Daniel Grummt , 11.01.2018

To bear or not to bear, that is the Question.

Anmerkungen zu Tom Uttechs Gemälde „Enassamishhinjijweian“

„Wir müssen lernen, wieder wach zu werden und uns wach zu erhalten, nicht durch mechanische Mittel, sondern durch das unaufhörliche Erwarten des Sonnenaufgangs, welches uns nicht verlassen darf im tiefsten Schlaf.“ [1]

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, so heißt es oder auch: Was will uns der Künstler mit seinem Kunstwerk eigentlich sagen? Die Aussage und die Frage sitzen einem Trugschluss auf. [a] Denn Bilder sagen im Grunde nichts, da sie selbst nicht reden. Dafür machen sie uns auf bestimmte Sachverhalte sowie deren Beziehungen zueinander aufmerksam und „zeigen etwas, ohne zu sagen, was sie zeigen.“ [2; Hervor. i. O.] Im Zeigen also lässt sich ein Erkenntniswert von Kunst ausmachen. Um zu erkennen und ferner zu verstehen, was Gemälde uns zeigen wollen, worin also „der Witz der Sache“ [3] besteht, braucht es zuweilen den erläuternden Kommentar sowie die textliche Auslegung darüber, was in und mit einem Bild dargestellt wird.

Eine solche Bildinterpretation, die sich explizit als ein Deutungsangebot versteht, soll an dieser Stelle am Ölgemälde Enassamishhinjijweian (2009) des US-amerikanischen Künstlers Tom Uttech unternommen werden. [b] Uttech und sein Kunstwerk geraten deshalb in den Blick, weil sie bisher nicht in Erscheinung getreten sind; man hat das Bild und dessen Schöpfer – zumindest in Europa – nicht auf dem kunsthistorischen, geschweige denn -soziologischen Radar. [c] Es ist aber nicht nur das Moment des Unerwarteten, was zur Auseinandersetzung mit Maler und Werk führen soll, sondern auch die Tatsache, dass das Bild sich verstehen lässt, wenn man es im Kontext modelltheoretischer Annahmen zur Romantik kommentiert. [d] Dies plausibel zu machen, wird im Folgenden das Anliegen des Beitrages sein.

1. Am Anfang war das Unverständnis

Die Interpretation“, schreibt Bätschmann, „beginnt durch das Artikulieren unseres Unverständnisses in einer Reihe von Fragen.“ [4; Hervor. i. O.] [e] Zu diesen gehört im Zusammenhang mit dem Gemälde von Uttech die Folgenden: Warum sitzt in der Mitte des Bildes ein Bär? Ist er einsam? Was schaut er sich da eigentlich an? Handelt es sich am Horizont um einen Sonnenuntergang oder um einen -aufgang? Ist dies gar kein Himmelsgestirn, sondern das Zeichen einer Apokalypse? Ausgelöst durch den Abwurf einer Atom- oder Wasserstoffbombe? Zudem: Was ist das für eine Landschaft, die da zu sehen ist? Eine, in der alles abstirbt, worauf die umgefallenen Bäume verweisen könnten? Oder eine, die gerade im Begriff ist, aufzublühen – wofür die bunten, kräftigen Farben ins Feld geführt werden könnten? Und: Warum fliegen so viele Vögel durch das Bild und warum fliegen sie in ein und dieselbe Richtung?

Für ein Untergangsszenario könnte sprechen, dass alle im Bild ersichtlichen Vögel von rechts nach links fliegen. Sie könnten durch eine Detonation aufgeschreckt worden sein und um ihr Leben fliegen. Demgegenüber ließe sich aber ebenso gut argumentieren, dass die Vögel aufbrechen in eine neue Welt. Sie ziehen beispielsweise gemeinsam gen Süden, ins gelobte Land oder an einen anderen denkbaren Ort, der jenseits des Bildausschnittes zu vermuten ist. Aber selbst wenn man sich darauf einigen könnte, dass im Gemälde eine Zeitenwende gezeigt wird, die einen radikalen Umbruch markiert, kann dies dennoch durch die natürliche Abfolge der Jahreszeiten relativiert werden. Eingedenk dieser Annahme sind dann beispielsweise die Bäume im Bildvordergrund nicht durch eine Explosion oder dergleichen zu Fall gekommen, sondern im Prozess des natürlichen Vergehens abgestorben – um auf diese Weise erneut anderen Lebewesen einen Lebensraum zur Verfügung zu stellen. Oder poetischer reformuliert: „Der Tod ist der Weg auf dem sich das Lebendige so verschenkt, dass mehr Leben entsteht.“ [5] Möglich zudem, dass es sich um eine Landschaft handelt, in die das Weiß des Winters noch keinen Einzug gehalten hat oder aus der dieses vor kurzem erst entwichen ist. Fürs Erste bleibt offen, was genau das Bild darstellt, sodass es erforderlich ist, sich weitergehend mit dessen Inhalt zu befassen.

2. Vom ‚Witz‘ des Bären – eine kreative Abduktion

Durch kreative Abduktion, d. h. durch die Erfindung von Zusammenhängen unter den Elementen und Sachverhalten im Bild, werden Konjekturen (gegründete Vermutungen) über die mögliche Bedeutung des Bildes geschaffen.“ [6; Hervor. i. O.] Eine dieser ‚Vermutungen‘ wäre, dass der Bär im Bild Uttechs eine Schlüsselposition einnimmt, wenn man verstehen möchte, was einem das Kunstwerk zeigen will. Einerseits, weil er in der Mitte des Bildvordergrundes platziert ist und man ihn als Betrachter_in gar nicht übersehen kann; und andererseits, weil es das einzige Tier im Bild ist, das explizit nicht in Bewegung ist. Durch die Komposition wird der Bär zu einem wichtigen Bildmotiv. Vor dem Hintergrund dieses Befundes ließe sich nun fragen, warum ausgerechnet ein Bär – und kein Mensch oder ein anderes Lebewesen? Was hat es mit ihm auf sich? Um eine mögliche Lösung für dieses Rätsel zu unterbreiten, wäre der Vorschlag, den Bären als Symbol und Metapher wortbegrifflich aus Uttechs Sprache – dem Amerikanischen – zu übersetzen und auf diese Weise zugleich zu dechiffrieren. Denn so steht ‚bear‘ als Substantiv im Amerikanischen nicht nur für den Bären als Tier, sondern in Form des Verbs ‚to bear‘ für viele weitere Eigenschaften, die sich auch mit dem gezeigten Säugetier in ein Analogieverhältnis überführen lassen. ‚To bear something‘ kann beispielsweise ins Deutsche übersetzt werden mit „etwas ertragen [o erdulden]“ [7]. Auch der Bär im Bild erträgt es duldsam, dass um ihn herum die Vögel fliegen, während er ruhig sitzen bleibt. Er erträgt, dass die Welt möglicherweise gerade untergeht – oder eben nur die Sonne. Und dies macht er anscheinend nicht aus einer apathischen Schockstarre heraus, sondern vielmehr aufgrund jener Tugend, die mit ‚Geduld‘ überschrieben werden kann. Denn ‚to bear (with somebody)‘ heißt weiterhin: „mit jdm Geduld [o Nachsicht]“ [8] haben. Der Bär hat Langmut mit den Geschehnissen um ihn. Vielleicht, weil er ahnt, dass diese im nächsten Augenblick bereits vorüber sein werden und deswegen des Aufhebens nicht weiter wert sind. Oder, weil er weiß, dass er doch nichts an den Gegebenheiten ändern kann, weil deren Wandel nicht in seiner Macht liegt. An diese Überlegung lässt sich des Weiteren mit dem Gesichtspunkt anschließen, dass ‚to bear (tidings)‘ meint „Neuigkeiten überbringen“ [9]. Das vermeintlich Neue in einer hektischen und chaotischen Welt wäre es, sich nicht verrückt machen zu lassen, sondern stoisch der Dinge zu harren, die da kommen. Egal, wie schrecklich manche Meldungen sind und in welcher Vielzahl die Nachrichten auf einen einströmen mögen. Das sind die ‚News‘ des Bildes: Bleibe gelassen und geduldig, auch wenn die Welt aus den Fugen gerät – schon morgen wird die Sonne wieder auf und anschließend auch wieder untergehen. Insofern könnte der ‚bear‘ als ein ‚bearer‘, d. h. „Überbringer“ [10], verstanden werden, der den Betrachter_innen jene Mitteilung zuträgt, innezuhalten und möglichst mit Gelassenheit auf die Geschehnisse des Lebens zu reagieren.

Selbst wenn man die soeben vorgebrachten Überlegungen nicht teilen sollte oder ihnen gar vehement widersprechen möchte, so wirft das Kunstwerk doch die Frage auf, worauf wir künftig ‚zusteuern‘. Diese Sichtweise wird aber nicht allein durch eine Sprachanalogie evoziert, nach der ‚to bear (down on somebody/something)‘ auch „auf jdm/etw zusteuern“ [11] heißt, sondern auch durch die Komposition des Bildes: Die umgefallenen Baumstämme, die ins Bild hineinragen, zeigen gezielt auf die Mitte, auf die sich der Blick fokussieren soll – hin zum Horizont. Allerdings ist die Frage nach dem Zukünftigen keine, die sich der Bär stellt, denn für ihn ist sie in und mit seiner Haltung vielleicht längst entschieden (komme, was wolle, er bleibt sitzen), sondern die sich ganz konkret an die Betrachter_innen des Bildes richtet. So schaut uns die fliegende Eule über dem Bären direkt an. Wir sind beim Ansehen des Kunstwerks dazu aufgefordert, Antworten zu finden, uns in Bezug zu dem Bären, den Ereignissen im Bild und die Fragen, die dieses aufwirft, zu positionieren. Wollen wir mit der Eule und den anderen Vögeln ‚davonfliegen‘ oder nehmen wir die Gegebenheiten vielmehr zur Kenntnis und halten sie so aus, wie sie sind? Oder anders gefragt: To bear or not to bear? Ertragen – oder nicht? Eine Frage, die sich übrigens immer wieder von neuem stellt, denn: „Wirklich am Leben zu sein bedeutet, sich mitten in der Unordnung zu befinden, über die ständig verhandelt werden muss.“ [12]

3. Bezugs- und Berührungspunkte zur Romantik

Löst man sich nun stärker vom Bild als solchem und erweitert den Interpretationsspielraum um verschiedene Kontexte und Bezugspunkte, so wäre ein wesentlicher wohl jener, der sich mit ‚Romantik‘ bezeichnen ließe. Dies schon deswegen, weil einige Motive im Gemälde an Kunstwerke der romantischen Maler Caspar David Friedrich oder Philipp Otto Runge erinnern. [f] Während es bei Runge v. a. die strahlenden, bunten Farben sein dürften, die u. a. in dessen Kunstwerk Der Morgen (1808) Verwendung finden und die gewisse ästhetische Parallelen zu Uttechs Enassamishhinjijweian erkennbar werden lassen, sind die Bezüge zu Friedrich mit dem Blick in die Ferne verbunden. Allerdings sehen bei Friedrich eben Zwei Männer am Meer (1817) der Bewegung der Sonne am Horizont zu, wohingegen bei Uttech ein einzelnes Tier diesen kontemplativen Part einnimmt. Und noch ein Unterschied zu Friedrichs Werk lässt sich ausmachen: Der Bär hat nichts Heroisches oder Heldenhaftes in seiner Pose, wie etwa Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818), auf dem ein Mann von einem bestiegenen – und damit gleichsam bezwungenen – Felsen in die Ferne schaut. Das heißt, das an sich wilde Säugetier steht nicht über der Natur, sondern ist ihr verletzlicher Teil. Das Tier ist Ausdruck des natürlichen Lebens, das es umgibt und zu dem es selbst gehört. [g] Doch während das Tier in diesem Gleichgewicht leben kann, befindet sich der Mensch als „im Leben zum Leben distanziertes Lebewesen [im] Ungleichgewicht“ [13] und muss sich ständig neu zu seiner (instinktreduzierten) Natur und seiner Umwelt verhalten. Wie ein solcher Umgang mit der Natur aussehen kann, macht beispielsweise der Transzendentalist Henry David Thoreau in seiner Schrift Lob der Wildnis kenntlich, wenn er die Menschen bereits im 19. Jahrhundert dazu auffordert: „Öffnet all eure Poren und badet in den Gezeiten der Natur, in all ihren Flüssen und Meeren, zu allen Jahreszeiten.“ [14] Und an anderer Stelle heißt es bei ihm weiter: „Denn die Natur ist unablässig um unser Wohlergehen bemüht. Sie existiert zu keinem anderen Zweck. Widersetzt euch ihr nicht.“ [15]

Nun könnte man dieses Spiel des Suchens und Findens von romantischen Bezugnahmen im Bild von Uttech endlos fortsetzen, aber man kann sich dabei nicht des Verdachtes erwehren, dass dies etwas Beliebiges hat. Denn zu reflektieren wäre dabei stets: Ist dies denn wirklich ‚romantisch‘? [h] (Oder eher surrealistisch [i] usw.) Die Zentralperspektive [j] beispielsweise, in welcher sowohl Zwei Männer am Meer gezeichnet ist als auch Enassamishhinjijweian, ist ein Bildgestaltungsaspekt, den es bereits vor 1800 schon gegeben hat – und damit auch vor jeglichen romantischen Ideen und Vorstellungen. Diese Art der dezidierten Beobachtung von Beobachter_innen (einem Wanderer, einem Bären, zwei Männern usw.) beginnt schon mit der „Rekonstruktion der Zentralperspektive“, wie Lüdemann [16] schreibt, und zwar im 14. Jahrhundert. Damit dieser Fehlschluss vermieden werden kann, wird für die weitere Bildauslegung dafür optiert, von einem Verständnis von ‚Romantik‘ als Modell auszugehen.

4. Romantik als Modell

Mittlerweile gibt es viele Möglichkeiten und Ansätze, ‚Romantik‘ und/oder das ‚Romantische‘ zu fassen und zu begreifen. Zum Beispiel als ‚romantisches Vorstellungssyndrom‘ [17] oder als ‚idealtypisches Konstrukt‘ [18]. Aber recht neu und nicht zuletzt als Heuristik interessant erscheint dagegen der Versuch, Romantik als Modell zu verstehen, um damit „[…] die inneren Differenzen und Widersprüchlichkeiten des Vielen, was Romantik heißen kann, zu beherrschen.“ [19] Im Kern geht es diesem Ansatz jedoch nicht nur um eine Handhabung von Facettenreichtum, sondern um das Sichtbarmachen des Subtilen und Kippfigurenhaften, das sich stets mit ‚Romantik‘ in Verbindung bringen lässt [20]. Damit verknüpft ist „das Moment der Ironie“ [21], wonach sich die „Einheits- und Ganzheitsperspektive“ [22] grundsätzlich entzieht, sowie generell die Tatsache, dass alles einer Relativierung unterzogen ist. Das Dargestellte bleibt unentschieden – und damit offen. Das wäre ein vorzuschlagendes Modell, das – vermutet man es hinter dem Kunstwerk von Uttech – keinen Vergleich und die Bezugnahme auf andere romantische Werke braucht, sondern lediglich die Überprüfung dessen, ob es jenes Merkmal des permanenten Wechsels im Bild gibt – oder nicht.

Wie sich bereits anhand der ersten Fragen gezeigt hat, lässt es sich nicht auflösen, ob man beim Anschauen des Kunstwerks einen Sonnenuntergang oder -aufgang sieht. Mehr noch: Man weiß nicht einmal, ob es eine Sonne ist oder eine Explosion, die im Gemälde zu sehen ist. [k] Das Bild changiert somit zwischen Auf- und Untergehen, zwischen Sonne und Nicht-Sonne. Ebenso wechselt die Sicht beim Betrachten der Vögel: einheitliche Flucht aus Furcht vor einer Katastrophe oder mutiger kollektiver Aufbruch? Stirbt der Wald oder ist er Ausdruck von Leben? Wird es im Bild gerade Winter oder Frühling? Womit nur einige Fragen benannt seien, die das „Kippfigurenhafte“ [23] belegen. Würde man weiter schauen, so würde man weitere Kippfiguren finden. Kaum etwas im Bild scheint wirklich eindeutig zu sein – sogar manch ein Stein ließe sich als Tier interpretieren, wie es der große Felsbrocken unterhalb des Baumes rechts im Gemälde suggeriert, [l] und selbst der See in der Mitte könnte ebenso gut ein Fluss sein oder eine Schneefläche. Daher gilt zweifelsohne: „Es ist immer ein und dasselbe Bild. Doch im Auge des Betrachters kippt es zwischen den Gegensätzen hin und her.“ [24] Stets entzieht sich den Betrachter_innen, was das Bild einem zeigen möchte, aber genau darin dürfte sein Erkenntniswert stecken: Im Aufzeigen dessen, dass sich das Absolute grundsätzlich zu entziehen weiß. Insofern kann das Bild als ‚romantisch‘ gelten, auch wenn Uttech vielleicht nie mit romantischen Ideen, Texten und Bildern in Berührung gekommen ist. Er muss Friedrich und Runge nicht kennen, dennoch kann sein Werk oder zumindest dieses eine Bild romantisch sein – dies lässt sich jedenfalls aus einer modelltheoretischen Perspektive behaupten.

5. Was der Künstler sagen würde

Da „exakte Aussagen über Bildwerke“ [25] allein „nicht möglich“ [26] sind, ist es zumeist hilfreich, wenn man sich bei deren Interpretation zusätzlich auf Kontextinformationen stützen kann. Zum Teil ist dies schon geschehen, zum Teil soll dies aber an dieser Stelle noch einmal verstärkt werden, indem v. a. die Sichtweisen des Künstlers mit den bisherigen Auslegungen seines Bildes konfrontiert werden. [m] Doch bevor auf Aussagen des Malers eingegangen wird, seien noch einige Informationen zu ihm als Person sowie zu seiner Arbeitsweise gegeben. Tom Uttech ist 1942 in Merrill, Wisconsin (USA) geboren und hat sich bei seinen Arbeiten v. a. von seinen Aufenthalten und Wanderungen im kanadischen Quetico Provinical Park inspirieren lassen [27]. Seine Bilder hat er dabei jedoch meist nicht vor Ort – in ‚der‘ Wildnis – gemalt, sondern in seinem Atelier – „based on his memory and powers of invention“ [28]. Die Titel seiner Bilder muten zunächst etwas merkwürdig an, beziehen sich aber oftmals auf die Sprachen der Indianervölker Nordamerikas, wie etwa der Anishinabe, denen gegenüber Uttech dadurch seinen Respekt zum Ausdruck bringen möchte [29].

Sein Werk zeichnet sich grundsätzlich durch seine Aufmerksamkeit fürs Detail aus [30], wobei Uttech bei seiner Arbeit ‚handelt wie ein Jäger‘ und ‚denkt wie ein Vogelbeobachter‘ [31]. Diesen Eindruck können auch die Betrachter_innen von Enassamishhinjijweian gewinnen, denn im Grunde bietet der gezeigte Bär ein ideales Opfer für Jäger_innen auf der Jagd, da er nach vorne schaut und nicht sehen kann, was hinter seinem Rücken passiert. Hierdurch erfährt der Gedanke, dass der Bär alles um ihn herum erduldet einen weiteren Beleg, denn es ist nicht nur die Gefahr einer möglichen Explosion, die er in Kauf nimmt. Darüber hinaus muss er auch damit rechnen, dass er beim Anblicken der Ferne hinterrücks erlegt werden kann. Einmal mehr zeigt sich, wie fragil die Existenz des Bären im Grunde ist. Was jedoch offenbleibt: Weiß der Bär, der überdies ein häufiges Bildelement in Uttechs Kunstwerken ist [32], um die Bedrohungslage oder weiß er es nicht? Schätzt er als einziger die Realität falsch ein oder ist er der einzige, der richtig liegt? Die Fragilität des Bären steht jedoch nicht nur für diesen selbst oder gar für unsere eigene Endlichkeit. Bei Lippard heißt es dazu: „To ‘nature lover,’ naturalists, and ecological activists, Uttech’s images stand for more than personal encounters and nostalgia for ‘pristine’ wilderness. They stand for what we have to lose and what we have to fight for.“ [33]

Wenn man diese Sichtweise verknüpft mit Uttechs Aussage, dass er oft Bilder von Orten malt, an denen er gerne wäre („where I’d like to be“ [34]), dann ließe sich durchaus konstatieren, dass es dem Künstler sowohl um eine Utopie wie um einen Aufbruch zu dieser geht. Verstärkt wird dieser Gedanke durch den Titel des Bildes (Enassamishhinjijweian), der sich mit ‚Hoffnung‘ übersetzen lässt [35]. Der ‚Kampf‘ für eine andere Welt (oder wenigstens eine andere Sicht auf diese) hat im Gemälde von Uttech längst begonnen: „It’s already happening“ [36]. Versinnbildlicht wird dies am Flug der Vögel, denn sie sind bereits aufgebrochen und unterwegs. Wohin und mit welcher Absicht bleibt allerdings offen. Dieser Aufbruchsidee entgegen steht der Bär, denn er verweilt, er bricht nicht mit auf. [n] Entweder, weil er es nicht kann oder nicht will oder dies sogar als vollkommen unnötig erachtet. Scheinbar, weil er zudem weiß oder zumindest ahnt, dass es ein endgültiges Ankommen nicht geben wird. Denn jedes Erreichen eines Zieles und jedes Antworten auf Fragen, ist stets vorläufig und nie von längerer Dauer. Folgerichtig lässt sich auch die widerspruchsvolle Spannung zwischen dem Bären (verharren, verweilen, innehalten) und den Vögeln (Aufbruch, Bewegung, Unterwegssein) nicht auflösen.

 

Anmerkungen

a) Ein Irrtum, der sich letztlich der künstlerischen „Sehnsucht“ [37] verdanken dürfte, wonach Künstler_innen selbst daran glauben, dass ihre Bilder in jedem Fall „sprechen“ [38] können.

b) Den Hinweis auf Tom Uttech und dessen Werk erhielt der Verfasser von Elvira Trofymenko, wofür ihr recht herzlich gedankt sei.

c) Soweit es der Verfasser recherchieren konnte, existieren bislang – jedenfalls im deutschsprachigen Raum – keine kunsthistorischen und/oder -soziologischen Arbeiten, die sich bereits eingehender mit dem besagten Kunstwerk auseinandergesetzt hätten. Sollte dies wider Erwarten nicht zutreffend sein, so wäre eine Rückmeldung selbstverständlich willkommen – ebenso wie Kritik und Anmerkungen zu den dargelegten Ausführungen.

d) Vgl. zum modelltheoretischen Ansatz im Kontext der Romantik auch Kerschbaumer/Matuschek. [39]

e) Zwar wird im weiteren Verlauf der Bildauslegung auf das Verfahren und die Begrifflichkeiten der kunstgeschichtlichen Hermeneutik im Sinne Bätschmanns zurückgegriffen, aber es handelt sich dabei eher um eine argumentationsanleitende Bezugnahme, als um eine systematische Durchführung jener Methode. Zum methodischen Vorgehen der kunstgeschichtlichen Hermeneutik vgl. u. a. Bätschmann: Anleitung zur Interpretation“ sowie Bätschmann: Kunstgeschichtliche Hermeneutik.

f) Zu weiteren Künstlern und deren Werken, die sich ebenfalls der Romantik zuordnen lassen, vgl. z. B. Romantische Landschaften. Paul Raymond Gregory und der Herr der Ringe. Werke der Romantik aus Museen Mitteldeutschlands, hg. von Matthias Rataicyzk/Christin Müller-Wenzel, Halle (Saale) 2015. Erwähnt werden in der Forschungsliteratur auch Bezüge zu Malern der Hudson River School (einer amerikanischen Variante romantischer Malerei), wie etwa Frederic Edwin Church oder Albert Bierstadt. [40]

g) Wobei noch angemerkt sei, dass die eingenommene Körperhaltung des Bären seiner Natur eher widersprechen dürfte, da sie in ihrer Darstellung recht menschlich daherkommt.

h) Ebenso ließe sich danach fragen, was denn eigentlich ‚Romantik‘ sei? Eine Frage, die sich zwar leichthin stellen lässt, deren Beantwortung aber schwieriger ist. Weshalb in der Forschung von manchem darauf verwiesen wird, dass die Romantik – eben weil sie so viel meinen kann – letztlich ‚nichts‘ bedeutet. [41]

i) So heißt es z. B. bei Amy über Uttechs Werk: „Tom Uttech’s paintings of the North American wilderness offer surreal riffs on the Hudson River School.“ [42]

j) „Das zentralperspektivisch verfaßte Bild ist von einem einzigen Gesichtspunkt aus konstruiert, der mit dem Blickpunkt eines natürlichen Beobachters zusammenfällt – oder besser umgekehrt: des zentralperspektivisch verfaßte Bild simuliert oder fingiert den Blick eines natürlichen Beobachters auf die Dinge der Welt.“ [43]

k) Ebenso denkbar wäre es ferner, in jenem kräftigen Aufscheinen in der Bildmitte etwas Göttliches zu vermuten.

l) Wer Zweifel daran hegen sollte, dass dies vom Maler bewusst so intendiert worden ist, der sei auf eine Aussage von Uttech aufmerksam gemacht, in der er erklärt: „‚I want a rock to be as alive as a bear is.‘“ [44]

m) Bätschmann schlägt sogar vor, die erarbeitete Bilddeutung den Künstler_innen anschließend vorzulegen – vorausgesetzt natürlich, dass diese noch am Leben sind – und sie dann nach ihrer Meinung dazu zu fragen [45]. Mag im ersten Moment auch nichts gegen diese Vorgehensweise sprechen, so unterstellt dies natürlich, dass die Künstler_innen eine solche Konfrontation auch wünschen. Da im Falle von Tom Uttech diese Frage nicht abschließend geklärt werden kann, beziehen sich die weiteren Ausführungen der Einfachheit halber v. a. auf Interviewauszüge, die sich bei Lippard [46] nachlesen lassen.

n) Das ist übrigens auch im Wechselspiel der Vögel mit dem Bären keineswegs entscheidbar, von wem eigentlich die Utopie und von wem die Dystopie ausgeht, denn man kann auch – umgekehrt – das Innehalten des Bären in einer ‚beschleunigten Moderne‘ [47] durchaus als die eigentliche Utopie ansehen, die sich als Haltung dem Entfliehen der Vögel entgegenstellt. Beide Interpretationen sind denkbar und zugleich Ausdruck der erwähnten romantischen Kippfigur.

 

[1] Henry David Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern, aus dem Amerikanischen von Emma Emmerich/Tatjana Fischer, Zürich 2015, S. 140.

[2] Gottfried Gabriel: Erkenntnis, Berlin [u. a.] 2015, S. 101.

[3] Ebd., S. 111.

[4] Oskar Bätschmann: „Anleitung zur Interpretation: Kunstgeschichtliche Hermeneutik“, in: Kunstgeschichte. Eine Einführung, hg. von Hans Belting, Berlin 72008, S. 199–228, hier S. 203.

[5] Andreas Weber: Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie, München 42014, S. 255.

[6] Bätschmann: Anleitung zur Interpretation, S. 217.

[7] Marieluise Schmitz: PONS Wörterbuch. Studienausgabe. Englisch-Deutsch/Deutsch-Englisch, Stuttgart 2006, S. 104.

[8] Ebd., S. 105.

[9] Ebd., S. 104.

[10] Ebd.

[11] Ebd., S. 105.

[12] Andreas Weber: Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Versuch einer Poetik für das Anthropozän, Berlin 2016, S. 121.

[13] Joachim Fischer: „Exzentrische Positionalität im Kosmos – Weltraumfahrt im Blick der modernen Philosophischen Anthropologie“, in: Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, hg. von Joachim Fischer, Weilerswist 2016, S. 355–371, hier S. 362.

[14] Henry David Thoreau: Lob der Wildnis, aus dem Amerikanischen von Esther Kinsky, Berlin 2014, S. 100.

[15] Ebd., S. 101.

[16] Susanne Lüdemann: „Beobachtungsverhältnisse. Zur (Kunst-)Geschichte der Beobachtung zweiter Ordnung“, in: Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analyse der Werke von Luhmann, hg. von Cornela Vismann/Albrecht Korschorke, Berlin 1999, S. 63–76, hier. S. 65.

[17] Vgl. etwa Johannes Weiß: „Wiederverzauberung der Welt?“, in: Ders.: Vernunft und Vernichtung. Zur Philosophie und Soziologie der Moderne, Opladen 1993, S. 96–112.

[18] Vgl. ebd.

[19] Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek: „Romantik als Modell“, in: Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, hg. von Daniel Fulda/Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek, Paderborn 2015, S. 141–155, hier S. 145.

[20] Vgl. ebd.

[21] Ebd., S. 144.

[22] Ebd.

[23] Ebd., S. 145.

[24] Ebd.

[25] Helmuth Plessner: „Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks“, in: Das Problem der Sprache. Achter Deutscher Kongress für Philosophie, hg. von Hans-Georg Gadamer, Heidelberg 1966, S. 555–556, hier S. 555.

[26] Ebd.

[27] Vgl. Michaël J. Amy: „Tom Uttecht at Alexandre“, in: Art in America 92 (2004), H. 10, S. 174-175, hier S. 174.

[28] Ebd., S. 174f.

[29] Vgl. Lucy R. Lippard: „Alexandre Gallery. Bringing to Life: Tom Uttech’s Paintings“, www.alexandregallery.com/s/Uttech_LippardEssay2009.pdf, abgerufen am 01.02.2017.

[30] Vgl. Amy: Tom Uttecht at Alexandre, S. 174.

[31] Vgl. Lippard, Lucy R.: „Magnetic North“, in: Magnetic North. The Landscapes of Tom Uttech, hg. von Andera Margaret, Milwaukee 2004, S. 11–29, hier S. 15.

[32] Vgl. hierzu z. B. Margaret Andera: Magnetic North. The Landscapes of Tom Uttech, Milwaukee 2004.

[33] Lippard: Magnetic North, S. 20.

[34] Ebd., S. 11.

[35] Vgl. Lippard: Alexandre Gallery.

[36] Lippard: Magnetic North, S. 12.

[37] Oskar Bätschmann: Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik, Darmstadt 52001, S. 35.

[38] Ebd.

[39] Vgl. Kerschbaumer/Matuschek: Romantik als Modell.

[40] Vgl. Amy: Tom Uttecht at Alexandre, S. 174; Lippard: Magnetic North, S. 15.

[41] Vgl. Arthur O. Lovejoy: „On the Discrimination of Romanticisms“, in: Publications of the Modern Language Association of Amerika 39 (1934), H. 2, S. 229–253.

[42] Amy: Tom Uttecht at Alexandre, S. 174.

[43] Lüdemann: Beobachtungsverhältnisse, S. 65.

[44] Lippard: Magnetic North, S. 15.

[45] Vgl. Bätschmann: Anleitung zur Interpretation, S. 222.

[46] Vgl. Lippard: Magnetic North.

[47] Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 92012.

 

Der Beitrag ist unter dem folgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.59083