Antje Arnold, Walter Pape und Norbert Wichard (Hgg.)

Einsamkeit und Pilgerschaft

Figurationen und Inszenierungen in der Romantik

De Gruyter 2020

Dass sich der europäische Sprach- und Kulturraum durch ein besonderes Interesse für das ‚richtige‘ Maß einsamer und geselliger Lebensformen sowie für die Relevanz und Interdependenz von Einsamkeit und Geselligkeit hinsichtlich künstlerischer Produktionspraktiken auszeichnet, ist in der Forschung systematisch differenziert und epochenspezifisch aufgearbeitet worden (vgl. u.a. Emanuel Peter (1999), Martina Wagner-Egelhaaf (2000), Mark-Georg Dehrmann (2002), Kathrin Wittler (2013), Mario Bosincu (2017)). Der von Antje Arnold, Walter Pape und Norbert Wichard herausgegebene, vornehmlich literaturwissenschaftlich geprägte Sammelband knüpft nun an die Erkenntnisse zur Einsamkeitsforschung an und komplementiert sie mit der konstruktiven Frage nach dem Verhältnis von Einsamkeit und Wanderschaft und den spezifisch romantischen Ästhetisierungen des Einsam-Seins bzw. -Werdens. Ins Zentrum des Interesses rücken dabei die Inszenierungsformen des für die Literaturen und Künste der Romantik einschlägigen Figurenarsenals von Pilgern, Einsiedlern, Eigenbrötlern und Fremdartigen.

In vier thematisch und figurentheoretisch gruppierten Sektionen (I. „Der Pilger auf Wanderschaft: Einsamkeit, innere Suche und Schau-Lust“; II. „Einsiedler und Einzelgänger: Inszenierung und Weltunsicherheit“; III. „Geteilte Einsamkeit: Sprache, Schreiben, Dasein“; IV. „Wegweiser der Moderne: Der Einsiedler im Stadtgetümmel“), deren Beiträge in ihrer inhaltlichen Ausführung und analytischen Tiefe deutlich unterschiedlich ausgearbeitet sind, lotet der Band das intrikate und z. T. paradoxale Beziehungsgeflecht zwischen Darstellungen einsiedlerischer Isolation und dialogischer Kommunikation, zwischen Weltentzug und Weltbetrachtung, Geselligkeitsabsage und Gemeinschaftssuche, Landflucht und Stadtklause, zwischen geselliger Einsamkeit und einsamer Geselligkeit aus. Dass dabei ein besonderer Fokus auf die Romantik im deutschsprachigen Raum sowie auf die Texte und Herausgebertätigkeiten Achim von Arnims (und in gewisser Hinsicht auch Bettina von Arnims) gelegt wird, begründet sich nicht nur daraus, dass der Band die Beiträge des 12. Kolloquiums der Internationalen Arnim-Gesellschaft versammelt. Angedeutet ist damit vielmehr auch eine für die (deutsche) Romantik spezifische Auseinandersetzung mit Pilgerschaft und Einsamkeit als Kulturtechniken, die die Herausgeber:innen problemgeschichtlich als „literarische Antworten der Krisenjahre um 1800“ (S. X) deuten. Im Anschluss an den Forschungskonsens, dass romantische Einsamkeit stets performativ inszeniert wird (vgl. in diesem Sinne Susanne Schmid: Einsamkeit und Geselligkeit um 1800, Heidelberg 2007, S. 7–16), erkunden die Beiträge des Bandes das produktive Potential der Figurationen von Einsamkeit im Horizont des spezifisch romantischen Umschlagverhältnisses, das zwischen holistischen Sehnsuchtsvisionen und deren Infragestellung und Dekonstruktion im Bewusstsein maximaler Kontingenz und Partikularisierung an der Schwelle zur Moderne oszilliert. Die vornehmlich aus dem christlichen Mittelalter tradierte Figur des Pilgers, in der sich Vorstellungen von Weltentsagung, Askese, gesteigerter Reflexion und Weisheit verdichten, wird in der Romantik angesichts erkenntnistheoretischer und säkularisationsbedingter Umbruchskonstellationen der Sattelzeit „‚sentimentalisch‘“ (Vorwort, S. X) rezipiert, kreativ transformiert und/oder ironisch rekonfiguriert. Wie die Beiträge des Bandes im Einzelnen allerdings zeigen, geht die exzentrische Einsiedelei mitnichten in der typisch (früh-)romantischen ‚unendlichen Annäherung‘ an eine Zeit auf, in der Pilger noch wussten, wohin sie wandern und an welche göttliche Instanz sie sich wenden mussten. Vielmehr veranschaulichen insbesondere die kunstgeschichtlich, genderperspektivisch und komparatistisch ausgerichteten Aufsätze des Bandes, wie vielgestaltig, vielstimmig und ästhetiktheoretisch produktiv sich die romantische Inszenierung einsamer Eremit:innen und Wander:innen entfaltet.

Diese Vielfalt konstatiert bereits der erste Beitrag des Bandes, wenngleich Lothar Ehrlich hier die „heterogene Pluralität divergierender Einsiedler-Gestalten und -Räume“ (S. 9) allein mit Blick auf Achim von Arnims literarisches Œuvre und das – für den Sammelband paradigmatische und darin wiederholt aufgegriffene – Herausgeberprojekt der Zeitung für Einsiedler (1808) Arnims bezieht. Ehrlichs Skizze der Arnim’schen Bestrebungen, in der er politisch-religiöse Anliegen mit lebenspraktischen Maßgaben enggeführt sieht, ergänzt Christof Wingertszahn in seinem Aufsatz mit kaleidoskopartigen Perspektiven auf die „Vielschichtigkeit von Arnims Einsiedler-Entwürfen“ (S. 59)“, die Wingertszahn als Arnims stets ambivalente, stets allegorische und stets metaperspektivische Annäherungen an Vereinzelungskonstellationen zwischen Wirklichkeit und Wunder, Profanität und Aura, Vitalismus und Religiosität vor Augen führt.

Nichts weniger als großartig ist der Fund Roswitha Burwicks, die mit Sigismunde Uhtkes genresynkretistischer und hochgradig komplex erzählter Schrift Weiblicher Eremitenblick auf das Theater aus dem Jahr 1797 nach einer geschlechter- und sozialgeschichtlich relevanten Verortung der Eremitin-Inszenierung fragt. Wenngleich viele Fragen an Uthkes Text offenbleiben, vermag Burwick die gesellschaftlichen, pädagogischen und genderspezifischen Kontexte (Stellung und Aufgaben der Bürgerin, Ehe, weibliche Tugenden, Trauerbewältigung u.v.m.) zu erhellen, an denen sich Uthkes Weiblicher Eremitenblick abarbeitet. Gleichzeitig demonstriert Burwick, dass Uthke mit ihrer Erzählung, in der die Eremitin den Dialog mit ihren Leser:innen sucht und Weltbetrachtungen anstellt, „ein Genre schafft, das den Kanon weiblichen Schreibens am Ende des 18. Jahrhunderts zweifellos erweitert“ (S. 18). Fragen zur Konstruktion und spezifischen Signatur des Geschlechts umkreist auch Brigitte Prutti in ihrem Vergleich zwischen zwei (wenngleich bereits zum Biedermeier und Realismus zählenden) Texten Adalbert Stifters und Franz Grillparzer. Ihre Überlegungen zur „post-romantischen männlichen Alterseinsamkeit“ (S. 236) und damit verknüpften ‚Verkümmerungspoetiken‘ ergänzt Prutti mit überzeugenden Thesen zur Genese und spezifisch urbanen Signatur der Einsamkeit.

Neben Achim von Arnim wird Clemens Brentano wiederholt zum Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Analysen des Bandes. Konrad Feilchenfeldt untersucht die Darstellung jüdischer (Außenseiter-)Figuren im Spannungsfeld von Ausgrenzung und Integration in der Textgenese und -überarbeitung von Brentanos Die Schachtel mit der Friedenspuppe, Gockel, Hinkel und Gackeleia sowie dem erst postum veröffentlichten Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution. Jüdische Identitäten, so Feilchenfeldt, werden in den Texten vorgeführt, ohne das Begriffsfeld ‚Jude/jüdisch’ explizit aufzurufen. Stefan Nienhaus setzt sich ausgehend von Brentanos frühromantischem Roman par excellence, Godwi, mit Fragen zum Zusammenspiel von Einsamkeit, romantischer Ironie und neumythologischer Utopie auseinander. Laut Nienhaus setzt der Roman der zu einer Touristenattraktion avancierten Einsiedelei und einer damit verschränkten „Einsamkeit in der Menge“ im Romanverlauf eine alternative „gesellige Einsamkeit“ (S. 89) entgegen, die gleichermaßen ironisch gebrochen und in ihrem Status des ‚(Noch‑)Nicht-Vorhandenen‘ ausgestellt wird.

Dass der Ort und die Funktion des Einsiedlers mit besonderen Ein-Sichten, Erkenntnispotentialen und Wahrnehmungspraktiken verknüpft sind, reflektieren die Beiträge Norman Kaspars zu Ludwig Tieck, Roger Paulins zu A.W. Schlegel und Hans-Georg Potts zu Joseph von Eichendorff. Sheila Dickson erläutert in ihrem wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteten Beitrag, was dem Gelehrten A. W. Schlegel hätte widerfahren können, wenn er die Einsamkeit nicht als Ausgleich zu seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen gesucht, sondern sich einem zwanghaften Alleinsein-Müssen hingegeben und in die Selbstisolation geflüchtet hätte. Anhand ausgewählter Fallgeschichten aus dem von Karl Philipp Moritz herausgegebenen Magazin für Erfahrungsseelenkunde beleuchtet Dickson in ihrem diskurs- und medizingeschichtlich aufschlussreichen Beitrag die Pathologisierung der einsiedlerischen Lebensweise, die mal als Schwärmerei, mal als fixe Idee diskutiert wurde und die Grenzlinien zwischen einer ‚gesunden geselligen‘ und einer ‚kranken eremitischen‘ Alltagspraxis weiter vertiefte.

Der einzige literaturwissenschaftlich-vergleichende Beitrag des Bandes verdeutlicht den Gewinn, den die komparatistische Betrachtung für kultur- und sprachraumübergreifende Phänomene wie die (symbolische) Figur des Einsiedlers und die damit verknüpften poetologischen und symbolischen Dimensionen besitzt. An seine vergleichenden Untersuchungen zu Achim von Arnim, William Wordsworth und Samuel T. Coleridge anschließend reflektiert Jan Oliver Jost-Fritz das ko-konstitutive Verhältnis von Einsamkeit und romantischer Literatur. Mit der Rede von Einsamkeit verhandelt die Romantik existentielle Grundsatzfragen, vor allem aber auch ihre eigene Medialität sowie die Prämissen und die Transformationen moderner Kommunikation. Josts Feststellung, dass „der Einsame selbst mehr mediale Imaginations- als anthropologische Identifikationsfigur [ist]“ (S. 161), lässt sich mit den Erkenntnissen verschränken, die Johannes Grave in seinen Bildanalysen vorlegt. In Auseinandersetzung mit der in Caspar David Friedrichs Gemälden wiederkehrenden einsamen Rückenfigur macht er auf die im Bild unzugängliche Erfahrung und Empfindung von Einsamkeit aufmerksam und diskutiert die Rückenfigur als „Reflexion des Sehens“ (S. 193): Betrachtende vor dem Bild sehen in der Rückenfigur nicht die Darstellung von Einsamkeit, sondern werden in Betrachtung der Figur vielmehr zur Reflexion ihrer eigenen (einsamen) Schau-Position sowie zu einem Nachempfinden von Einsamkeit angeregt.

Insgesamt bündelt der Sammelband vielfältige motivgeschichtliche Perspektiven auf und kenntnisreiche Annäherungen an die Formen der ästhetischen Inszenierung von Einsamkeit, wenngleich die Pilgerschaft nicht nur im Titel des Bandes recht eindeutig hintenansteht. Einendes Moment der Beiträge ist – bei aller Heterogenität der eremitischen Figurationen – die durch die Einsamkeitsfigur ermöglichte Sonder(ling)-Betrachtung, die An-Sichten gesellschaftlicher, künstlerischer und medialer Prozesse aus exklusiven Blickwinkeln erlaubt und sich an einem für die Romantik so zentralen Spannungsverhältnis von Individuum und Kollektiv, von Isolation und Geselligkeit, von Utopie und Ironie abarbeitet. Dass einzelne Beiträge den Veranstaltungscharakter des Kolloquiums und die Form des Vortragsmanuskripts nicht verlassen haben, tut den spannenden Perspektiven, die sich aus der Lektüre des Bandes ergeben, keinen Abbruch. Gleichwohl wären deutlichere Akzentuierungen von Ausgangsfrage und Erkenntnisinteresse des Bandes durch die Herausgeber:innen hilfreich gewesen. Auch eine begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung mit ‚Einsamkeit‘ sowie der konzeptuellen und motivischen Abgrenzung zum ‚Alleinsein‘ wäre nützlich, um das Panorama einsiedlerischer Figuren in vornehmlich literarischen Werken deutlicher differenzieren und systematisieren zu können. Die Publikation empfiehlt sich dennoch uneingeschränkt denjenigen Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaftler:innen, die sich für die Transformationen des Einsamkeitsmotivs in der (deutschen) Romantik interessieren und es bleibt zu hoffen, dass sie zu weiteren Beschäftigungen mit Thema Einsamkeit und Pilger-/Wanderschaft mit deutlich komparatistischen, wissensgeschichtlichen und kunstgeschichtlichen Ausrichtungen auch jenseits des romantischen Kanons (Arnim, Brentano, Tieck, C. D. Friedrich) anregt.

Rezension verfasst von: Frederike Middlehoff

Einsamkeit und Pilgerschaft