Daniel Cyranka, Diana Matut und Christian Soboth (Hgg.)

Finden und Erfinden

Die Romantik und ihre Religionen 1790–1820

Königshausen & Neumann 2020

Religion und Religionen erleben in der Zeit der Romantik einen Umbruch in unterschiedlicher Hinsicht: theologisch, philosophisch, als Phänomen und Gegenstand in Kunst und Literatur. Romantische Autor:innen selbst sind dabei treibende Akteure in der Neudefinition von Religion und Religionen. Unter den Stichworten des „Findens“ und „Erfindens“ nähert sich der Sammelband von Daniel Cyranka, Diana Matut und Christian Soboth einer facettenreichen Darstellung von Religion, Religionen und Romantiken aus religionswissenschaftlicher, philologischer und historischer Perspektive. Die Pluralität der Untersuchungsgegenstände wird dabei explizit als Ausgangspunkt benannt: Der Band geht von einem pluralen Verständnis von Romantiken in unterschiedlichen Künsten und Wissenschaften zwischen 1790 und 1820 in einem internationalen, interdisziplinären Zusammenhang aus (vgl. S. 8). Ebenso werden unter Religionen nicht nur institutionell und konfessionell etablierte Religionen wie das Christentum, Islam und Judentum gefasst, sondern auch „arkane[..] und clandestine[..] Religionsbewegungen“ (S. 9) wie die romantische Rezeption von Sufismus, Mesmerismus oder Magnetismus.

„Finden“ und „erfinden“ beschreiben daneben auch die methodische und theoretische Annäherung: Zahlreiche Beiträge finden historische Zusammenhänge zwischen Religion oder religiösen Bewegungen und rekonstruieren diese Beziehung in ihrem historischen Kontext wie etwa das spannungsreiche Verhältnis von Judentum und Katholizismus in dem Beitrag von Naama Raz zu Hauffs „Jud Süß“ oder zum katholischen Selbstverständnis der Münchner Romantik von Franziska Holzfurtner. Andere Beiträge fokussieren auf erfundene, ahistorische konstruierte Zusammenhänge romantischer Religionen wie Hannemann über die Verbindungen von Körper und Transzendenz im Somnambulismus in der Romantik oder Senkel zur Erfindung des Nächtlichen.

Der Sammelband kann als ein Gesamtwerk zu einem pluralen Überblick von Religionen und Romantiken gelesen werden und enthält gleichzeitig zentrale Beiträge zu Themen, die in der Romantikforschung – zumindest in ihrer germanistischen Ausrichtung – häufig vernachlässigt werden. Der internationale und interdisziplinäre Aufschlag holt Themen mit in die Debatte, die oft aufgrund von disziplinären Grenzen innerhalb der (germanistischen) Rezeption übergangen werden, aber für ein grundlegendes Verständnis von Romantik und Religion zentral sind. Dazu gehören die intensive Auseinandersetzung mit Orientalismuskonzepten und Religion in den Beiträgen von Tzoref-Ashkenazi und Gino Bekos oder die Rolle esoterischer Strömungen wie dem Mesmerismus.

Der Aufsatz des israelischen Historikers Chen Tzoref-Ashkenazis vergleicht die historische Konzeption und die Zusammenhänge von Hinduismus und Katholizismus in Texten der deutschen und englischen Romantik. Er behandelt die Darstellung von Hinduismus in den Schriften von F. Schlegel und Coleridge vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Kolonialgeschichten Englands und Deutschlands. Daraus leitet er zunächst, Said und weiteren Forscher:innen folgend, unterschiedliche Orient- und Orientalismuskonzepte für die deutsche und englische Romantik ab. Allerdings sieht er in der Gleichsetzung von Hinduismus und Katholizismus bei Schlegel und Coleridge eine zentrale Gemeinsamkeit, die er für unterschiedliche Texte und Schaffensphasen untersucht. Auch die Kritik der damaligen Zeit an dieser Gleichsetzung ist aufschlussreich für eine international ausgerichtete Romantik und Romantikforschung. Die Untersuchung öffnet den Blick für koloniale Zusammenhänge, die gleichzeitig Kerntexte der deutschen Romantik unter einem neuen Licht zeigen.

Ebenfalls im Themenfeld des romantischen Orientalismus steht der Beitrag zu den zeitgenössischen Schriften über den Sufismus des Orientalisten und Theologen August Tholuck von Gino Bekos. Hier werden auf mehreren Ebenen die Verbindungen zwischen Romantik, Wissenschaft, Orientalistikforschung und Theologie reflektiert. Die Beschäftigung Tholucks mit dem Sufismus als Ausdruck islamischer Mystik bildet dabei den Punkt, in dem die Ebenen zusammentreffen. Wieder erlaubt die romantische Kritik daran – hier durch Schleiermacher – eine neue Interpretation einer internationalen Romantik.

Erfundene religiöse Strömungen wie Mesmerismus oder Magnetismus im Zusammenhang mit christlicher oder jüdischer Religion stellen einen weiteren Schwerpunkt des Sammelbandes dar. Jonatan Meir untersucht am Beispiel des Schriftstellers und jüdischen Aufklärer Isaac Ber Levinson den Zusammenhang von Haskalah, Kabbalah und Mesmerismus in dessen Schriften. Damit macht er zum einen eine weitere Stimme der Peripherie hörbar, zum anderen hilft der Beitrag das komplexe Beziehungsnetz von Aufklärung, Romantik, jüdischer Mystik und Mesmerismus nachzuvollziehen ohne zu vereinfachen.

Auch Marlis Lami macht einen selbsternannten Religionsführer aus der Peripherie, den Polen Andrzej Towiański, zum Protagonisten ihres Beitrags über das romantische Verständnis von Dichtung, Musik und Kunst in seiner Lehre. Towiański ist in der Romantikforschung besonders durch seinen Einfluss auf den polnischen Dichter Adam Mickiewicz bekannt. Lami fokussiert jedoch auf das eigenständige Werk in seinen Schriften in einem europäischen Kontext. Sie vergleicht die Rolle verschiedener Künste und weist den Einfluss verschiedener romantischer Strömungen wie auch des Mesmerismus in Towiańskis Schriften nach. Da dieser wiederum einzelne Autoren in der italienischen Literatur beeinflusste (S. 313), geht der Beitrag weit über die bisherige Analyse von Towiański und seinen Einfluss auf die Romantik hinaus.

Diese angeführten ungewöhnlichen und innovativen Themenkombinationen, die sich aus der interdisziplinären und internationalen Ausrichtung der Aufsätze und Autor:innen ergeben, machen den Band zu einem originellen Beitrag zur Romantikforschung. Besonders die Lektüre zu vernachlässigten Protagonisten einer europäischen und internationalen Romantik wie August Tholuck, Isaac Ber Levinson oder Andrzej Towiański bringen innovative Einsichten und lenken den Blick auf Aspekte wie den Mesmerismus und seine Auswirkung auf das romantische Denken, die nicht häufig im Vordergrund stehen. Der Überblicksband ist besonders lesenswert als Ergänzung zu traditionellen, konfessionell begrenzten Darstellungen von Religion und Romantik, um eine germanistische, literaturwissenschaftliche Perspektive interdisziplinär aufzurütteln. Die romantische Neuerfindung von Religion erfährt durch diesen Sammelband eine wissenschaftliche Neubewertung.

Rezension verfasst von: Jana-Katharina Mende

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