Alexander Knopf, María Verónica Galfione (Hgg.)

Abschied vom Individuum?

Romantische Konzeptionen von Individualität und ihre Kritik

Ferdinand Schöningh 2022

Nach der vielbeachteten Gegenwartsdiagnose des Soziologen Andreas Reckwitz ist die spätmoderne Gesellschaftsformation durch eine „Krise des Allgemeinen“ gekennzeichnet, deren Ursachen bis in die Zeit um 1800 zurückreichen. Dass man es heute allein darauf abgesehen habe, unvergleichlich besonders zu sein, was gemeinsam geteilte Normen, Wertvorstellungen, Anerkennungs- und Kommunikationsformen mehr als brüchig werden lasse, gründet aus Reckwitz‘ Sicht in der (früh-)romantischen „Semantik der ‚Individualität‘“. Diese habe zum ersten Mal in der Geschichte einem jedwedem Allgemeinheitsbezug radikal entsagenden Singularitätskult das Wort geredet und damit eine Lebensform geschaffen, mit deren negativen Spätfolgen wir (erst) heute leben müssten.

Es ist das große Verdienst des vorliegenden Sammelbands, Reckwitz‘ stark verzerrtes Romantik-Bild einer umfassenden Kritik unterzogen zu haben. Für die an den frühromantischen Anfängen in Jena und Berlin Beteiligten galt jedenfalls: Keine Individualität ohne Allgemeinheit – und umgekehrt. Ebendies stellt auch Ulrich Breuer in seinem Eröffnungsaufsatz (1ff.) unter Aufbietung Novalis’, der Gebrüder Schlegel und Friedrich Schleiermachers überzeugend heraus. Eine kritische Auseinandersetzung mit Reckwitz‘ anderslautender These ist so gesehen an der Zeit – zumal sie unter methodischen Prämissen gefasst wird, die eine Verabschiedung des Individuums nahelegen, weil sie das Subjekt zum Produkt soziokultureller Formierungsprozesse degenerieren lassen. Darauf weisen María Verónica Galfione und Alexander Knopf bereits in der Einleitung (VIIff.) hin. Der von ihnen herausgegebene Band widmet sich dementsprechend der Frage, „ob die Romantik nicht vielleicht eine Konzeption von Individualität bereithält, die sich dieser Auffassung entgegenhalten lässt“ (IX). Die durchaus unterschiedlich ausfallenden Antworten darauf werden im Folgenden auch unter Rückgriff auf Quellentexte zu prüfen sein.

Etwas verwundert notieren Galfione und Knopf, dass der vorliegende Band „keineswegs als eine Auseinandersetzung mit Reckwitz‘ Buch gedacht“ gewesen sei und „dennoch in fünf von insgesamt sieben Beiträgen darauf Bezug genommen“ werde (XII, Anm.10). Tatsächlich ist es sogar nur der Aufsatz von Oliver Koch (49ff.), in dem gar nicht auf den Autor von Die Gesellschaft der Singularitäten rekurriert wird.

An Kochs Text lässt sich dennoch gut nachvollziehen, wie abwegig Reckwitz‘ Charakterisierung des romantischen Individualitätsdenkens ist. Denn er beginnt mit einem Blick auf Friedrich Schlegels Woldemar-Rezension, in der Friedrich Heinrich Jacobi durch Schlegel (!) einer individualistischen Instrumentalisierung der Vernunft geziehen wird und rekonstruiert dann Jean Pauls wiederum gegen Schlegel (und pro Jacobi) erhobenen Vorwurf einer „Unterbelichtung der Individualität“ (61). Zwar erscheint mir Kochs daran anschließende These, dass „Individualität“ bei Schlegel „vor allem ein zu Überwindendes“ sei (62), als kaum haltbar. Doch zeigt die dafür ausschlaggebende Einsicht eines unentwirrbaren Verwobenseins von Individuellem und Allgemeinem, denen sich die Subjekte im unerschöpflichen wechselseitigen Austausch ihres je Eigenen gleichermaßen annähern, wie vorsichtig man mit der Rede vom romantischen Singularitätskult sein sollte. Dass „[d]ie Vernunft […] nur eine und in allen dieselbe“ ist, wie es in Schlegels Gespräch über die Poesie heißt, gilt nämlich unbeschadet dessen, dass „jeder seine eigene Poesie in sich“ trägt.

Dennoch hat Reckwitz‘ Pauschalurteil einer durch und durch individualistischen Romantik bislang selten Widerspruch geerntet, was womöglich auch an seinen prominenten Vorläufern liegt. Ein solcher wird in Johannes-Georg Schüleins Beitrag (65ff.) in Gestalt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel präsentiert. Schülein rekonstruiert Hegels am Beispiel typologischer Figuren vorgenommene Kritik „abstrakte[r] Formen von Selbstbestimmung […], die bis in unsere Gegenwart hinein einflussreich geblieben“ seien (67). Der Stoiker, der Skeptiker und der Ironiker sowie der Märtyrer, der Ritter und der Abenteurer stehen dabei jeweils für verschiedene Ausprägungen einer individuellen Freiheit, die aufgrund ihrer aporetischen Verfasstheit notwendig an sich selbst scheitern müsse. Mehr oder weniger direkt bezieht sich Hegel hier auf frühromantische Konzeptionen zurück, wobei die Stimmigkeit dieses Rückbezugs von Schülein leider nicht weiter hinterfragt wird. Vielmehr entnimmt er „Hegels Überlegungen […] ein Plädoyer dafür, dass wir uns mit unserer Freiheit nicht in uns selbst einschließen, sondern sie mitsamt unseren Vorstellungen, Idealen und Selbstbildern in der Welt erproben“ (88). Im Ausgang vom frühromantischen Geselligkeitsideal, wie es z.B. Friedrich Schleiermacher in der vierten seiner Reden Über die Religion darlegt und demzufolge es „etwas höchst widernatürliches ist, wenn der Mensch, was er in sich erzeugt und ausgearbeitet hat, auch in sich verschließen will“, ließe sich freilich ein ähnliches Plädoyer erheben.

Dass es eine allerdings häufig praktizierte Engführung wäre, die romantisch imprägnierte Individualitätskultur der Moderne „auf die Form einer atomisierten, selbstgenügsamen und egozentrischen Individualität“ zu reduzieren (112), ist Arthur Buenos gut dazu passende Einsicht. Sein Beitrag (91ff.) widmet sich Georg Simmels Studien zum modernen Individualisierungsprozess. Dieser setze eine Form von Individualität frei, die auch (!) „auf affektive Vergemeinschaftung, auf die Konstitution eines ‚gemeinsamen Lebens‘ und eine Einbindung in eine fusionale Atmosphäre zielt“ (112). Nur gäbe es unter den (spät-)kapitalistischen Bedingungen der Gegenwart, die allein egozentrische Subjekte brauchen könnten, kaum Gelegenheit, diese sozial orientierte Dimension individuellen Selbstseins eigens zu kultivieren. Aus Christopher Buschs Beitrag (117ff.) aber lässt sich lernen, dass man für deren Kultivierung bereits um 1800 den „Schutzraum des geselligen Kreises“ (133) brauchte.

Unter Bezug v.a. auf Schlegels Gespräch über die Poesie und Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens arbeitet Busch heraus, wie sehr deren anspruchsvolles Konzept einer in wechselseitiger Kommunikation sich bildenden Individualität die Etablierung entsprechender Sozialformen voraussetzte. Dort habe man von kritischer Öffentlichkeit und gesellschaftlichen Zweckbindungen frei agieren können sollen. Auch Schleiermachers Reden mit ihrer nicht nur das Gemütsleben betreffenden Forderung nach einer „eignen Provinz“ für die ebenfalls in geselligem Austausch und jenseits von wissenschaftlichen Wahrheitsdiskursen und moralischem Handlungsdruck ausgelebte Religion ließen sich hier nennen.

Doch ist die Gebundenheit des romantischen Individualitätsideals an den Bestand „von teilöffentlichen ‚Räumen des Miteinanderlebens‘“ (144), was Busch im Alternativmilieu der 1970er und in internetaffiner Gegenwartsliteratur fortgesetzt findet, nicht auch ein ambivalenter Sachverhalt? Kann der Rückzug in abgeschottete Diskursräume und die Immunisierung gegen Kritik von außen nicht auch für den Umgang mit Differenzen bzw. Komplexität untauglich machen? Die interessante Frage, welche Potenziale die, wie Busch gegenüber Reckwitz einschärft, „nicht sozial indifferent[e]“ (121) romantische Individualitätskultur für das herausfordernde Leben außerhalb des geselligen safe space in sich birgt, wird von Busch leider kaum thematisiert.

María Verónica Galfione und Alexander Knopf füllen mit ihren Beiträgen diese Leerstelle wenigstens ein Stück weit. Sie greifen dabei einen schon in der Einleitung entfalteten weiteren Kritikpunkt an Reckwitz auf, der dessen kulturalistischem Verständnis des „Subjekt[s] als […] Produkt spezifischer Subjektkulturen“ (VIII) gilt. Wäre das Subjekt aber nur ein vollends fremdbestimmtes Erzeugnis sozialer Prozesse, die es – wie unter spätmodernen Bedingungen der Fall – nach individueller oder singulärer Einzigartigkeit streben ließen, dann hätte es erstens „keine Wahl“ und zweitens erschiene seine „Individualität“ letztlich „als Konformität“ (VIII). Diesem unhaltbaren Individualitätsverständnis versuchen Galfione und Knopf unter Rückgriff auf romantische Positionen zu widersprechen.

Galfione (153ff.) unterstreicht, dass Reckwitz mit seinem Bestreben, „sich von jeder Art metaphysischer Annahme über das Individuum zu distanzieren, […] auch das Moment der Wahrheit [eliminiert], das sich noch hinter der modernen Idee des Individuums verbirgt“ (171). Dieses Wahrheitsmoment legt sie im Anschluss an Gedanken Schlegels zum modernen Kunstwerk frei, die eine unaufhörlich zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Formhaftigkeit und Formlosigkeit hin- und herschwankende Subjektivität implizierten. Davon ausgehend lasse sich das Individuum als Platzhalter einer nie letztgültig zu integrierenden Transzendenz in der sozialen Immanenz verstehen, sodass ihm in seiner „radikalen Negativität gegenüber dem Sozialen“ und dessen verallgemeinernden Formierungszwängen ein „utopisches Potenzial“ (173f.) zukomme. Das in der unausschöpflichen Unbestimmtheit des Individuums steckende utopische Potenzial macht es aus Galfiones Sicht zu einer unabdingbaren Kritikinstanz, von der aus nämlich „die Frage nach der Gestaltung des Allgemeinen radikal gestellt“ (174) werden könne.

Alexander Knopf (177ff.) argumentiert unter Rekurs auf Novalis, Schlegel und Schleiermacher in eine sehr ähnliche Richtung. In der Irrelevanz des Individuums für Reckwitz‘ Sozialtheorie, das sich dem in der Gesellschaft der Singularitäten vorherrschenden allgemeinen Zwang zur Besonderheit nur durch Randständigkeit entziehen könne, bestehe aus seiner Sicht gerade dessen „soziale Relevanz“ (209).

Dass Knopf im Zuge seiner Rekonstruktion dem Individualitätsbegriff der Reden Schleiermachers eine „Tendenz zur Auflösung ins Allgemeine“ zuschreibt, während die Monologen an der Bildung des Selbst zum „eigne[n] Wesen“ (202) interessiert seien, ist m.E. allerdings eine hinterfragbare These. Denn es geht in der dafür als Beleg herbeizitierten Passage aus den Reden, wo die Vernichtung der Individualität zugunsten eines (ewigen) Lebens „im Einen und Allen“ empfohlen wird, ja immer noch um das Ziel eines Strebens, das mithin durch den Austausch mit anderen Individuen angetrieben wird. Es kommt zu vorläufiger Erfüllung in transitorischen Momenten gelingender Kommunikation zwischen Verschiedenen, die in der Bereicherung durch fremde Perspektiven ‚mehr sind als sie selbst‘ in ihrer empirischen Vereinzelung. Aber seine vollendete Erfüllung – es geht Schleiermacher hier um den Unsterblichkeitsglauben – bleibt gleichsam eine eschatologische Angelegenheit und das damit durch religiöse Fantasie anvisierte Allgemeine bleibt diesseitigen Verhältnissen prinzipiell entzogen. Nicht nur die gesellschaftlichen Manifestationsformen des Allgemeinen relativieren sich von daher, sondern auch das bei Galfione und Knopf in der Peripherie ausharrende Individuum könnte so aus seiner allgemeinheitskritischen Randständigkeit gelockt werden.

„Individuation ist […] ein dynamisches, eng an Formen der Mitteilung gebundenes Geschehen“ (38), heißt es in Breuers Eröffnungsbeitrag. Sie sei, jedenfalls gilt das für die romantische Individualitätskonzeption, in ihrem Gelingen auf die Verbindung einer vertikalen und einer horizontalen Dimension angewiesen, bedürfe also sowohl des Anhalts an einen transzendenten Grund als auch der Möglichkeit, diese unvertretbar-unaussprechliche Gründung in tragfähige Formen gemeinsamen Lebens zu übersetzen. Wie diese Formen aussehen könnten, wenn es nicht diejenigen der wenig romantischen Gesellschaft der Singularitäten sind und sie auch jenseits des geselligen safe space Realität gewinnen sollen, bleibt nach der Lektüre dieses durchweg auf höchstem Niveau argumentierenden Bandes offen. Gleichwohl lohnt sich seine Lektüre, führt sie doch in vielfacher Weise vor Augen, was verlorengeht, wenn man sich dem modisch gewordenen Abschied vom Individuum anschließt – und welchen Gewinn zugleich die Beschäftigung mit romantischen Individualitätskonzeptionen einbringen kann.

Rezension verfasst von Karl Tetzlaff

Abschied vom Individuum?