Anahid Nersessian

The Calamity Form

On Poetry and Social Life

The University of Chicago Press 2020

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden im Vereinigten Königreich im Zuge der Industrialisierung ganze Landstriche entvölkert und die Bewohner in die Textilfabriken der Metropolen versetzt; Waldbestände steuern auf einen historischen Tiefpunkt zu.

In den späten 1960er-Jahren werden die ersten belastbaren wissenschaftlichen Untersuchungen publiziert, welche den Einfluss von Treibhausgasen auf die Umwelt und entsprechend die Verantwortung des kapitalistischen Industriesystems für die Klimakrise belegen. Apokalypsevorstellungen verschieben sich zunehmend vom religiösen oder militärischen in den politischen Raum.

In der Gegenwart der 2020er-Jahre verweisen sämtliche Indizien auf unverzüglichen Handlungsbedarf; die Reaktionen darauf sind wahlweise verbissene politische Verhandlungen, Massendemonstrationen, Schuldzuweisungen oder mutwillige Realtitätsverweigerung. Für viele, die sich mit nicht direkt auf Politik, Aktivismus oder Technologie abzielenden Themen wie beispielsweise der Literatur auseinandersetzen, stellt sich unter diesen Umständen zwangsläufig die Frage: Wozu überhaupt?

Welchen Beitrag kann ein Gemälde, eine Kunstinstallation, ein Gedicht – zumal eines, das von einem seit zweihundert Jahren toten britischen Romantiker verfasst wurde – zum Verhindern eines immer realeren globalen Kataklysmus leisten?

Die Antwort, welche die Literaturwissenschaftlerin Anahid Nersessian in ihrer 2020 veröffentlichten Monografie The Calamity Form. On Poetry and Social Life darauf gibt, lautet: überhaupt keinen. Nach dem politischen Effekt von Kunst – gerade von romantischer Lyrik – im Anthropozän zu fragen, sei von Anfang an der falsche Ansatz.

Nersessian ist Professorin für britische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts an der University of California, Los Angeles, wo der Rauch naher Feuersbrünste in den letzten Jahren regelmäßig den Himmel verdunkelte. Ihr Werk ist deshalb gleichermaßen literaturtheoretische Studie und persönliche Sinnsuche: „This book has two ambitions, one modest and the other more intricate: The first is to describe how four figures—parataxis, obscurity, catachresis, and apostrophe—work in a handful of well-known Romantic poems. The second is to spend some lightly ordered time thinking about the limits of historical materialism for literary study.” (S. 1). Dabei lautet ihre Kernthese, dass der im Feld des ecocriticism verbreitete Ansatz, ästhetischen Objekten Beschreibungen, Destillationen oder sogar für andere Disziplinen verwertbare Erklärungen geologischer Prozesse zuzuschreiben, in mehrfacher Hinsicht verfehlt sei: Erstens überschätze dieser Ansatz die politische Wirkungsmacht von autonomer Kunst grundlegend und laufe dadurch Gefahr, von akut nötigem Engagement in anderen Bereichen abzulenken. Zweitens werde dadurch ein der Lyrik einzigartiges Potential vernachlässigt, das wiederum von anderen Disziplinen nicht ersetzt werden kann: die Möglichkeit, mit dem eigenen Unverständnis, der eigenen Bedeutungslosigkeit zurecht zu kommen.

Der Titel The Calamity Form ist an Karl Marx‘ Konzept der ‚commodity form‘ (‚Formbestimmtheit der Ware‘) angelehnt, welches die Verfremdung von Beziehungen zwischen arbeitenden Subjekten zu Beziehungen zwischen Dingen bezeichnet. Nersessian suggeriert damit, wie auch mit Anlehnungen an ecocriticism, new historicism und Umweltwissenschaften, den größeren interdisziplinären Kontext, in den sie ihre Monografie einbettet. Innerhalb ihrer Analyse konzentriert sie sich freilich nicht auf ökonomische, sondern epistemologische Aspekte, welche sie mit dem Konzept der „nescience” umschreibt. Nescience bezeichnet „the space between fact and hypothesis […] it contemplates the impossibility of knowing how behaving differently in the past would have made a difference in the present, and receives this impossibility affectively, as a barbed uneasiness about what is still to come” (S. 48). In anderen Worten: Romantische Dichtung, welche zeitgleich mit der Industriellen Revolution verfasst wurde, zeichnet sich durch einen Ausdruck von Nichtwissen aus. Sie stellt gemäß Nersessian die künstlerische Auseinandersetzung damit dar, Zeuge historischer Prozesse zu sein, die verstörend und doch real sind, die ein stabiles Weltbild oder eine verlässliche Zukunftsvorstellung komplett verunmöglichen. Inkongruenz, Scheitern, gekappte Temporalität, Träume und Resilienz im Angesicht von (Welt)Schmerz können als Manifestationen dieser Auseinandersetzung gedeutet werden.

Nersessian veranschaulicht diese paradigmatische Unfähigkeit romantischer Lyrik, ihre Welt erfassen oder gar verändern zu können, in vier analytischen Kapiteln, welche sie jeweils einer zentralen Figur widmet: parataxis – das Aneinanderreihen von Begriffen und Sätzen ohne syntaktische Hierarchie oder Kausalbeziehung –, obscurity – das Vorenthalten von Klarheit, Eindeutigkeit oder Resolution –, catachresis – derart befremdliche Wortverbindungen, dass die dabei entstehenden Metaphern eher fehlerhaft als sinnbildend wirken – und apostrophe – das dichterische Sprechen zu einem Objekt oder Konzept, das realistischerweise gar nicht antworten kann. Entsprechend reiht sich ihr Buch in eine Reihe von Publikationen der letzten Jahre u.a. von Caroline Levine, Anna Kornbluh und Elaine Freedgood ein, welche einen new formalism in der politisch engagierten Literaturwissenschaft vertreten. Statt inhaltlicher oder historisch-kontextueller Aspekte stehen primär formelle Aspekte literarischer Texte im Zentrum, aus denen sich epistemische, epistemologische, ordnende oder (ver)störende Tendenzen ableiten lassen. Nersessian interessiert sich demnach weniger dafür, ob sich John Keats oder William Wordsworth während ihres poetischen Schaffens bewusst mit der Industrialisierung, Abholzung, oder Gewässervergiftung in England auseinandersetzten. Vielmehr versucht sie, durch teils sehr abstrakte theoretische Analysen einzelner Textpassagen herauszuarbeiten, inwiefern sich aus den Dynamiken von Stilfiguren, Zeilenumbrüchen, Reimen oder dem Fehlen derselben, epistemische Parallelen zur subjektiven Erfahrung von Umweltveränderungen ergeben.

Ihre Primärtexte sind dabei oft, aber keineswegs ausschließlich romantisch: Während die Gedichte William Cowpers und Friedrich Hölderlins den Schwerpunkt ihres ersten Kapitels bilden, vergleicht sie bestimmte Figuren derselben immer wieder mit Werken des britischen Videokünstlers Derek Jarman. Neben P. B. Shelley, William Wordsworth, John Keats und Johann Wolfgang von Goethe werden auch zeitgenössische Kunstinstallationen, Gemälde von John Constable, Songtexte von Kate Bush und das berüchtigte deutsche Kinderbuch Max und Moriz hinzugezogen. Fachlich ist Nersessian dabei so kompetent wie eklektisch. Sie verwebt augustinische Theologie und moderne Anthropozändebatten, altgriechische Philosophie und historische Studien zu den Lese- und Korrespondenzgewohnheiten der britischen Romantiker, übersetzt selbst aus dem Deutschen, Französischen, Latein und Altgriechisch, ohne dabei den Blick auf semantische Finessen der Ursprungssprachen zu verlieren, schreibt absolut stilsicher und dennoch mit einer erfrischenden Leichtigkeit: „Let me put it bluntly: I don’t like Wordsworth“ (S. 57), beginnt sie beispielsweise ihr zweites Kapitel.

Letzten Endes gehört The Calamity Form jedoch zu der Art von literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, auf die man sich mit einem gewissen Maß guten Willens einlassen muss. Wo die einen kontraintuitive Kreuzverbindungen, Analogien und Gedankenspiele sehen werden, könnten andere Nersessian vorwerfen, Interpretation nur der Interpretation willen zu betreiben. Allerdings bezeichnet auch sie selbst ihr Buch in erster Linie als „thought experiment with a potentially interesting yield“ (S. 9). Immer wieder betont Nersessian, dass weder sie noch die von ihr besprochenen Kunstwerke auf die aufgeworfenen Fragen eine Antwort haben. Wenn man der Auffassung ist, dass wissenschaftliches Arbeiten per Definition das Finden von überprüfbaren Erkenntnissen zur Aufgabe haben sollte, wird man dieses Buch so unzugänglich finden wie Anahid Nersessian William Wordsworth. Lässt man sich allerdings auf ihre These ein, dass Antworten überhaupt nie das Ziel waren, sondern romantische Lyrik immer nur Wege finden wollte, das Unbeantwortete zu ertragen, dann ist The Calamity Form in seinen besten Momenten nicht weniger als eine Apologie für die gesamte Kunst und Literaturwissenschaft. Man sitzt unter rauchgeschwärzten Himmeln und hat wenigstens „Ode to Psyche“, ein wenig Gesellschaft in Versform, während man auf das Unabsehbare wartet.

Rezension verfasst von: Andrin Albrecht

The Calamity Form