Patrick Eiden-Offe

Die Poesie der Klasse

Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats

Matthes & Seitz 2017

In der FAZ vom 15. November 2017 erinnert sich der Germanist Albrecht Schöne an den fast schon legendären Germanisten Tag vom 07.–12. Oktober 1968 in West-Berlin. Sein Referat, das den Germanisten Tag eröffnen sollte, galt „Goethes Wolkenlehre“:

„Als ich den mit etwa tausend Zuhörern gefüllten Hörsaal betrat, hatten wohl fünfzig Studenten das Podium besetzt. Eine rote Fahne führten sie mit sich und als Transparent (auf die „Blaue Blume“ der Romantik als Sinnbild eines liebenden Unendlichkeitsverlangens bezogen) die reichlich lieblose Aufforderung: „Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot!“ Das Reizwort „Wolkenlehre“ ließ sich als geradezu programmatische Entfernung vom festen Boden der irdisch materiellen Tatsachen ausgeben und damit gründlich missverstehen“ (Albrecht Schöne: Kampf um 1968, FAZ, 15.11.2017).

Die Metapher der „blauen Blume“ repräsentierte für die rebellierenden Student*innen die Formen antiaufklärerischer Irrationalität der Germanistik – zudem die faschistische Vereinnahmung der Romantik – und dies in Anbetracht der tagesaktuellen nationalen und internationalen Gewalt. Vor diesem Hintergrund galt die romantische Literatur, die sich metaphysische Luftschlösser baut und nur höchst vermittelt soziale Wirklichkeit in den Blick nimmt, als politische Themenverfehlung. Gerade unter Marxist*innen, als solche sich die Studierenden um 1968 oft verstanden und denen Georg Lukácsʼ Schriften zur deutschen Romantik durchaus bekannt waren, hatte und hat die Romantik einen schlechten Ruf; umso spannender, wenn Patrick Eiden-Offe sich mit seiner Studie Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats den Klassenkämpfen des Vormärzproletariats annimmt und Potentiale eines explizit romantischen Antikapitalismus darstellt und abwägt.

Anhand eines breiten Textkorpus, das von Tiecks Der junge Tischlermeister, über Wilhelm Weitlings Zeitschriftenveröffentlichungen im Hülferuf der deutschen Jugend und Georg Weerths Gedichtzyklen sowie seiner Novelle Das Blumenfest der englischen Arbeiter reicht, das aber auch unzählige Zeitschriftprojekte wie bspw. den Gesellschaftsspiegel und Romane wie Ernst Willkomms Weisse Sclaven oder Louise Otto-Peters Schloss und Fabrik umfasst, plausibilisiert Eiden-Offe drei zentrale Thesen. Grundlegend gilt, dass der im Vormärz populären Rede von der ‚Prosa der Verhältnisse‘ (Hegel), die die neue sozioökonomische Realität des entstehenden Kapitalismus aufruft, die ‚Poesie des Herzens‘ (Hegel) opponiere. Sie behaupte noch im Elend die poetische Leidenschaft der Arbeiter und avanciert sodann zu einer Ressource der Klassenbildung und damit auch zur Reserve des politischen Kampfes. In Anbetracht des Verfalls sozialer, ethischer und kulturell-ästhetischer Werte in der bürgerlichen Lebensweise sowie der Herabsetzung der vormals mit Kunst und Kreativität assoziierten Handwerker zu verelenden Anhängseln der Maschinen, bildet die romantische ‚Poesie des Herzens‘ Widerstandspotential, das in den Texten des Vormärz aktualisiert wird.

(1.) Eiden-Offe liest die Texte des Vormärz als mediale Bezugspunkte einer kollektiven Identifizierung, aus der das ‚Proletariat‘ als Prozesskategorie schließlich hervorgehen wird. Die Proletarier*innen „erklären sich und anderen ihre condition proletariénne“, ihre Lebensbedingungen und Erfahrungen, „und erleben die[se] Selbst-Interpretation [...] als Konstitution eines Wir, das alle Unterschiede im Einzelnen übergreift“ (S. 23). In Bezug auf den marxistischen Historiker E. P. Thompson erläutert Eiden-Offe, dass durch diesen Prozess – hier der Rückbezug auf „Bilder[], Erzählungen und Mythen, [...] Sprachweisen, Vorstellungsmuster[] und Bildersprache“ (S. 23) – Klassenbewusstsein ,imaginär‘ entstehe. Durch die Kombination vorgefundener historischer Versatzstücke werde eine eigene Tradition konstruiert; im Falle des Vormärz diejenige der „rebellischen Handwerksgesellen und der gerechtigkeitsliebenden Sozialrebellen“ (S. 24). Eiden-Offe liest sodann, um nur einen Autor kurz anzureißen, die Texte des Vormärz-Revolutionärs Wilhelm Weitling als „Manifestationen und Ausgestaltungen kollektiv geteilter Erfahrung“ (S. 24), die imaginär an eine erfundene Tradition der ‚rebellischen Gesellen‘ anknüpft.

(2.) Das Spezifikum des ,romantischen Antikapitalismus‘ – eine Formel von Georg Lukács aus seinem 1940 veröffentlichten Essay über „Eichendorff“– definiert Eiden-Offe als imaginäre Strategie der Überwindung der kapitalistischen Klassenspaltung, die sich „allerdings durchgängig im Abgleich mit vergangenen Epochen“ artikuliere, in denen es – so die Vorstellung – noch keine Klassenspaltung gegeben habe (S. 27). Die imaginäre Bezugsgröße der Vergangenheit steht in Lukács Essay im Zentrum seiner Kritik: Der romantisch-antikapitalistische Zugriff auf die Vergangenheit zeige die begriffliche Unbeholfenheit dieser romantischen Kritik an der ,Prosa der Verhältnisse‘, weil die unkritische Verherrlichung der Gesellschaftszustände vor der Durchsetzung der Arbeitsteilung in der Konsequenz zu einem reaktionären Wunsch führe, die vergangenen Zustände wieder herzustellen (vgl. S. 28). Für Eiden-Offe geht diese Kritik des romantischen Antikapitalismus jedoch völlig an der Sache vorbei: Unter Verweis auf den französischen (u.a. Jacques Rancière) und englischen (u.a. E.P. Thompson und Eric Hobsbawm) Forschungskontext macht er darauf aufmerksam, dass „[a]uch erfundene Vergangenheiten [...] ein reales Begehren nach Veränderungen“ (S. 30) ausdrücken.

(3.) Eiden-Offe stellt fest, dass das Proletariat im Vormärz einen „offenen, versammelnden, ‚multiversalen‘ Charakter“ (S. 33) zeitigte. Hier seien uns geläufige Grenzen gesellschaftlicher Sphären und Teilsysteme – auch innerhalb der Klasse – noch nicht gezogen; auch schon etablierte Demarkationslinien werden in dieser diskursiven Gemengelage experimentell wieder infrage gestellt (vgl. S. 33). Die Proletarisierung im Vormärz führe so nicht zu einer bruchlosen Identität des Proletariats mit sich selbst und es finde keine Affirmation oder gar Feier einer positiven Identität der Arbeiter*innenklasse statt. Doch „[j]eder Vormärz indes geht irgendwann zu Ende“ (S. 34). Aus dem „buntscheckigen Haufen“ des Vormärz-Proletariats „formiert sich das immer fester gefügte Kollektiv einer national bestimmten, männlich-erwachsenen, weißen Arbeiterklasse“ (S.34). Eiden-Offe beschreibt beispielhaft Marxʼ Heuristik, die die Industriearbeiter*innen als formal freie prämiere, als „Grundpfeiler einer Politik“, die „historischen Fortschritt mit einer gewissen Notwendigkeit als Avantgardeprojekt denken muss“ (S. 221). Den Industriearbeiter*innen allein komme die ‚historische Mission‘ (Marx) zu, den Kapitalismus abzuschaffen und den Übergang zum Sozialismus entschlossen durchzuführen. Eiden-Offe kritisiert diese Uniformierung des Proletariats zum Idealtypus der Industriearbeiter*in, die sich gerade heute als taktisch unklug erweise, wenn, wie schon im Vormärz, durch zunehmende Automation und Digitalisierung Arbeitskraft zunehmend ungenutzt bleibt.

Ob Eiden-Offes Thesen zur Uniformierung und Schließung des Proletariats zuzustimmen ist oder sie abzulehnen sind, hängt von der Bejahung oder Verneinung der Marxschen Akkumulationsthese, ihren objektiven und subjektiven Konsequenzen im Hinblick auf das taktische Erringen der politischen Herrschaft der Arbeiter*innenklasse ab. Objektiv insofern, als es dem von Engels sogenannten Kern der Arbeiterbewegung angesichts der politischen und organisatorischen Aufgaben eben auch möglich sein muss, die gesellschaftliche Produktion am Laufen zu halten und sie gleichzeitig umzugestalten. Subjektiv insofern, als in den Produktionsstätten in den Augen der marxistischen Klassiker das Kriterium der Organisierbarkeit aufgrund objektiver Formierung zur kollektiven Arbeit in der Großindustrie mehr erfüllt ist, als in der gesamten Gruppe der Werktätigen.

Damit hängt der zweite geschichtsphilosophische Einwand eng zusammen, denn geschichtsphilosophisch folgt Eiden-Offe keiner dialektischen Agenda, wie sie den Überlegungen von Marx und Engels zugrunde liegt. Wenn Eiden-Offe den Klassikern der Arbeiterbewegung vorwirft, ihre Schriften seien an der Homogenisierung und Schließung des Proletariats zumindest beteiligt, so übersieht er den entscheidenden Schritt der Negation im dialektischen Entwicklungsschema. Nicht Marx‘ und Engels Schriften uniformieren ein buntes Vormärzproletariat zu Industriearbeiter*innen, sondern ihre Schriften widerspiegeln einen historischen Prozess, dessen Überwindung anhand der tendenziellen Entwicklung der Produktionsverhältnisse anvisiert wird.

Gelingt es Patrick Eiden-Offe demnach die „blaue Blume“ rot zu machen? Eine progressive Politisierung der ‚Wolkenlehre‘ und vor allem der Widerspruch zu der meist in ideologiekritischer Absicht vorgenommenen Universalisierung reaktionärer Elemente der Romantik pars pro toto gelingt ihm allemal.

Rezension verfasst von: Daniel Neumann

Die Poesie der Klasse