Andrea Wulf

Fabelhafte Rebellen

Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich

C. Bertelsmann 2022

Fabelhafte Rebellen: ein wunderschöner Titel, der sogar noch treffender ist als der englische Originaltitel „Magnificent Rebels“. In „fabelhaft“ schwingt das Fabulieren, das Phantastische mit, das auch ursprünglich mit dem Begriff „romantisch“ mitklang, als „romanhaft“. Andrea Wulf erzählt fabelhaft gut von den Interaktionen, den Begegnungen und Biographien des Jenaer Frühromantiker-Kreises, durchaus mit erhöhter Aufmerksamkeit für die Rolle der Romantikerinnen, insbesondere für Caroline Schlegel-Schelling. Neben ihr treten auf: die beiden Schlegel-Brüder, Dorothea Veit, die Brüder Humboldt, Caroline Humboldt, Goethe, Schiller, Charlotte Schiller, Fichte, Hegel, Schelling, Schleiermacher, Tieck, Novalis, um nur die wichtigsten zu nennen. Zum Lesevergnügen trägt auch die opulente Ausstattung des 500-Seiten Bandes, mit Lese-Bändchen, Kartenwerk, Bild-Teil und wirklich elegantem Layout bei.  

Beim Erzählen merkt man die äußerst gründlichen kulturgeschichtlichen Recherchen, die aufwändig genaue Lektüre von Briefen, Aufzeichnungen und Quellentexten. Diesen entnimmt die Verfasserin eine Fülle von Details, die sie erzählerisch so kunstvoll verwendet, dass nicht eine Ansammlung an unübersichtlichen Kleinigkeiten entsteht, sondern im Gegenteil eine unangestrengt wirkende fesselnde Darstellung. Gelungen sind auch die zeitlichen Überschneidungen, mit denen Wulf gerne so arbeitet, dass von diesen Zeitpunkten ausgehend dann die bisherige Biographie der Protagonisten geschildert wird. Beispielsweise erzählt Wulf vom 8. Juli 1796, dass an diesem Tag Novalis seine Braut Sophie vor ihrer ersten Operation besucht, während Caroline und August Wilhelm Schlegel in Jena eintreffen. Daran knüpft sich ein Rückblick auf das bisherige Leben und Lieben von Novalis. Dazu erfährt man an dieser Stelle gleich einiges zu Operationstechniken und den damaligen chirurgischen Geräten, zu Novalis Art und Weise, Exzerpte anzufertigen wie auch darüber, woher Caroline Schlegel Schnittmuster für ihre selbstgenähten exquisiten Kleider bezog. Diese Fülle an Detailwissen integriert Andrea Wulf so elegant in den Erzählfluss, dass sich leicht aus diesem Buch ein Drehbuch entwickeln ließe, auch weil die Personen in Aussehen, Kleidung und Bewegung wie nebenbei eingeführt werden. Diese behutsamen Jane Austen Anklänge im Stil tasten die Wissenschaftlichkeit nicht an, weil Wulf mit Quellennachweisen in den Fußnoten stets mitteilt, woher sie weiß, dass beispielsweise August Schlegel gerne ein weißes Seidentuch um seinen Hals geknotet hatte.

Die liebevoll-nüchterne Perspektive auf die handelnden Personen macht das Buch zu einem im besten Sinne zeitgemäßen Buch. Äußerst positiv ist hervorzuheben, dass die Personen weder schwärmerisch verklärt werden noch dass je der Duktus des Sockelsturzes oder der Denunziation zu lesen ist. Alle Personen werden respektvoll, einfühlsam, zugleich auch unerschrocken und ohne Scheu dargestellt. Dieses frische Erzählen, als ob diese Biographien noch nie vorher erzählt worden seien, gilt genauso für Goethe und Schiller. Inkonsequenzen zwischen Schreiben und Leben der Protagonisten werden beleuchtet, aber ohne Häme oder Empörung.
Taktvoll nähert Wulf sich auch Privatem und Intimem der Personen; dieses kommt vor, es wird angedeutet, ohne explizit ausgemalt oder er-spekuliert zu werden, beispielsweise eine nächtliche Kutschfahrt von Weimar nach Jena, in welcher Caroline Schlegel und Schelling alleine sind (S. 231). Nie gibt die Verfasserin vor, mehr zu wissen als die Protagonisten selbst. Sie interessiert sich für Motive, auch für komplexe Motivlagen, fokussiert sich aber auf das belegbare Schreiben, Handeln und Interagieren der Personen. Auch gelingt ihr eine nicht-wertende Empathie mit allen dargestellten Personen, auch dann, wenn Konflikte, Streit oder Verwerfungen thematisiert werden, von denen nicht wenige zu beklagen sind. Dass bei dieser Allparteilichkeit aber Caroline von Schlegel-Schelling die am meisten bewunderte und respektierte Person im dargestellten Ensemble ist, versucht die Verfasserin nicht zu verschleiern.

Bei dieser Fülle an darzustellenden Sachverhalten und Details fallen die wenigen Ungenauigkeiten historischer Art nicht ins Gewicht: Über das Tübinger Stift (und Schelling) schreibt Wulf: „Die jungen Studenten schliefen in kalten Räumen, und ihr strikt geregelter Tagesablauf wurde von Mönchen überwacht.“ (S. 219) Dass im evangelischen Stift, welches der Ausbildung künftiger evangelischer Pfarrer in Württemberg diente und dient, gewiss keine Mönche (die Bezeichnung für katholische Männer, die das Klosterleben gewählt haben) die Aufsicht führten, zeigt eine gewisse Unbefangenheit oder Unkenntnis konfessioneller Unterschiede, welche zur damaligen Zeit freilich noch eine große Rolle spielten.

Gegliedert ist das Buch in 20 Kapitel, die jeweils mit kalendarischen Angaben die Orientierung erleichtern, wie beispielsweise „Frühjahr 1797“ oder „Oktober 1806“. Diese Einzelkapitel verbindet die Verfasserin zu vier Hauptteilen. Auf den ersten Teil „Ankunft“, folgen die „Experimente“. Dann als drittes „Verbindungen“ und entsprechend zuletzt „Zersplitterung“. Die „Ankunft“ setzt ein mit Sommer 1794 und der freundschaftsbegründenden Begegnung zwischen Goethe und Schiller. Der Schluss-Teil „Zersplitterung“ schließt mit der Schlacht bei Jena 1806 und der Veröffentlichung von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ im März 1807. Der Epilog erzählt knapp von den weiteren Lebensschicksalen der Hauptprotagonisten und der Rezeptionsgeschichte.

Reizvoll und wahrhaft gegenwartsrelevant wirkt das philosophisch formulierte Rahmenproblem aus dem Prolog des Buches. „Im Mittelpunkt von Fabelhafte Rebellen steht das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den atemberaubenden Möglichkeiten des freien Willens und den Fallstricken des Egoismus.“ (S. 38) Die Autorin hat jedoch begriffliche Mühe, das von ihr erahnte Problem präzise zu erfassen. Das liegt vor allem daran, dass sie die Begriffe „Individualität“, „Subjektivität“ und „Ich“ nicht unterscheidet; ebenso differenziert sie begrifflich nicht zwischen Selbstbezogenheit als moralischem Phänomen und Selbstbewusstsein als psychologischem sowie als philosophischem  Phänomen. Wenn sie vom „Ich“ schreibt, meint sie meistens „Individualität“. Dieses Stichwort aber fällt kaum, kommt also auch nicht im Sachregister vor. Ähnliche begriffliche Vagheiten betreffen das Umkreisen des Themas „Freiheit“: „Schelling, Hölderlin und Hegel waren im Zeitalter der Französischen Revolution aufgewachsen und hatten derart erdbebenartige politische Umwälzungen erlebt, dass die Aussicht auf einen freien Willen zum ersten Mal wirklich möglich schien.“ (S. 220) An diesem Zitat wird deutlich, dass die Verfasserin nicht zwischen freiem Willen (den man völlig unabhängig von den politischen Umständen entweder hat oder nicht hat, je nach philosophischer bzw. theologischer Denktradition) und der Freiheit der öffentlichen Rede, der Freiheit zu politischer Partizipation oder bürgerlichen Freiheitsrechten unterscheidet.

Das Problem, das die Verfasserin vermutlich im Blick hat, wäre das einer Ethik der Individualität: wie kann die von den Romantiker:innen beanspruchte ethische Aufgabe der Entfaltung der eigenen Individualität sich verbinden mit einer ethischen Allgemeinwohlorientierung, bzw. konkreter formuliert, mit einer ethischen Orientierung am Wohl der Mitmenschen. Eine wesentliche Ambivalenz theoretischer und existentieller Art in der frühromantischen Bewegung thematisiert Andrea Wulf hier mit sicherem Gespür. Vielleicht regt dieses Buch dazu an, das genannte Problem in der Forschung weiter zu bearbeiten.

Eine weitere Schwäche des ansonsten so exzellenten Buches sei erwähnt. Eher kurz kommen literaturgeschichtliche Analysen der zentralen Texte der Frühromantiker:innen. Die Texte werden in ihrer Bedeutung durchaus gewürdigt, in ihren Inhalten referiert und in ihrer Rezeption beleuchtet. Aber die jeweilige literarische Eigenart der Texte, neue Schreibweisen und das Überschreiten von Gattungsgrenzen usw. spielen eine geringe Rolle. Auch die impliziten literarischen Bezugnahmen der Texte untereinander geraten nicht in den Blick. Das gilt beispielsweise für die Darstellung von Friedrich Schleiermachers Werk „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von 1799. Die Zusammenfassung dieses Werkes mit der Aussage „Religion sei in der Natur und in uns“ (S. 290) ist ziemlich irreführend. Bei Schleiermacher ist der Grundvollzug von Religion die Ausrichtung auf das Unendliche, sodass das Subjekt in der Begegnung mit konkretem Einzelnem dieses als Teil und als Ausdruck des Unendlichen empfindet. Schleiermachers religionstheoretischer Neuansatz führt Andrea Wulf auch ausschließlich auf frühromantische Motive zurück; Schleiermachers Auseinandersetzung mit Kant sowie seine Verortung im Pietismus aber werden komplett ausgeblendet. Immerhin erwähnt Wulf im Buch die Verbindung zu Spinoza. Dafür, dass „Über die Religion“ der wichtigste und wirkmächtigste romantische Text in der Theologiegeschichte ist und außerdem Schleiermachers Ansehen in der damaligen Öffentlichkeit begründete, erscheint die knappe Seite, die diesem Text von Schleiermacher gewidmet ist, durchaus disproportioniert. Diese Defizite gehen damit einher, dass die (theologische oder religionsphilosophische, aber auch germanistische) Forschung nicht rezipiert wurde. Auch unterschlägt die Verfasserin, dass Novalis seinen Text „Die Christenheit oder Europa“ als begeisterte und äußerst kreative Reaktion auf Schleiermachers Schrift verfasst hatte, sodass er darin Schleiermacher gar als Herzschlag einer neuen Zeit feiert.

Im Literaturverzeichnis finden sich auch sonst kaum Titel der aktuellen deutschsprachigen Romantik-Forschung. Es dominieren neben der Fülle an Quellen biographisch orientierte Publikationen und englischsprachige Forschung. Da dieses Buch in der Corona-Zeit und damit in Zeiten schwieriger Bibliotheksbedingungen angefertigt wurde, mag dieser Umstand hier angeführt werden, obwohl die Verfasserin im Nachwort angibt, dass sie die meisten Recherchen vor der Corona-Krise abgeschlossen hatte und außerdem bemerkenswerte Unterstützung auch unter Corona-Bedingungen von der London Library erhielt.

Andrea Wulf ist eine deutsch-britische Kulturhistorikerin; sie lebt seit vielen Jahren in Großbritannien. Sie schreibt auf Englisch, u.a. für The Guardian und das Wall Street Journal. Ihre letzten Monographien beschäftigten sich mit Alexander von Humboldt. Diese britische Perspektive beeinflusst auch positiv ihr Romantik-Buch: Besonders interessant für das deutschsprachige Publikum ist der Blick auf die Wirkung der deutschen Frühromantik in Großbritannien und in den USA. Dass Coleridge Deutsch lernte, um Schelling (und andere Frühromantiker) zu lesen, oder Edgar Allan Poe einige Passagen aus August Wilhelm Schlegels „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“ als eigene veröffentlichte, überraschen nur als Nebenaspekte einer komplexen Wirkungsgeschichte, aber machen diese konkret anschaulich.

Wer eine gute und spannende Einführung in die Frühromantik lesen will, dem sei dieses Buch nachdrücklich empfohlen, jedoch bedarf es dazu dann der Ergänzung durch Darstellungen, welche eher die philosophische und theoretische Seite, auch die im engeren Sinne literaturgeschichtliche Perspektive auf Romantik ausloten. Umgekehrt können auch Romantik-Forschende durch Andrea Wulf viele bisher unbeachtete Details und Querverbindungen entdecken.

Wie schön und angemessen, dass mit „Fabelhafte Rebellen“ ein Romantik-Buch es auf das „blaue Sofa“ geschafft hat.

Rezension verfasst von: Miriam Rose

Fabelhafte Rebellen