Agnieszka Haas und Timo Janca (Hgg.)

Annäherungen an das Innere des Menschen

Diagnosen und Therapien des Seelischen in der deutschsprachigen Literatur und Ästhetik

Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego 2022

Statt von „Goethezeit“ oder „Romantik“ von einem Age of Emotion zu sprechen, wie es Margaretmary Daley in ihrer diesjährig erschienen Monographie Great Books by German Women in the Age of Emotion vorschlägt, mag etwas großspurig klingen. Und doch überrascht ein solcher Epochenumbenennungsversuch nicht. Er korrespondiert mit einem zunehmenden Interesse an Emotionen und Affekten in den Kultur- und Literaturwissenschaften, das in der Rede von einem affective oder emotional turn kulminiert. Der Vorteil eines Age of Emotion besteht aus literaturhistorischer Sicht darin, dass es die Kontinuität von aufklärerischer Empfindsamkeit und Romantik hervorhebt. An den Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Innerlichkeitsdiskurses vom 18. bis zum 20. Jahrhundert arbeitet sich der Sammelband Annäherung an das Innere des Menschen. Diagnosen und Therapien des Seelischen (in) der deutschsprachigen Literatur und Ästhetik ab. Der Sammelband führt unterschiedliche Themen, Personen und Kontexte zusammen, vom Gründer der Herrnhuter Brüdergemeinde Graf von Zinzendorf bis hin zu der Emanzipationsgeschichte einer Richarda Huch.

Der Sammelband besticht durch seinen historischen Ansatz, seine Methoden- und Themenvielfalt, gleichzeitig spielt die Innerlichkeit innerhalb der Aufsätze jedoch eine sehr unterschiedliche Rolle: In ihrem Aufsatz über Empfindungsästhetik bei Johann Georg Sulzer und Jean-Jacques Rousseau macht Susanne Düwell deutlich, wie Sulzer im Gegensatz zu Rousseau Innerlichkeit als produktiven Ansatzpunkt einer therapeutischen Funktion von dramatischer Kunst inszeniert. Sulzer billigt im Gegensatz zu Rousseau dem Theater eine pädagogische Funktion zu. Es soll der Regulation des Innenlebens dienen. Auch in Markus Steinmayrs Aufsatz über pietistische Kommunikation wird der Gedanke einer für therapeutische Praktiken empfänglichen Innerlichkeit bespielt, wobei hier der Begriff „Heilung“ theologisch gedeutet wird. Anders als beim spätaufklärerischen Sulzer steht hier nicht die Erziehung, sondern die „Glaubenskarriere“ (S. 28) im Vordergrund. Innerlichkeit rückt dabei in die Rolle religiöser Subjektivität.
Das Thema einer Therapie des Innenlebens wird in den beiden Folgeaufsätzen von Agnieszka K. Haas zu Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser und Giulia Ferro Milone zu Goethes Wahlverwandtschaften auf zwei verschiedene Weisen um die Dimension wissenschaftlicher Psychologie erweitert. Zum einen erörtert Haas in ihrem Beitrag Moritz’ Aufnahme empirisch-psychologischer Erkenntnisse für sein literarisches Wirken, zum anderen bietet Milone eine auf der Psychoanalyse C. G. Jungs basierende Lektüre von Goethes Roman. Haas’ Aufsatz sticht hier hervor, weil er als einziger Beitrag die Dimension von Innerlichkeit und Körperlichkeit beleuchtet. Die Autorin arbeitet heraus, wie in Moritz’ Roman der Körper als Vehikel dient, um etwas über den Zustand der Seele auszusagen. Das Äußere fungiert hier als Medium der Innerlichkeit. Daran schließt sich die therapeutische Möglichkeit an, über Körperdisziplinierung die Seele zu heilen.

Besonders interessant ist, in welches Spannungsgeflecht der Sammelband die romantische Auseinandersetzung mit der Psyche einträgt, und welche Akzente er dabei setzt. Die zunehmende Verwissenschaftlichung der Seele durch die Aufklärung stellt deren Autonomie und Opazität zur Disposition. Claudia Mueller-Greene arbeitet in ihrer Analyse von E.T.A. Hoffmanns Die Automaten heraus, wie die Erkenntnis, dass es sich bei der geliebten Person um eine Art Roboter handelt, den verliebten Protagonisten in eine tiefe Identitätskrise stürzt, wie es auch Nathanaels Schicksal in Hoffmanns Der Sandmann illustriert. Schließlich erregt eine Wissenschaft, die eine Maschine konstruiert, die das menschliche Seelenleben simuliert und beeinflusst, die Furcht, dass das subjektive Innenleben vollständig durchschaubar und objektivierbar ist. (S. 158f.) Wenn die Gefahr besteht, dass eine reduktionistische Anthropologie das Innenleben verobjektiviert, so fragt sich, ob die Romantik nicht Alternativen zu den materialistisch-aufklärerischen Pathologien, Diagnosen und Therapien bereithält. Doch nicht die Seelenverlustängste der schwarzen Romantik, sondern die romantischen Therapieangebote sind es, die den Sammelband beschäftigen. Damit diskutiert der Sammelband einen Aspekt, der in der Forschung bisher wenig beachtet worden ist.   

Michael Berger argumentiert in seiner Lektüre von Ludwig Tiecks Die Reisenden, dass die Novelle des späten Tieck hinterfrage, wer in der Psychiatrie vernünftig oder wahnsinnig sei: die Patient:in oder doch die Behandelnden? Folgt man Bergers Darstellung, entlarvt Tieck die gesellschaftliche Vorstellung von psychischer Normalität als Konstrukt und verkompliziert hierdurch die Frage danach, was es heißt, psychisch gesund zu sein (S. 118). Dieser Dekonstruktion von mental health ungeachtet hält die Novelle an dem „heilende[n] Potential einer genuinen, authentischen Romantik“ (S. 124) fest: Eine transzendente Naturerfahrung steht am Anfang eines Heilungsprozesses, an dessen Ende der Protagonist seinen melancholischen Weltschmerz überwinden kann.

An eine therapeutische Romantik knüpft Tim Porzers Diskussion des langjährigen Briefwechsels von Friedrich Schlegel und Christine von Stransky an. Porzer zeigt, wie die beiden Briefpartner:innen eine intensive Freundschaft textuell erzeugen und sich dabei gegenseitig therapieren. Der katholische Schlegel und Stransky lehnen sich an die pietistische Tradition an: einerseits durch das Medium des Briefes, andererseits durch das Streben nach einer gemeinsamen Heilung in Christus. Die im Medium der Schrift erzeugte Intimität erscheint als ihr Therapieangebot. Beide Aufsätze zusammengelesen legen nahe, dass die therapeutische Romantik ein pietistisches Substrat besitzt. Die romantische Behandlung der Seele bleibt auch noch in der Moderne attraktiv, wie es Gabriela Jelitto-Piechuliks Erörterung von Ricarda Huchs Biographie skizziert. Die Autorin zeigt, dass die Frühromantik nicht nur Huchs Selbstverständnis und Schaffen als Historikerin und Schriftstellerin inspirierte, sondern Huch in der Frühromantik auch literarische Muster fand, um „eigene Schicksalsschläge zu überstehen und von diesen, in eine Art Selbstheilungsprozess, Distanz zu gewinnen“. (S. 148)

Die Stärke des Sammelbandes liegt im Aufweisen der Kontinuitäten zwischen Aufklärung und Romantik. Es fehlen jedoch Beiträge, die sich dezidiert mit der Begriffsgeschichte von „Innerlichkeit“ auseinandersetzen. Aufgrund dessen wirkt die Zusammenstellung der Aufsätze und ihr gegenseitiger Bezug an einigen Stellen nicht ganz überzeugend. Dies lässt sich beispielhaft an zwei Stellen verdeutlichen: In der Verwendung der Rede ‚vom Inneren des Menschen‘ als thematischer Klammer des Sammelbandes vernachlässigen die Autor:innen die mit der platonischen Metapher vom inneren Menschen in Verbindung stehende Begriffsgeschichte. Dieser Begriff stellt ein abendländisches Symbol dar, das noch über Luther bis Kierkegaard vor allem in seiner religiösen Dimension wahrgenommen wurde. Die Autor:innen bedienen sich eines Konzepts, ohne dessen ideengeschichtliche Rahmung zu berücksichtigen. So bleibt unklar, wie etwa der Pietismus mit dem Emotionalitätsdiskurs des 18. Jahrhunderts in Verbindung steht. Mit der mangelnden historischen Begriffsarbeit geht einher, dass Aspekte des Begriffsfelds „Innerlichkeit“ weitgehend undifferenziert verwendet werden: In dem von Agnieszka Haas und Toma Janca verfassten Vorwort wird der innere Mensch gleichermaßen mit Emotionen, Gefühlen, dem Verhältnis von Körper und Seele und der Selbsterkenntnis assoziiert (vgl. S. 7). Dieser Tendenz entsprechend verwenden die Autor:innen Begriffe wie „Gefühl“ und „Emotion“, ohne sie voneinander abzugrenzen. Exemplarisch dafür ist der letzte Beitrag von Sigurd Paul Scheichl, der im Titel eine Untersuchung zu den Gefühlen in Grillparzers Sappho ankündigt, um dann zu fragen, um welche Emotionen es geht. (S. 163).
Trotz der begrifflichen Unschärfen lässt sich festhalten, dass es den Herausgeber:innen gelungen ist, die Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Aufklärung und Romantik im Themenfeld von Innerlichkeit und Therapie aufzuzeigen. Besonders brisant scheint uns die Anschlussfähigkeit des Sammelbandes an den gegenwärtigen medical turn zu sein.

Rezension verfasst von: Matthis Glatzel und Sigmund Jakob-Michael Stephan

Annäherungen an das Innere des Menschen