erinnerungen. Der äußere Raum spiegelt dabei stets die intimen Innenräume eines Menschen, denn – so Bachelard – Erinnerung sei vielmehr an Räumlichkeit denn an Zeitlichkeit geknüpft [6]. Ein Haus, vor allem das Haus unserer Geburt, sei so stets eine Behausung und zugleich die Verkörperung unserer Tagträume (15). Dem Haus werde damit eine große integrative Kraft zuteil, da eine materielle Realität durch Tagträume bereichert werde, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ebenso transzendieren wie sie das Materielle und Immaterielle verknüpfen. Für eine solche Verknüpfung seien simplifizierte, primitive Traumbilder von Hütten am besten geeignet, da sie unsere Erinnerungen vertiefen und zugleich die Imagination neu anregen (31f.). Solche ursprünglichen und urweltlichen Bilder, die an unsere Erinnerung anknüpfen und zugleich die Imagination wecken, nennt Bachelard „Gravüren“. Dies sind Bilder von tatsächlich erlebten oder geträumten Behausungen, die Erinnerung und Legende, Urgeschichte und Zukunft verschmelzen und sich uns tief eingeprägt haben. Die intensivste dieser Gravüren ist für Bachelard das Bild der einsamen Hütte – in diesem Zusammenhang bezieht er sich auch auf Thoreaus Hütte am Walden Pond (32). Bachelard unterstreicht die exemplarische phänomenologische Funktion der Hütte, indem er sagt: „because of this very primitiveness, restored, desired and experienced through simple images, an album of pictures of huts would constitute a textbook of simple exercises for the phenomenology of the imagination“ (33). Es ist genau diese emotionale Wirkmacht und tagträumerische Kraft der Bilder einsamer Hütten, die sich Cabin Porn zu eigen macht.

In ihrem in der Naturkunden-Reihe bei Matthes & Seitz erschienen Bändchen Hütten: Obdach und Sehnsucht geht Petra Ahne dem kulturellen Erbe und der Faszination von Hütten nach. Anknüpfend an Bachelards Gravüre der Hütte konstatiert sie einleitend. „Die Hütte scheint tief in uns zu sitzen. […] Eingeschrieben ins kulturelle Gedächtnis immer schon dagewesen. Wir sehen eine Hütte […] und denken uns sofort hinein in das Leben, das darin möglich sein müsste: ein anderes, echteres, einfacheres, ein Leben in und mit der Natur“ [7]. Gerade wegen ihrer Einfachheit affiziere die Hütte uns mehr als ein Haus und werfe die Frage auf, wie wir leben wollen: „Eine Hütte ist eine subtilere Inszenierung als etwa eine Villa, aber nicht weniger wirksam. Sie gibt vor, nichts darzustellen, und tut es gerade darum: Wer hier wohnt, ist naturverbunden und bodenständig, das ist ihre Botschaft. Zumindest von Freitagabend bis Sonntagnachmittag“ (11). Die Hütte prunkt durch Einfachheit. Die schlichte Behausung oder die Sehnsucht nach einer solchen funktioniert aber eben nur, wenn diese Einfachheit selbstgewählt und temporär ist. Ansonsten steht die Hütte für Armut und Fremdbestimmung.

Wie Ahne richtig feststellt, ist die Hütte in das „amerikanische Gründungsnarrativ“ (52) eingegangen. Zum einen als wichtiger Bestandteil des Siedler-Kolonialismus und der Frontier Narrative: Bei der stets nach Westen fortschreitenden Grenze, der Besiedlung des Kontinents und der Verdrängung der indigenen Bevölkerung spielte die Blockhütte eine wichtige Rolle. Seitdem ist sie in zahllosen Filmen, popkulturellen Kontexten sowie nationalen Narrativen reproduziert worden als Sinnbild des Mutes und der Resilienz der frühen Siedler. Die Hütte ist zum anderen auch Teil des amerikanischen rags-to-riches-Mythos (vom Tellerwäscher zum Millionär). Sie steht für einen bescheidenen Beginn, der in einem prunkvollen Haus endet – manchmal sogar im White Haus, wie Ahne am Beispiel von Abraham Lincoln zeigt. Die ärmliche Hütte, in der der spätere Abolitionist und Präsident der USA geboren wurde, steht seit 1911 als Nachbau in der für Lincoln errichteten Ruhmeshalle. Sie ist die materielle Verkörperung der unbegrenzten Möglichkeiten der amerikanischen Demokratie und soll zugleich Lincolns Wurzeln in Bescheidenheit zeigen  und sein Gerechtigkeitsgefühl für die Unterdrückten feiern (56ff.).

Thoreaus Hütte bezeichnet Ahne als „Urhütte“ für ein „Verlangen, dass heute stärker ist denn je: einen Ort zu haben, an dem ein anderes Leben möglich ist, ein richtigeres, bewussteres, naturnäheres; ein Leben, das im Alltag abhandengekommen ist. Es ist nicht verloren, verspricht die Hütte. Sie hält es bereit“ (98). Nun sind Hütten eben nicht für die Ewigkeit gebaut. Sie verfallen. Und so ist weder Lincolns Hütte „echt“, noch existiert die von Thoreau am Walden Pond heute noch. Er verkauft die Bretter kurz nach seinem Weggang an einen Farmer, der die Hütte abreißt (101). Was bleibt, ist der immaterielle Traum, die Sehnsucht nach der Hütte. Echte Hütten standen und stehen jedoch heute ebenfalls – als Gegensatz – für das Versagen und die Abgründe der amerikanischen Demokratie. In Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin ist die Hütte die krage Behausung der Entrechteten, der vier Millionen Sklaven, die es zu Thoreaus und Lincolns Zeit in den USA gab. Hütten in den Slums von Chicago oder anderer Großstädte sind in der Gegenwart Mahnmale eines gescheiterten Pursuit of Happiness, des Versagens der freien Marktwirtschaft und einer kapitalistischen Demokratie, in der eben nicht jede/r vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen kann. Solche Hütten lassen sich nicht heroisch verklären. Aber es sind auch nicht diese Hütten, um die es beim Internetphänomen Cabin Porn geht. Es ist vielmehr der Hüttentraum, die Idee und Möglichkeit eines anderen Lebens, den die Hütte verkörpert und den es zu vermarkten gilt.

Cabin Porn

Der Blog cabinporn.com wurde 2012 vom Internetmillionär Zach Klein, dem Gründer von Vimeo, ins Leben gerufen. Ursprünglich gedacht als Plattform für Freunde, mit denen er Ideen für den Bau von Hütten austauschen wollte, wurde der Blog zu einem globalen Internetphänomen, bei dem Menschen Bilder einsamer Hütten auf der ganzen Welt posten. In seinem Artikel „Why look at cabin porn?“ beschreibt der norwegische Umwelthistoriker Finn Arne Jørgensen Cabin Porn als „a heartbreakingly beautiful and surprisingly popular Internet phenomenon.“ Der Titel der Website, so fährt Jørgensen fort, „is used quite tongue in cheek, but it is also rather profound. It is intended as a reference to the somewhat guilty pleasure of looking at a particular kind of picture — in this case, cabins […]“ [8]. Ebenso wie Pornographie Sexualität auf bestimmte Anteile reduziert und andere, komplexere Aspekte menschlicher sexueller Interaktion ausklammert, evoziert die Hütte eine unkomplizierte Sehnsucht nach einem Leben in der Natur und „blendet dabei unerwünschte Elemente der modernen Gesellschaft“ aus [9]. Die Bezeichnung Porn verweist darauf, dass es sich hierbei um eine Fantasie handelt, die nichts mit der Realität zu tun haben mag, uns aber gerade dadurch viel unmittelbarer anfasst.

Cabin Porn ist durch eine Reihe visuell-ästhetischer Kriterien gekennzeichnet. Es gibt meist keinen Text, sondern reine Bilder, die weder Menschen noch Infrastruktur noch Technologie beinhalten [10]. Fragen danach, woher man Wasser und Strom bezieht, wo man seine Notdurft erledigt, wie man an den entlegenen Ort kommt, werden ausgeklammert. Dafür werden die Isoliertheit der Hütte und ihre Eingebundenheit in die Natur überbetont, weil diese Aspekte eine tiefe Sehnsucht nach einem authentischeren, wertvolleren Leben jenseits moderner Errungenschaften und ihrer Komplikationen auslösen. In Jørgensens Worten: „The images of cabin porn whisper to us of this lost state of grace, of an age of wood and earth and things that were real and true“ [11]. Der Blog, auf dem mittlerweile mehr als 12.000 Hütten zu sehen sind, fungiert als sogenannte „central seeder site“, von der aus sich die Bilder in anderen sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter verbreiten und so eine „global community of cabin pornographers“ erschaffen [12]. Bilder einsamer Hütten evozieren Gefühle, artikulieren diese aber nicht. Stattdessen transportieren sie ein Konglomerat diffuser Sehnsüchte, die in der Ausbuchstabierung und rationalen Linearität sofort verpuffen würden. Ihre vermeintliche Realität erhalten die Hüttenbilder eben durch die digitalen Medien, in denen der Gedanke des einfachen Lebens in der Natur eine Gemeinschaft Gleichgesinnter schafft. Die Idee der einsamen Hütte, die Cabin Porn kreiert, beruht natürlich auf Privilegien. Kriterien wie Klasse, Ethnizität und Geschlecht engen den Kreis der Hüttenträumer meist auf weiße Menschen mittleren Alters aus der Mittelschicht oder darüber ein [13].

Thoreaus Hütte bildet für Jørgensen die Basis essentieller Charakteristika des Cabin Porn-Genre. Die Suche nach einem Leben jenseits von Luxus, orientiert an den absoluten Grundbedürfnissen und in Freiheit von finanziellen und technischen Zwängen, findet ihr Echo „in the modern ‚off the grid‘ movement“ [14]. Das Bild der Hütte – das wir von Thoreaus Hütte nur durch eine Zeichnung haben, die seine Schwester Sophia anfertigte und die seitdem auf endlosen Buchcovern repliziert wird – ist eine Heterotopie eines Ortes im Foucaultschen Sinne [15], der in einem real existierenden Raum mehrere Raumzeitlichkeiten zusammenführt. Die Hütte vereint und abstrahiert Vorstellungen von Natur aus verschiedenen Zeiten und Kontexten – historisch, zeitgenössisch, urban, rural. Dabei bleibt Thoreaus Hütte die Urhütte, die Keimzelle, nicht weil sie an sich bemerkenswert ist, sondern weil die Idee, die sie verkörpert, wirkmächtig bleibt. Nur durch diese Idee des einfachen, selbstbestimmten, irgendwie authentischeren Lebens werden Bilder von Hütten symbolisch aufgeladen und zum Inbegriff der Möglichkeit eines anderen Lebens. Weit entfernt und doch zum Greifen nah.

Das auf Thoreaus Hütte zurückgreifende digitale Phänomen des Cabin Porn hat weitere soziale Trends wie das Minimalhaus oder Tiny House Movement und Vanlife beeinflusst [16], die alle ein Verlangen nach Vereinfachung, Ausstieg aus einem konventionell sesshaften Lebensstil und eine Sehnsucht nach Nähe zur Natur teilen. Und sie alle leben von der Verbreitung von Bildern dieses Lebensstils auf Blogs und in sozialen Medien. Cabin Porn hat sich zu einem blühenden Industriezweig entwickelt; es ist nicht nur beim digitalen Phänomen geblieben. Zach Klein gibt inzwischen eine Reihe von Cabin Porn-Büchern heraus, die propagieren, dass in jedem von uns der Traum eines Zuhauses schlummere, dass darauf warte, gebaut zu werden [17]. Klein hat seinen kollektiven Hüttentraum verwirklicht. Davon erzählt das erste Kapitel des Buches [18]. Nachdem er jahrelang online Communities gebaut habe, sei die Sehnsucht gewachsen, dies nun real offline zu tun. Und so sucht Klein „a remote piece of land where anything was possible“ (3). Auch hier wohnt der Hütte vor allem das Versprechen nach einem alternativen, neuen Leben inne. Er findet sein Paradies im Upper Dellaware Valley, nennt es Beaver Brook nach dem dort fließenden Bach und beginnt mit seiner Frau und ein paar dutzend Freunden, dort eine Einraumhütte zu bauen. Klein beschreibt den ersten Abend am Lagerfeuer wie folgt: Es gab geschmorte Lammschulter im Dutch Oven bei Stirnlampenlicht. Später kuschelten sich alle gemeinsam in der Einraumhütte unter Wolldecken und lauschten ihrem Freund beim Vorlesen. Klein schreibt: „This weekend touched off what have become the happiest years of my life“ (6). Man kann diese idyllische, idealistische Fantasie sehr leicht analytisch und zynisch dekonstruieren. Angefangen bei der Lammschulter im auf alt gemachten hippen neuen Camping Device, dem Dutch Oven, bis hin zur kindlichen Hingabe an den Vorleser. Aber Kleins Lebensexperiment – Beaver Brook hat fünf Jahre später ein Wohnsitzverfahren, eine Schule, ein Internship, bei dem man das Hüttenbauen wie das Community Building auf Zeit erleben kann – zieht Menschen weltweit an. Über Bauanleitungen und Tipps soll der Hüttentraum für alle möglich werden. Für die meisten bleibt er digital, weil das Kleingeld für ein abgeschiedenes Stück Land fehlt. Der Traum hält sich dennoch – oder vielleicht gerade weil er für die meisten nicht zu verwirklichen ist – hartnäckig.

Damon Hayes Coutures Bildband Cabins: Escape to Nature liegt in Wartezimmern von Arztpraxen oder Einrichtungshäusern als Wohlfühl- und Ambienteartikel aus. Ich entdeckte es bei meiner Zahnärztin in Jena. Couture beschreibt seine Bilder einsamer Hütten einleitend als „architektonische Erkundung einer Idee“ [19], nicht nur einer individuellen, sondern einer, die im Archiv kollektiver kultureller Narrative zu finden sei. Die Hütte, so der Kanadier weiter, existiere immer an mehreren Grenzen, z. B. von Urbanität und Wildnis, Traum und Realität, Innen und Außen, Materialität und Idee, Natur und Kultur, Tradition und Technologie. Natürlich ist auch für Couture Thoreaus Hütte am Walden Pond die Urhütte, die er als „essay in self-sufficiency“ (17) bezeichnet. Durchweg verwendet der auf Architektur spezialisierte Fotograf Redewendungen wie „architectural typologies,“ „building vernaculars“ oder „practical transformations and spatial configurations“ (9) sowie „cabin typology“ (16). Diese Formulierungen weisen Hütten und den Bildern derselben eine eigene Symbolsprache zu. Die Hütte an sich hat einen narrativen Gehalt, den es architektonisch und fotografisch handhabbar und lesbar zu machen gilt. Zwischen der Bauweise von Hütten und nationalen Mythologien besteht für Couture eine Verbindung. So beobachtet etwa der finnische Architekt Alvar Aalto eine enge Verbindung zwischen den karelischen Blockhäusern Finnlands und dem finnischen Nationalepos, dem Kalevala [20]. Jede Hütte, so Couture, sei Teil eines eigenen kulturellen Narrativs – finnische Hütten sehen anders aus und verkörpern andere Ideen als norwegische oder amerikanische – und beschwöre heute zugleich eine übergreifende Sehnsucht nach der Flucht aus der technologisierten Welt und einen Rückzug in die Natur herauf. In unserer Zeit seien Bilder von Hütten zu Phänomenen eines „digitalen Eskapismus“ geworden, so Couture [21].

Dies gilt auch für die noch breitenwirksamere Bewegung des Cottagecore, das in seiner biederen Darstellung von Geschlechterrollen zunächst befremdlich nostalgisch und konservativ daherkommt. Zugleich eignen sich aber zunehmend gesellschaftlich marginalisierte Gruppen die Inhalte und Ästhetik von Cottagecore an und dekonstruieren so Geschlechterstereotype. Hierauf möchte ich im Folgenden näher eingehen.

Cottagecore

In ihrem Aufsatz „Crafting Cottagecore: Digital Pastoralism and the Production of an Escapist Fantasy“ definiert Leah Brand das Phänomen wie folgt: „Cottagecore can be understood as the projection of the core fantasy of escape to a cottage in the woods to live as if it were a ‚simpler time’“ [22]. Cottagecore ist im Kern also eine pastorale Fantasie vom Rückzug in die Natur jenseits der korrumpierenden Einflüsse der Zivilisation – das gibt es schon seit der griechischen Anakreontik. Neu ist jedoch, dass es sich hierbei um einen digitalen Pastoralismus handelt, um ein Internetphänomen, das Performanz und Konsum amalgamiert. Als Cottagecore wird die Verbreitung sowie die Nutzung von Videos und Blogs über das Leben auf einer Farm, über autarke Herstellung von Lebensmitteln, über handwerkliche und handarbeitliche Tätigkeiten oder auch ökologisches Gärtnern verstanden, denen allen gemein ist, dass sie an einem unbestimmten und nostalgischen ländlichen Ort stattfinden. Diese „Retrotopie“, um Zygmunt Baumanns Begriff zu bemühen, flüchtet vor einer kapitalistischen, technologisierten, modernisierten Gesellschaft an einen in einer unbestimmten Vergangenheit liegenden Ort, um darüber eine mögliche Zukunft zu imaginieren und die Gegenwart zu reformieren [23].

Während Cottagecore auf dem Ausführung von Aktivitäten, die sich ums Selbermachen drehen, beruht, bedarf es ebenso einer ästhetischen Dokumentation und der digitalen Verbreitung durch soziale Medien. User werden über das Schauen der digitalen Inhalte an einen retrotopischen Ort transportiert, der eben nicht in einer besseren Zukunft liegt wie die Utopie, sondern in einer romantisierten Vergangenheit. Sie interagieren dann durch Kommentare und eigene Posts mit den Inhalten und gestalten den Raum bzw. die digitalen Inhalte, die ihn kreieren, aktiv mit. In Brands Worten: „Making a hand-bound book with hand-pressed paper is cottagecore; but viewing TikTok user @shelbfart go through the paper-pressing and bookbinding process is also cottagecore“ [24]. Was Cottagecore ausmacht, bestimmt sich also durch die Interaktion von Internetusern gegenüber einem utopischen bzw. retrotopischen Ort.

Welchem ästhetischen Programm Cottagecore folgt, ist leicht zu beschreiben; die politischen Ziele sind etwas komplexer und diversifizierter. Wie der Hüttentraum entzieht sich Cottagecore einer Raumzeitlichkeit. Die Videos können überall spielen, Hauptsache die Natur mit ihren Gaben überwiegt bei der Darstellung: „Cottagecore has led its consumers to believe that a specific country landscape is most desirable; one characterized by an abundance of greenery, wildflowers and berries, and perhaps an idle river flowing across the land“ [25]. Wie beim Traum von der einsamen Hütte ist es die vage Möglichkeit des Rückzugs in die Natur, eine digital vermittelte Fantasie mehr als eine praktische Realität, die Menschen anzieht. Es sei also, wie Johnston richtig anmerkt, nicht der ländliche Ort an sich, sondern dessen distinktive kulturelle Rahmung [26], über den ein digitaler Eskapismus vermittelt werde. Cottagecore konstituiert sich um eine pastorale Idylle im 21. Jahrhundert, die sich bewusst gegen kapitalistische Strukturen, gegen Massenkonsum und gegen die Ausbeutung von Ressourcen – dass auch Streaming dazugehört, wird dabei ausgeblendet – wendet. Stattdessen liegt der Fokus auf als post-kapitalistisch verstandenen Praktiken der Entschleunigung, des Selbstgemachten, bei denen der Prozess statt des Produkts im Vordergrund steht und es um Achtsamkeit für sich selbst und um Nachhaltigkeit bei der Produktion geht.

Cottagecore ist vermeintlich anti-urban, anti-fortschrittlich, anti-modernistisch, bedient sich aber gleichzeitig fortschrittlichster Tools; es verwischt nicht nur die Grenze zwischen Produktion und Konsum sowie zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft, sondern zwischen pastoraler Idylle und Hochleistungstechnologie: „Cottagecore […], as it inspires a mode of crafting tied to the digital, creates the dialectic intersections between romantic pastoralism and technology, and between community and isolation“ [27]. Diese Vermischung ist ebenfalls  wieder zu einer eigenen „brand“ geworden, da Firmen wie H&M oder C&A massenproduzierte Ware im Cottagecore-Stil anbieten [28]. Das ästhetische Programm des Cottagecore folgt dem Stil der als Königin des Rokoko betitelten jungen Marie Antoinette sowie pastoralen Vorbildern des 18. und 19. Jahrhunderts [29]. Für die Darstellung überwiegend schlanker weißer Menschen in weißen Baumwollgewändern, die weder Klassenunterschiede noch Unterdrückung, weder Sklaverei noch koloniale Gewalt gegen Ureinwohner oder patriarchale Strukturen reflektiert, ist Cottagecore anfangs stark kritisiert worden [30]. Allerdings haben sich hier – ähnlich wie beim Urban Birding [31] – vormals ausgegrenzte Gruppen das Format schnell zu eigen gemacht, sodass es nun Subtrends wie Black Cottagecore oder Lesbian Cottagecore mit Hashtags wie #blackgirlsincottagecore, #blackcottagecore oder #cottagecorelesbians und #sapphic gibt [32]. Cottagecore beruht auf Performanz und wie wir seit Judith Butler wissen, liegt in der Notwendigkeit der wiederholten Performanz zur Konstruktion von Geschlechtsidentitäten auch die Chance zu deren Subversion. In der Übertreibung hyperfemininer Rollenmuster wird Cottagecore zum Flagschiff der LGBTQ+ Bewegung, denn durch „drag“, so Butler, werden Gender-Klischees parodiert, wodurch die Konstruiertheit und Performativität jeglicher geschlechtlicher Identität hervorgehoben und jegliche vermeintliche Natürlichkeit dekonstruiert werde“ [33].

Cottagecore weist eine Ambiguität in der Glorifizierung der von der Welt abgewandten idyllischen Pastorale einerseits und der Abhängigkeit von Highspeed-Internetplattformen wie tumblr, TikTok oder Pinterest andererseits auf. Genau deshalb hat Cottagecore während der Corona-Pandemie bezogen auf die Inhalte einen Zuwachs um 153% und hinsichtlich der  Kommentaren sogar um 550% [34]. Die Menschen entdecken in der unfreiwilligen Isolation zu Hause das Selbermachen und flüchten sich angesichts der durch Technologien und Infrastrukturen hervorgebrachten „modernen“ Katastrophen in vormoderne Räume. Cottagecore fusioniert Vorstellungen von Naturidylle, Landschaftsmalerei, Kleidungsstilen von den alten Griechen über das Mittelalter bis hin zu Marie Antoinette und dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Genre des Nature Writing; es ist „nostalgic for a fluid past“ [35]. Diese Fluidität von Raum und Zeit lässt Cottagecores Pastoralismus von Sappho bis Taylor Swift und von sehr heteronormativen Vorstellungen des Geschlechts bis zu diese Vorstellungen völlig dekonstruierenden Darstellungen reichen [36].

Wieviel Thoreau steckt nun aber in Cottagecore und inwiefern hat seine Hütte und die damit zusammenhängenden Philosophien und Praktiken das Cottagecore-Movement beeinflusst? Oft wird Thoreau durch Bilder seiner Hütte oder durch einen Soundtrack, in dem berühmte Zitate aus Walden eingespielt werden, referenziert. Wie eingangs beschrieben, dient die Referenz auf sein Lebensexperiment am Walden Pond, bei dem er selbstbestimmt und -versorgt leben wollte, und sein temporärer Rückzug in die Natur als wirkmächtiges kulturelles Mem, durch das sofort ein ganzer Kontext an Assoziationen und Ideen evoziert wird, durch die Cottagecore unmittelbar eine seiner kulturellen Rahmungen erfährt. Selbst wo dies nicht geschieht, sind Thoreaus Einfluss und seine Gedanken ubiquitär. Als Gründervater des amerikanischen Nature Writing Genre [37], welches eine pastorale Sehnsucht mit einer transzendentalen Selbstreflektion und einem Naturkonservatismus verbindet, sind es Thoreaus Werke oder einzelne kulturprägend gewordene Aphorismen, die den leicht abrufbaren Hintergrund für das digitale Phänomen bilden. Auch in seiner didaktischen Ausrichtung aufs Tun, aufs praktische Erleben und Ausprobieren statt des theoretischen Studierens steht Thoreau Pate. Junge Menschen, so mahnt er in Walden, „should not play life, or study it merely […] but earnestly live it from beginning to end. How could youths better learn to live than by at once trying the experiment of living?“ [38].

Thoreaus Gedankengut war auch im 20. Jahrhundert hipp, aber gerade für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bieten seine Überlegungen zu Self-Sufficiency, zur Entschleunigung, zum Aussteigertum und zur Vereinfachung einen Rahmen für digitale Inhalte. Sein temporärer Rückzug in die Natur, um die Konventionen, Normen und Gewohnheiten der Gesellschaft in Frage zu stellen, dient dem digitalen Eskapismus als Modell. Weder Cabin Porn noch Cottagecore wurden während der Covid-19 Pandemie erfunden, aber sie erreichten dort ihren größten Zulauf, der seitdem weiter anhält. Während der durch die Pandemie auferlegten Isolation und in der post-pandemischen Zeit großer ideologischer Lagerbildungen und Verunsicherungen flüchten Menschen sich digital gemeinsam in einsame Hütten und nostalgische Naturräume, in denen ein Leben ohne Viren und Bedrohungen geteilt werden kann. Während der Pandemie backten, strickten und werkelten Menschen mehr denn je. Der Rückzug in selbstbestimmte und -gemachte Praktiken und Daseinsformen nährte die Illusion von Unabhängigkeit im Angesicht der Ohnmacht. Und das Teilen und Kommentieren von Inhalten schuf die Illusion einer gleichgesinnten Gemeinschaft, die sich in immer ausdifferenziertere Gruppen unterteilte. Für viele User wurde die digitale Verbundenheit weitaus realer als die Realität.

Schluss

In der Conclusion von Walden ermutigt Thoreau seine Leser:innen, das Träumen zu wagen, um den Traum dann – auf welche Weise auch immer, praktisch oder poetisch – umzusetzen [39]. In Walden gehen zudem der Bau des Hauses und die Fabrikation des ästhetisch-philosophischen Textes Hand in Hand [40]. Thoreau „baut“ an einer Idee: Es ist nicht das Errichten einer Hütte oder die Nachahmung seines Lebensexperiments, das er seinen Leser:innen empfiehlt, sondern das Streben nach wahrhaftiger Selbstbestimmung und der damit verbundenen Infragestellung von Gewohnheiten und Traditionen. Und schlussendlich soll für Thoreau all dies dem einen Zweck dienen, nachhaltig kreative Literatur hervorzubringen. Weder die luxuriös einfach inszenierten Hütten des Cabin Porn noch die letztendlich doch wieder kommerzialisierten Produkte der Cottagecore-Bewegung atmen in dieser Hinsicht Thoreaus Geist. Aber man kann sich seine Nachahmer und das, wofür man später einmal Modell stehen wird, nicht aussuchen. Fakt ist, dass Thoreaus Hütte einen Nerv im Zeitgeist des 21. Jahrhunderts getroffen hat und weiterhin trifft. Die Hütte am Walden Pond, bei dem Autor, Ort, Text und Gebäude verwoben sind, wurde zu einer der simpelsten Ausdrucksformen für eine mit vielen Menschen geteilte Sehnsucht, anders zu leben.

Im Computerspiel Fallout 4, das eine Welt nach der atomaren Katastrophe imaginiert, ist Thoreaus Hütte das einzige Überbleibsel der Zivilisation. Das mit mehreren Auszeichnungen dekorierte Videospiel Walden, in dem User Thoreaus Erfahrung virtuell nachahmen können, verbuchte während Corona Rekordumsätze [41]. Mehr als etwas Materielles verkörpert die  Hütte am Walden Pond, die es gar nicht lange gab, die somit immer nur temporär angelegt und immer schon mehr Idee als Behausung war, eine Möglichkeit: Die Möglichkeit, anders zu leben, eine eigene andere Welt zu bauen. Je fragiler die wirkliche Welt scheint, desto stabiler die Hütte und die mit ihr verbundenen Träume.

 

Anmerkungen

[1] Leah Brand: „Crafting Cottagecore: Digital Pastoralism and the Production of an Escapist Fantasy“, in: Coalition of Master’s Scholars on Material Culture, 25. Juni 2021, cmsmc.org/publications/crafting-cottagecore, abgerufen am 11. September 2023, S. 1–25.

[2] Zu dieser Verschmelzung s. Leonard N. Neufeldt/Mark A. Smith: „Going to Walden Woods: Walden, Walden, and American Pastoralism“, in: Arizona Quarterly 55 (1999) 2, S. 57–86; sowie Caroline Rosenthal: „Modell des einfachen Lebens: Henry David Thoreaus Walden“, in: Romantik erkennen – Modelle finden, hg. von Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek, Paderborn 2019, S. 169–186.

[3] Henry David Thoreau: Walden, hg. von Jeff Cramer, New Haven [u. a.] 2004, S. 11. Alle im Text folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

[4] Siehe hierzu das Kapitel „Thoreau’s House“ von Dieter Schulz in seinem Buch: Emerson and Thoreau or Steps Beyond Ourselves. Studies in Transcendentalism, Heidelberg 2012, S. 118–128, hier S. 118.

[5] Gaston Bachelard: „The House. From Cellar to Garrett. The Significance of the Hut“, in: The Poetics of Space, Boston 1994, S. 3–37. Alle im Text folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

[6] In „‚Mind Is the Cabin‘: Substance and Success in Post-Thoreauvian Second Homes“ hält Randall Roorda fest: „The cabin scenario is key to narratives of retreat. Materially, the cabin enables solitude requisite to ‚fronting‘: shelter and sustenance. Rhetorically, the cabin is synecdoche for the heightened interior, the ‚finding‘ sought in retreat.“ Äußere und innere Welt sind in der Hütte also stets unauflösbar verknüpft; in: Cultures of Solitude: Loneliness – Limitation – Liberation, hg. von Ina Bergmann/Stefan Hippler, Frankfurt am Main 2017, S. 187–201, hier S. 190.

[7] Petra Ahne: Hütten: Obdach und Sehnsucht, Berlin 2019, S. 9. Alle im Text folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

[8] Finn Arne Jørgensen: „Why look at cabin porn?“, in: Public Culture 27 (2015) 3, S. 557–578, hier S. 558.

[9] Ebd., S. 559, meine Übersetzung.

[10] Paul Elie verweist darauf, dass in Vorstellungen und Darstellungen von Thoreaus Hütte am Walden Pond der Autor und Urheber in den Bildern auch stets fehlt. Thoreaus Experiment wird, anders als dies z. B. später bei Whitman ist, nicht durch die Person, sondern durch die Hütte selbst verkörpert. Paul Elie: „The House Thoreau Built“, in Now Comes Good Sailing: Writers Reflect on Thoreau, hg. von Andrew Blauner, Princeton 2021, S. 238–248, hier S. 239.

[11] Jørgensen: Why look at cabin porn, S. 559.

[12] Ebd.

[13] Für Frauen kann eine Isolation in der Wildnis Fragen nach Sicherheit mit sich bringen und historisch gesehen wurden Frauen, die in einsamen Hütten wohnten, wie Ahne darlegt, nicht als weise Einsiedlerinnen, sondern als Hexen betrachtet. Ahne: Hütten, S. 74ff.

[14] Jørgensen: Why look at cabin porn, S. 562.

[15] Ebd., S. 574f.

[16] Zum Zusammenhang von Thoreaus Hütte und dem Tiny House Movement siehe Elie: The House Thoreau Built, S. 241–245. Zu Vanlife siehe Ken Illgunas: Walden on Wheels: On the Open Road from Debt to Freedom (New Harvest 2013), welches sich gegen den amerikanischen Mythos des Privatbesitzes als Symbol des Erfolgs wendet und stattdessen, im Geiste Thoreaus, anprangert, wie Menschen in Amerika sich durch Studien- und Hauskredite in ein System der lebenslangen Abhängigkeit und Selbstversklavung begeben. Jessica Bruders Buch Nomadland: Surviving America in the 21st Century (New York 2018) und Chloé Zhaos Film Nomadland (Searchlight Production) von 2020 verfolgen das gleiche Argument, indem sie Sesshaftigkeit und Verschuldung in Frage stellen. Siehe auch Joseph Dorn: „On the Road with the VanLife Community: The Art of Storytelling in the Age of Instagram“, CMC Senior Theses 2015, scholarship.claremont.edu/cmc_theses/1087, abgerufen am 6. November 2023.

[17] Zach Klein/Stephen Lessart/Noah Kalina: Cabin Porn: Inspiration for Your Quiet Place Somewhere, New York 2015, Zitat im Inhaltsverzeichnis, meine Übersetzung.

[18] Zach Klein: „How to Build a Community“, in: Cabin Porn, S. 3–21. Alle im Text folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

[19] Damon Hayes Couture: „On the Frontier: The Cabin in the 21st Century“, in: Cabins: Escape to Nature, Australia 2022, S. 7–22, hier S. 3, meine Übersetzung. Alle im Text folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

[20] Ebd., S. 13.

[21] Ebd., S. 6, meine Übersetzung.

[22] Brand: Crafting Cottagecore, S. 2.

[23] Zygmunt Bauman: Retrotopia, Cambridge 2017.

[24] Brand: Crafting Cottagecore, S. 10f.

[25] Zoe Johnston: „Cottagecore and Rural Gentrification“, in: The Compass 1 (2022) 9, S. 8–12, hier S. 8.

[26] Johnston: Cottagecore and Rural Gentrification, S. 9.

[27] Brand: Crafting Cottagecore, S. 2.

[28] Ich bedanke mich für diesen Hinweis sowie insgesamt für Impulse zu Cottagecore bei meiner Studentin Louisa Büsken, die im Sommersemester 2022 an meinem Seminar „Romantic Thought in the Anthropocene“ teilgenommen und eine Hausarbeit zum Thema Cottagecore geschrieben hat.

[29] Siehe hierzu Brand: Crafting Cottagecore; und Johnston: Cottagecore and Rural Gentrification.

[30] Siehe hierzu z. B.: www.bs-anne-frank.de/mediathek/blog/von-landromantik-zur-lebensrune, abgerufen am 6. November 2023.

[31] Urban Birding ist die hauptsächlich in Großstädten stattfindende Beobachtung von Vögeln, die über soziale Medien und Internetblogs verbreitet wird und sich in den letzten Jahren zunehmend diversifiziert hat. Siehe hierzu: Caroline Rosenthal: „Wildnis Stadt: Zeitgenössisches Urban Birding und seine historischen Wurzeln in den USA“, in: Romantische Urbanität: Transdisziplinäre Perspektiven vom 19. bis ins 21. Jahrhundert, hg. von Sandra Kerschbaumer/Gisela Mettele, Wien [u. a.] 2020, 187–209.

[32] Brand: Crafting Cottagecore, S. 5.

[33] Judith Butler: Gender Trouble [1990], New York 2010, 172–176. Diesen Gedanken habe ich der Hausarbeit von Catherine Gastin entnommen, die i.o.g. Seminar „Romantic Thought in the Anthropocene“ eine Hausarbeit mit dem Titel „Kiss me Over the Garden Gate: how Cottagecore uses gender performances to subvert heteronormativity, reposition crafts, reappropriate space, and connect with nature” verfasst hat, die demnächst bei ASPEERS erscheinen soll. 

[34] Brand: Crafting Cottagecore, S. 5.

[35] Ebd., S. 8. 

[36] Zum Pastoralismus im Cottagecore siehe Erin Morton: „Of Folksongs and Feral Children: Taylor Swift’s White Settler Womanhood“, in: HELIOTROPE 14. Oktober 2020, www.heliotropejournal.net/helio/folk-songs, abgerufen am 28. September 2023; sowie Mason M. Waller: „The History, Drivers, and Social Issues of the Cottagecore Movement“, in: WWU Honors College Senior Projects 2022, cedar.wwu.edu/wwu_honors/531, abgerufen am 11. September 2023. Für Aneignungen siehe Eleanor Medhurst: „Lesbian Knitting: From Self-Sufficiency to Self-Representation“, in: TEXTILE (2022), S. 1–10.

[37] Zum Genre des Nature Writing siehe: Don Scheese: Nature Writing. The Pastoral Impulse in America, New York 1996; sowie Peter Braun/Caroline Rosenthal: „Sehnsuchtsort Natur: Von Ralph Waldo Emerson bis Peter Wohlleben: Vom Schreiben über Natur in den USA und in Deutschland“, in: Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Marc Weiland/Werner Nell, Bielefeld 2021, S. 167–197.

[38] Thoreau: Walden, S. 49, Hervorh. im Original. Thoreau wurde so auch zum Ahnen der „Place-based Learning“-Bewegung. Siehe hierzu den Aufsatz von Halter/Rosenthal, der aus einem durch das Graduiertenkolleg „Modell Romantik“ organisierten Workshop zu „Place-Based Education and Environmental Care: Workshop“ (11.–12. Mai 2023) entstanden ist. Amanda Halter/Caroline Rosenthal: „Post-Pandemic Walden: An Examination of Thoreauvian Place-Based Education Through COVID and Beyond“, in: Teacher Education in (Post-)Pandemic Times: International Perspectives on Interculturality, Diversity and Equity, hg. von Silke Braselmann/Lukas Eibensteiner/Laurenz Volkmann, Frankfurt 2023 (im Druck). 

[39] Thoreau: Walden, S. 315.

[40] Elie: The House Thoreau Built, S. 241.

[41] Todd Howard/Emil Pagliarulo: Fallout 4, Bethesda Game Studios 2015. Siehe auch die Besprechung von Norbert Zähringer: „Nach dem Atomkrieg ist die ganze Welt wie IKEA“, in: Welt am Sonntag, 15. November 2015. Tracy Fullerton: Walden, a Game, USC Games 2017. Siehe hierzu Andrea Diener: „Nach Thoreaus ‚Walden‘: Computerspiel für Aussteiger“,  Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. März 2017, www.faz.net/-gqz-8viwl, abgerufen am 6. November 2023.

 

Der Beitrag ist unter folgendem Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59284

Thoreaus Hütte am Walden Pond

Abgelegene Hütte in den Bergen

Zubereitung in der Küche im Stil des „Cottagecore“