Klara Schubenz

Der Wald in der Literatur des 19. Jahrhunderts

Geschichte einer romantisch-realistischen Ressource

Konstanz University Press 2019

Man muss nicht dem Verdikt von Hans Magnus Enzensberger folgen, alle Bücher, außer den Wörterbüchern, seien zu lang. Aber tatsächlich bergen umfangreiche Bücher eine Gefahr: Man kann sich in ihnen verirren. Die 500 Seiten starke Studie von Klara Schubenz bietet so viele Haupt- und Nebenwege, Pfade und Winkel im Wald, dass sich faszinierend vielgestaltige Beobachtungen, Perspektiven und Entdeckungen erschließen, Wanderer und Leserinnen aber auf die Orientierung achten müssen.

Einführend gibt es Fakten und Hintergründe zur Wald- und Forstgeschichte seit dem Mittelalter. Schubenz schildert die Ausbildung der modernen Forstwirtschaft im 18. Jahrhundert, die sich nach Ansicht der Autorin als Agentin und Resultat der Aufklärung zeigt: In forstwirtschaftlichen Publikationen tendiere die junge Disziplin dazu, den Wald im übertragenen Sinne zu lichten. Ein Vorgang, der seine praktische Umsetzung in einer zunehmenden Geometrisierung, Nutzung und Beherrschung des Waldes findet. Die Ausbildung einer ‚Waldliteratur‘ mit Freude an der Freiheit und Schönheit des Waldes, aber auch der Lust an dessen düsteren und bedrohlichen Seiten hat – so die naheliegende These – moderne Lebensformen zur Voraussetzung.

Das Interesse der Autorin gilt dem rekursiven Zusammenhang von real- und motivgeschichtlichen Entwicklungen: Nicht nur der sich verändernde Wald beeinflusse die Waldbilder der Literatur, sondern auch die Literatur und die in ihr formulierten Erwartungen hätten eine Wirkung auf den Umgang mit dem realen Wald. In einer Fußnote deutet Schubenz die aus den Debatten um die Sozialgeschichte hinlänglich bekannten methodischen Herausforderungen bei der Rekonstruktion eines solchen „Austauschverhältnisses“ (9) an, und im Verlauf der Studie erweist sich die Verbindung von Sozial-, Umwelt- und Motivgeschichte dann tatsächlich als anspruchsvoll: Einzelne hervorragende Textanalysen können einsam zwischen Exkursen zu ökonomischen, philosophischen oder politischen Hintergründen stehen. Deren Fülle und Extension erschließt ein bewundernswert weites Areal, das manchmal aber nur mühsam durch das Zentralmotiv zusammengehalten wird.

Im ersten Teil der Studie geht es um den Wald der literarhistorischen Romantik, in einem zweiten Teil um den Blick der Realisten auf den Baumbestand. Klara Schubenz beginnt mit „Waldmärchen“ und sieht im Ort unkultivierter Ursprünglichkeit den Berührungspunkt romantischer Volks- und Kindheitsidealisierung, die mit Friedrich Schillers triadischem Geschichtsmodell und der Idee des Goldenen Zeitalters ausgezeichnet erklärt werden. Die Paradoxie, im Wald wie in der Kindheit eine Ursprünglichkeit zu suchen, die eine immer schon verlorene ist, kann sich – wie an Ludwig Tiecks Kunstmärchen „Der blonde Eckbert“ vorgeführt – zu höchster narratologischer Raffinesse und ambivalenter Gestaltung der „Waldeinsamkeit“ zwischen Paradies, Bedrohung und Wahn steigern.

Der literarische Wald lässt sich, so die Autorin, zugleich als Ort des Wunderbar-Unheimlichen und als Reflex der Alltagswirklichkeit verstehen. Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ wird daher unter ökonomischen Aspekten analysiert und die Rolle der großen Waldgewerbe (Glasherstellung, Flößerei, Köhlerei) ebenso berücksichtigt wie die aufkommende Spekulation mit Holz. Im Einklang mit forstwirtschaftlichen Studien der Zeit gehe es auch im Märchen um die ökonomische Nutzung des Waldes. Dass die „Waldeinsamkeit“ selbst zur Ware werden kann, illustriert eine gleichnamige späte Novelle Tiecks, in der diese zum idyllischen Topos verkürzt wird. Das Gerinnen zum Klischee, selbstreflexive Hinweise auf die poetische Konstruktion, die Integration verschiedener Wirklichkeitssphären, die Ambivalenz des zugleich idyllischen und abgründigen Waldes – in Klara Schubenz Gegenstand spiegeln sich konstitutive Momente romantischer Literatur, ohne dass ihre Studie den Anspruch hätte, diese systematisch zu erfassen.

Schubenz spricht von einer regelrechten „Waldmode“ der romantischen Ära und stellt in einem Kapitel vor, wie diese eine Allianz mit der Musik eingeht. Sie nennt etwa Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ (1821), Robert Schumanns „Waldszenen“ (1848), Franz Liszts „Waldesrauschen“ (1862). Ins Zentrum stellt sie aber die Analyse klangstarker Poesie, etwa von Eichendorff, um das literarische Waldesrauschen als Ausdruck einer „romantischen Vereinigungsphantasie“ (111) als Suggestion einer Korrespondenz von Ich und Natur zu deuten. In einem der vielen souveränen Rückgriffe auf gegenwärtige Theoriebildung wird dem Soziologen Hartmut Rosa darin zugestimmt, dass ein Horchen auf die ‚Stimme der Natur‘ eine moderne Erfindung sei. Das mit Hörnern und dem „Freischütz“ ausklingende Kapitel demonstriert zugleich die analytische Freude der Autorin an der Musikalität, die ihr Pendant in eigenen originellen Formulierungen und einem erzählerischen Duktus der Arbeit hat.  

Auf einen breiten Hauptweg kehrt die Verfasserin zurück, indem sie den Wald als Symbol der Gemeinschaftsbildung behandelt: zunächst als Widerstands- und Identitätssymbol in der Lyrik der antinapoleonischen Befreiungskriege. Darüber hinaus versteht sie die geographische Verwurzelung als Teil eines größeren historischen Zusammenhangs: Schon bei Tacitus findet Schubenz die Herleitung des Germanischen aus dem Wald und damit ein Anknüpfungspunkt für eine territoriale Begründung der Nation. Über die ausführliche Darstellung der Tacitus-Rezeption will sie zeigen, wie aus der Fremd- eine Selbstbeschreibung wird, die den Gedanken des ursprünglichen Raums mit dem einer organisch gewachsenen Sprache und Kultur verbindet. Ein besonderes Augenmerk gilt den Grimms als Begründern der Germanistik und Statthaltern einer „Volkspoesie“. Daneben wird der Germanenkult der Zeit verhandelt: am Beispiel von Kleists „Hermannsschlacht“ und seiner Ode „Germania an ihre Kinder“. Die Texte gelten der Autorin zu Recht als problematische Manifeste des erstarkenden Nationalbewusstseins, ihre Analyse zeigt aber auch, wie die heterogenen Themen an Eigendynamik gewinnen und sich vom Wald entfernen.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sieht die Autorin den Wald nicht nur als nationales Symbol wirken, sondern Fragen des Waldeigentums, des Heimat- und Naturschutzes ins Zentrum rücken. Mit dem vierten Kapitel beginnt die Auseinandersetzung mit der realistischen Literatur und hier zunächst die mit sogenannten Waldrefugien, die auf das von Friedrich Theodor Vischer und Karl Immermann entwickelte Konzept der „grünen Stellen“ rekurrieren. Hierbei handelt es sich – Hegel variierend – um Orte, an denen inmitten einer prosaisch-modernen Wirklichkeit das Ahnungsvolle, Außergewöhnliche und Poetische durchbricht. Analysen von Wilhelm Raabe, Theodor Storm und Adalbert Stifter zeigen allerdings, dass der Rückzug in die Waldenklaven meist mit einem Scheitern verbunden ist. Schubenz bündelt verschiedene Themenkomplexe: regressiv-erotische Konstellationen von Vätern, die ihre Töchter im Wald verschließen, eskapistische Waldszenerien, Erzählungen, in denen sich vom Wald eine therapeutische Wirkung versprochen wird und auch hier gibt es gekonnte Kontextualisierungen etwa über die zeitgenössische Psychoanalyse.

Unklar bleibt, welche Merkmalsverschiebungen den Realismus dieser Waldtexte ausmachen. Ist es die Orientierung am Bewusstsein eines ‚Normallesers‘? Eine stärkere Rückbindung an außerliterarische Gesellschaftsbereiche? Also eine gesteigerte Referenzialität? Der entsagende Verzicht auf den umschließenden Sinn? Einzelne dieser Momente hatte Schubenz bereits in romantischen Texten herausgearbeitet – so etwa die Instabilität des Waldes als idyllischer Rückzugsraum. Die Autorin verpasst die Chance, aus der Fülle ihrer Ergebnisse grundsätzliche Schlussfolgerungen zum Verhältnis romantischer und realistischer Literatur zu ziehen, ja, es gibt noch nicht einmal Hinweisschilder, die dem Leser mitteilen, welche Begriffe von ‚Romantik‘ und ‚Realismus‘ der Studie eigentlich zugrunde liegen.

Die eingangs versprochene Engführung von Literatur- und Sozialgeschichte wird im Zusammenhang von Fragen des „Waldeigentums“ besonders dringlich. Bevor Schubenz Geschichten von Holzdieben, Wilderern und Förstern analysiert, stellt sie zunächst den Wandel in der den Wald betreffenden Rechtsordnung ausführlich dar. Ging es früher vor allem um das Verhältnis von Eigentum der Grundherren und meist mündlich festgelegtem Gewohnheitsrecht der Bauern zur gemeinschaftlichen Nutzung forstwirtschaftlicher Ressourcen, birgt im 19. Jahrhundert die Privatisierung und Aufteilung der Allmende soziales Konfliktpotential. Annette von Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“ wird als aporetische Darstellung eines juristischen Konflikts gelesen, in dem zwei Rechtssysteme nebeneinanderstehen. Der hochkomplexe, sich keinesfalls auf Holzfragen beschränkende Text steht neben Otto Ludwigs Drama „Der Erbförster“ mit einer simplen Gegenüberstellung von privatwirtschaftlicher Gewinnmaximierung und Gemeinwohlorientierung.  

Im sechsten und letzten Hauptkapitel zielt die Autorin auf eine noch weitergehende Wechselwirkung zwischen literarischer Walddarstellung und außerliterarischen Bereichen. Der Böhmerwald als werkbestimmende Landschaft Stifters wird in Texten wie dem „Hochwald“ so exakt erfasst, dass sich geographisch-ethnographische Texte direkt auf Stifter beziehen. Auch die touristische Erschließung des Böhmischen und des Bayerischen Waldes gehen eng mit der literarischen Thematisierung einher – formuliert die Literatur doch oftmals das, was die Reisenden real zu finden hoffen. Zuletzt wirkt die Literatur auf den Heimat- und Naturschutz: So bindet etwa Peter Roseggers Autobiographie „Waldheimat“ (1877) Gemeinschaftsgefühle an seine Herkunftslandschaft und arbeitet damit Heimatschützern zu, die von der Idee eines Volkes ausgehen, „das zur Bewahrung seiner Identität Zonen der unangetasteten Wildnis inmitten der voranschreitenden Industrialisierung brauche“ (359). Wie in den USA sieht Schubenz den Naturschutz im 19. Jahrhundert auch in Deutschland mit nationalistischem Gedankengut verbunden. Die nun real entstehenden „Schutzinseln“ und „Waldrefugien“ versteht sie als Übersetzung von romantisierenden Texten in die Wirklichkeit (426). Schubenz’ vielschichtige Studie meidet es, sich eines Rahmens zu bedienen. Deshalb hält sie zum thematisch naheliegenden „Ecocriticism“ Distanz. Wichtiger als der Nachweis eines frühen ökologischen Bewusstseins sind ihr die Analyse widersprüchlicher Waldbilder und ihrer ganz unterschiedlichen Wirkung.

„Da es aber nur eine endliche Anzahl von Erzählmustern über den Wald gibt – der Wald als bedrohlich-betörende Wildnis, als Märchenort, als heilsame Quelle, als identitätsstiftendes Nationalsymbol, als Kriegsschauplatz, als schützenswerte Heimatidylle – stoßen Waldtexte Ende des 19. Jahrhunderts in ihrer Innovativität an ihre Grenzen. Der Wald ist auserzählt“ (433). Auch wenn Schubenz die Mustervariation als Triebkraft der Literaturgeschichte hier wohl unterschätzt, schließt man das Buch zufrieden und hat eine im hohen Maße lesenswerte, kenntnisreiche, anregende und kluge (inzwischen mit dem Novalis-Preis ausgezeichnete) Studie gelesen, die ihrem eigenen Anspruch, eine „facettenreiche Geschichte des Waldes im 19. Jahrhundert“ zu bieten, gerecht wird, aus der man allerdings manche Schlussfolgerungen selber ziehen muss und für deren Lektüre es gut ist, wenn man bereits einen eigenen Kompass mitbringt.

Rezension verfasst von: Sandra Kerschbaumer

Der Wald in der Literatur des 19. Jahrhunderts