Christian Kämpf

Der neue Schauder

Über das Phantastische in der musikalischen Romantik

J. B. Metzler 2021

Mit Der Neue Schauder legt Christian Kämpf eine Studie vor, die das ‚Neu‘ in mehrerer Hinsicht großschreibt: So spielt der Titel auf Jean Pauls Vorrede zu Friedrich Ludwig Ferdinand von Dobenecks Des Deutschen Mittelalters Volksglauben und Heroen-Sagen (1815) an, wo es heißt: „Es ist ein neuer Schauder, aber keine alte Furcht“. Zugleich strebt die Studie eine Neubewertung des Phantastischen in der Musik an, und reagiert damit auf ein historisch gewachsenes Forschungsdesiderat. So wurde das Phantastische – sowohl in der Literatur als auch der Musik – meist im Zusammenhang mit einer Romantik-Kritik verstanden, die dazu führte, es als trivial zu bewerten. Diese Romantik-Kritik hat, wie Kämpf zeigt, ästhetische Vorläufer: Seit dem Aufkommen der Jenaer Frühromantiker gab es stets auch Gegenstimmen, die auf all das „Subjektive, Zügellose, Unnatürliche, Wirklichkeitsfremde und Triviale dieser Richtung insistierten, das ihrer Auffassung nach die Romantik als pathologischen Fall von der Sphäre ,wahrer Kunst‘ ausschließt“. (S. 4–5) So heißt es bereits bei Goethe: „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke.“ Sowohl die Befürworter, als auch die Kritiker der Romantik sahen in dem Phantastischen eine wichtige Triebkraft – einmal als Inspirationsquelle für eine neue Mythologie, einmal als Beweis für die angenommene Trivialität der Bewegung –, und diese dichotome Begriffsverwendung bildet den wesentlichen Ausgangspunkt von Kämpfs Überlegungen.

In der Musik entzündete sich die Romantik-Kritik unter anderem an der 1848 aufkommenden Schumann-Kritik. Im Zuge derer wurde zunächst das Tonmalerische des Phantastischen als unzureichendes Abbild der Wirklichkeit kritisiert, und anschließend die Weltfremdheit des Phantastischen moniert, das dem neuen Kunstanspruch, auf gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren, nicht entspreche. Im Zusammenhang mit Schumanns Tod wurden zudem moralische Vorwürfe gegen das Morbide erhoben, die die Phantastik-Kritik lange Zeit beherrschten. Indem Kämpf diesen Vorläufern mit einer ästhetischen Neubetrachtung, frei von Werturteilen, begegnet, eröffnet er im gleichen Zug Möglichkeiten zur Neubewertung damit verwandter Konzepte, wie z.B. das Unheimliche oder Hässliche. Dies ist auch eines der wesentlichen Verdienste der Arbeit: Sie zeigt die Vielschichtigkeit eines Phänomens auf, das als Bindeglied zwischen verschiedenen ästhetischen Diskursen fungiert. Dies wird bereits in den Theorien Jean Pauls deutlich, die Kämpf als Ausgangspunkt für seine Überlegungen nutzt. Jean Paul machte die Beschäftigung mit dem Phantastischen zur Grundlage seines Romantik-Verständnisses, und diese Grundannahme sucht Kämpf, auf die musikalische Ebene zu übertragen: Kämpf setzt sich zum Ziel, die von Jean Paul konstatierte Verbindung zwischen dem Phantastischen und Romantischen im Musikalischen nachzuweisen, wobei er maßgeblich auf die Studien von Karl Heinz Bohrer (Die Kritik der Romantik, 1989) und Ulrich Tadday (Das schöne Unendliche, 1999) aufbaut.

Zunächst nimmt Christian Kämpf eine Begriffsdefinition aus philosophischer Sicht vor. Hier zeigt sich bereits die sehr umfassende, gründliche und interdisziplinäre Quellenarbeit, die sich durch die gesamte Studie zieht. Zwei systematische Kapitel nähern sich dem Phantastischen schließlich aus zwei verschiedenen Richtungen, die die beiden Enden der vorgestellten Romantikkritik aufgreifen: „Das Phantastische zwischen Naturnachahmung und poetischer Wahrheit“ und „Das Phantastische zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und musikalischem Fortschritt“. In diesen Kapiteln werden dann auch die musikalischen Bezüge hergestellt, was vor allem durch die Auswertung von Rezeptionsdokumenten (v.a. aus den musikalischen Zeitschriften und ästhetischen Schriften), aber auch musikbezogenen Schriften von Schriftstellern wie Ludwig Tieck und Franz Horn geschieht. Von wesentlicher Bedeutung für Kämpf ist dabei auch das Herausarbeiten von „Parteienstreiten“, z.B. Brendel gegen Lobe, „für und Wider den Fortschritt in der Musik“ (S. 202). Diese zeigen die Ambivalenz auf, mit der dem Phantastischen von jeher begegnet wurde und führen zu einer sehr ausgewogenen, multi-perspektivischen Betrachtung des Phänomens. Etwas unklar bleibt bei dieser Vielseitigkeit, worauf Kämpf bei der Auswahl der musikalischen Betrachtung den Fokus legt. Zwar scheint das Hauptaugenmerk auf den Zauberopern von Spohr, Weber und Marschner zu liegen (was sich aus dem Titel nicht erschließt). Diese setzt er in Bezug mit Werken von Beethoven, Mozart, Schubert und Wagner, aber v.a. mit den einschlägigen Diskursen des Romantischen, Schönen und Hässlichen. Der Fokus ist jedoch – rein von dem Raum, den der Autor diesen Beispielen in seinem Buch widmet – nicht eindeutig genug, um das Buch zu einer Gattungsstudie zu machen. Ein umfassender Gattungsüberblick ist jedoch auch nicht gegeben, da dafür die Zauberopern wiederum zu viel Raum einnehmen im Vergleich zu den anderen Gattungen, wie bspw. Lied und Konzertouvertüre. Der Grund für diese augenscheinliche Uneindeutigkeit ist vermutlich in Kämpfs spezifischem methodischen Zugriff zu suchen: Er fokussiert weniger auf gattungsspezifische musikalische Merkmale, als auf disziplinübergreifende ästhetische Diskurse, die anhand einer extrem ausführlichen und überzeugenden Quellenarbeit hergeleitet werden. Diese Quellenarbeit ist eine der Hauptstärken der Studie, und im Zuge derer erschließt sich auch die auf den ersten Blick unausgewogene Auswahl der Fallbeispiele.

Ähnlich verhält es sich mit dem Anteil, den die musikalische Analyse einnimmt: Als letztes Fallbeispiel der Arbeit nimmt sich Kämpf Schumanns Schauspielmusik zu dem dramatischen Gedicht „Manfred“ vor, die schließlich auch musikanalytisch betrachtet wird. Vor dem Hintergrund des Aufbaus der Arbeit erscheint dies wie ein letzter logischer Schritt, der konsequenterweise nach der ausführlichen Beschäftigung mit der Rezeptionsästhetik gegangen werden kann – zumal Kämpf hier einen Aspekt herausarbeitet, der eine neue Facette mit sich bringt, nämlich die Abwesenheit des Phantastischen in der Musik bei gleichzeitigem Vorhandensein in der Handlung. So analysiert Kämpf zunächst den Kuhreigen und setzt den Schwerpunkt auf die harmonische Imitation der Schalmei und des Bergs, wobei er einen „Frageton“ identifiziert (S. 247). Er konstatiert: „Manfred verharrt mit seinem Suizidversuch in haltloser Selbstbezüglichkeit, dem Schumanns Musik des Alpenkuhreigens hartnäckig widerspricht, indem sie nicht darauf eingeht, nicht eingreift und weder Manfreds Entschluss zum Selbstmord noch seine Errettung durch den Gamsjäger spiegelt.“ (S. 248) Hier wird also die klangliche Abwesenheit des Phantastischen thematisiert. Die anschließenden Analysen aus „Manfred“ sind klassische Beispiel dafür, wie Kämpf romantische Diskurse für sein Verständnis des musikalisch-phantastischen nutzt. So liest er Nr. 12 „Manfred’s Monolog“ vor dem Hintergrund von Schubarts Tonartencharakteristika und setzt Manfreds letztliche Läuterung mit dem transzendentalen Ich-Idealismus Fichtes und Schellings in Bezug (S. 248–249). In Nr. 15 „Klostergesang“ identifiziert er die Verwendung von es-Moll als Zeichen der Düsternis und Anspielung auf die Hölle, und konstatiert eine ausbleibende Apotheose. Gerade diese Abschnitte machen den Mehrwert von Kämpfs Studie deutlich und wecken beim Leser die Neugier, mehr darüber zu erfahren, wieviel von den hergeleiteten ästhetischen Diskursen sich wirklich in den Noten findet – zumal sich diese Frage an mehreren Stellen in historischen Zitaten geradezu aufdrängt, z.B. auf S. 150, wenn Fink zu Marschners „Vamypr“ bemerkt, er hätte sich noch mehr vom Spukhaft-Fantastischen in der Musik gewünscht.

Im letzten Kapitel wird das Phantastische, das bisher vor allem anhand frühromantischer Diskurse hergeleitet wurde, auf die „musikalische Moderne nach 1900“ bezogen bzw. mit diesem gleichgesetzt. Kämpf schließt: „Mit der Rückbindung des Phantastischen der musikalischen Romantik an den ,neuen Schauder‘ Jean Pauls ist zugleich deren Modernität gegen die Romantik-Kritik behauptet. Denn der ,Neue Schauder‘, auf den das Phantastische in der Kunst spekuliert, ist das ,Gefühl der Moderne‘.“ So mache die Entzauberung der Welt in der Moderne das Phantastische besonders wichtig, weil es die Erinnerung an ein Aufgehobensein durch eine höhere Macht wachrufe (S. 255). Dieses Fazit zeigt, in welchem Maße Kämpfs Studie nicht nur für benachbarte Disziplinen anschlussfähig ist, sondern auch die Grundlage für eine weiterführende Untersuchung des Phantastischen in der Musik der Gegenwart bilden kann.

Rezension verfasst von: Maria Behrendt

Der neue Schauder