Klaus Kanzog

E. T. A. Hoffmann und Heinrich von Kleist

Textbeobachtungen - Spurenelemente

Niederstetten (Günther Emigs Literatur-Betrieb) 2020

Dass E. T. A. Hoffmann den „herrlichen Kleist“ (S. 14) schätzte, ist dank des Briefwechsels mit Julius Eduard Hitzig allgemein bekannt. Inwieweit sich Hoffmann aber literarisch von Kleist beeinflussen ließ, welche Texte Kleists ihm zur Verfügung standen und ob Parallelen in den Werken tatsächlich auf eine „Beeinflussung“ zurückzuführen oder eher ein Ausdruck eines gemeinsamen Interesses an bestimmten Themen und Sujets sind, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Klaus Kanzog bereichert diese Debatte mit seinen Textbeobachtungen – Spurenelementen um einige weitere Facetten.

Das Buch gliedert sich in eine „Erkenntnisinteresse“ genannte, äußerst knappe Einleitung. Es folgen vier Kapitel, die Kanzog „Aspekte“ nennt und die sich in weitere Unterabschnitte aufteilen. Die Benennung der Aspekte ­– „Impulse, Reflexe, Eigenes“, „Reminiszenzen“, „Poetischer Somnambulismus. Hoffmann, Calderón, Shakespeare, Kleist“ und „Zwei Preußen“ – deutet bereits das Anekdotische des Bandes an. Es gibt keinen roten Faden, keine Chronologie der Untersuchung, es werden eben Aspekte der Ähnlichkeiten der Autoren Hoffmann und Kleist behandelt. Daher ist das dem Nachwort und dem Abbildungskorpus folgende Register, das ausführlich die Werke, Personen sowie Begriffe und Orte enthält, auch essenziell, gerade weil Kanzog viele Werke mehrfach bespricht.

Die Textbeobachtungen waren, wie Kanzog selbst im Nachwort feststellt, „anfangs nicht für eine Buchpublikation konzipiert“ (S. 125). Dies merkt man dem vorliegenden Ergebnis stellenweise an. Das „Erkenntnisinteresse“ verdeutlicht, was man als grundlegendes Problem der Publikation bezeichnen könnte – sofern man dies als Problem empfindet: Es wirkt so, als hätte Kanzog viele interessante Gedanken und Ideen zum Verhältnis Hoffmanns zu Kleist gehabt und versucht, diese rückwirkend in einem passenden Rahmen unterzubringen und nicht, als hätte er eine grundlegende Fragestellung entwickelt und von dieser ausgehend gearbeitet. Er spricht dann auch selbstkritisch von einer „Sprunghaftigkeit des Zugriffs“ (S. 125) und gesteht ein, dass die von ihm untersuchten „Spurphänomene“ (ebd.) terminologisch nur schwer greifbar seien.

Eben diese „Spurphänomene“ stellen, nach einem einleitenden Verweis auf die Quellen zum Verhältnis Hoffmanns zu Kleist und auf die bestehende Forschung zu diesem Thema, auch den Ausgangspunkt seiner Überlegungen dar. Generell geht Kanzog, wenn überhaupt, nur äußerst knapp auf die Forschung ein, von der er sich größtenteils abgrenzen möchte: Was beispielsweise Caroline Wagner in ihrer Dissertation Subversives Erzählen als „einflussphilologische Aspekte“ bezeichnet, sind für ihn die titelgebenden „Spurenelemente in einem sehr viel breiteren Spektrum der Gegenwärtigkeit Kleists im Bewusstsein Hoffmanns“ (S. 9). Eine Ausnahme stellen die Arbeiten von Ricarda Schmidt (Exeter) dar, auf die er mehrfach zurückgreift. Schmidts Aufsatz Literarische Rechtsfälle und politische Legitimität: Zur Bedeutung der Diskrepanz zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung bei Heinrich von Kleist und E.T.A. Hoffmann für die Konstituierung von nationaler Identität bietet Kanzog Anregung für seine Forschungen zu diesem Thema und untersucht genau das, was Kanzog als „Spurenelemente“ identifiziert. Sein Interesse richtet sich auf „minimale Textimpulse, auf Reflexe und auf das Neue, auch auf Reminiszenzen und Anklänge“ (S. 9). Insbesondere im Verhältnis der beiden Literaten zu Napoleon und zu Preußen sieht er gemeinsame Tendenzen. Hier zeigt sich die von ihm eingestandene Schwierigkeit einer passenden Terminologie (vgl. S. 125). Inwiefern er sich nun durch die Verwendung von Termini wie „Spurenelemente“ oder „Reminiszenzen und Anklänge“ von anderen Untersuchungen zum Verhältnis von Hoffmann und Kleist abgrenzt, erschließt sich nicht eindeutig. Gewöhnungsbedürftig ist auch, dass Kanzog seinen Ausführungen die E. T. A. Hoffmann-Ausgabe des Winkler-Verlages und nicht die im Deutschen Klassiker Verlag erschienene Ausgabe zugrunde legt. Eine historisch-kritische Ausgabe, die vollständig ist und heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen würde, gibt es leider nicht. Die DKV-Ausgabe von Segebrecht und Steinecke ist diejenige, die einem solchen Anspruch noch am nächsten kommt, da sie immerhin ausführlich auf den Entstehungsprozess der Texte und eventuelle Varianten eingeht. Die Ausgabe im Winkler-Verlag ist, vom letzten Band abgesehen, knapp 20 Jahre älter und bietet keine Vorteile.

Der erste und längste Aspekt „Impulse, Reflexe, Eigenes“ zeigt dann aber den großen Wert der Untersuchung Kanzogs. Es gelingt ihm sowohl hoffmannsche als auch kleistsche Texte – in diesem Kapitel sind das etwa Das Gelübde, Die Irrungen, Das Majorat, Das Bettelweib von Locarno, Das Sanctus und Die heilige Cäcilie – äußerst prägnant zusammenzufassen und detailliert und kenntnisreich aufzuzeigen, wo es Parallelen, Überschneidungen, aber auch grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Autoren gibt. Als Beispiel sei auf Das Majorat und Das Bettelweib von Locarno verwiesen: Beiden Erzählungen gemein ist die Gespensterscheinung als Sujet, die Kanzog schon in seiner Dissertation Der dichterische Begriff des Gespenstes untersuchte, beide „verbindet ein weitreichendes Status- und Besitzdenken“ (S. 37). Während Hoffmann aber eine Auflösung für die Gespenstererscheinung („einen befriedigenden Schluss“, S. 36) bietet, bleibt diese bei Kleist „ein akustisches Phänomen“ (ebd.) und dem Leser überlassen, deren tatsächliche Existenz zu bewerten: „Signifikant für die mentale innere Beziehung Hoffmanns zu Kleist ist nicht das Aufgreifen einzelner Textelemente, sondern das Faszinosum einzelner Werke, aus denen Hoffmann Energien für das eigene gewann“ (S. 61).

Den zweiten Aspekt beginnt Kanzog dementsprechend mit einem Verweis auf Georg Ellinger, einen Herausgeber der Werke Hoffmanns, welcher früh festgestellt habe, dass es weniger auf Einzelanklänge als auf allgemeine Übereinstimmungen ankäme. Solche Reminiszenzen, „Reminiszenz als Faktor einer affektstarken Wahrnehmung einzelner Aspekte und Figuren, auf die Hoffmann ‚ansprang‘“ (S. 63), möchte er herausarbeiten. Texte, die in diesem Rahmen besprochen werden, sind insbesondere Kleists Über das Marionettentheater, Das Käthchen von Heilbronn und Michael Kohlhaas und die Frage, wo sich welche dieser Aspekte in Werken Hoffmans (beispielsweise den Elixieren des Teufels oder Meister Johannes Wacht wiederfinden.

Dem Somnambulismus, der vorher bereits mehrfach zur Sprache kam, widmet Kanzog dann den dritten Aspekt. Basis seiner Erörterungen ist dabei ein Brief Hoffmanns an Hitzig, in welchem dieser Shakespeares Romeo und Julia, Calderóns Die Andacht zum Kreuze und Kleists Käthchen von Heilbronn in eine Reihe stellt. Als Exempel für die Ideen, die Kanzog neu in die Debatte um Kleist und Hoffmann einbringt, kann seine Interpretation der Fenster-Szene in Romeo und Julia angeführt werden. Ausgehend von Hoffmanns Brief sieht Kanzog bereits bei Shakespeare einen poetischen Somnambulismus verwirklicht.

Im vierten und letzten Aspekt „Zwei Preußen“ legt Kanzog den Fokus schließlich auf die biografischen Parallelen der beiden Dichter und ihr – in beiden Fällen nicht unkompliziertes –Verhältnis zu Preußen und zu dem in dieser Epoche allgegenwärtigen Napoleon. Dabei umreißt er vor allem die Teile ihres Lebens, die sie aktiv im Staatsdienst verbracht haben oder sich in Konflikt mit diesem befanden. Kanzog attestiert ihnen ein gemeinsames Rechtsbewusstsein, um abschließend am Beispiel des Zerbrochenen Kruges aufzuzeigen, wie dieses in der Rezeption z. T. vollkommen missverstanden wurde.

Ist die „Sprunghaftigkeit des Zugriffs“ (S. 125) nun ein Problem? Studierende, insbesondere in den unteren Semestern, und interessierte Leser, die mit der Debatte um das Verhältnis von Hoffmann zu Kleist nicht vertraut sind, dürften sich trotz der Kürze der Publikation schwer damit tun, auch wenn die nur lose Verknüpfung der Aspekte eine Annäherung erleichtert und sie von den treffenden inhaltlichen Zusammenfassungen der behandelten Werke sicherlich profitieren würden. Aufgrund der Kürze ist ein Wissen über die Epoche aber an vielen Stellen notwendig. Für alle, die dieses Grundwissen mitbringen, ist der Band im Umkehrschluss ein Muss. Denn gerade weil Kanzog sich nicht gezwungen sieht, eine Fragestellung abzuarbeiten und zu beantworten, sondern gedanklich springen, auch abschweifen kann, ergeben sich interessante Ideen und Gedanken, welche die noch lange nicht abgeschlossene Debatte um das Verhältnis zwischen Hoffmann und Kleist sehr bereichern.

Rezension verfasst von: Christian Quintes

E. T. A. Hoffmann und Heinrich von Kleist