Peter Neumann

Jena 1800

Die Republik der freien Geister

Siedler 2018

Das Buch von Peter Neumann möchte das in Jena verortete Denken um 1800 auf ebenso unterhaltsame wie sachlich fundierte Weise erzählen. Es wird ein Prosa-Panorama aufgespannt, das unter dem Zeichen der Freiheit, wie es im Untertitel heißt, verschiedenste Protagonisten aus Philosophie, Kunst und Literatur in Jena miteinander verknüpft. Anders als andere Bücher über die Geschichte der Romantik oder Jenas, verbindet es die Diskurse Idealismus, Romantik, Klassik und politische Geschichte in einem ganz eigenen Ton. Mit seinem Versuch, die Romantik und Philosophiegeschichte publikumswirksam und zusammenhängend zu erzählen, reiht sich Neumann in eine Tradition von Romantik-Monographien ein. Genannt seien Ricarda Huchs Blütezeit der Romantik (1899) und Ausbreitung und Verfall der Romantik (1902), die Bücher von Theodore Ziolkowski (z. B. Das Wunderjahr in Jena: Geist und Gesellschaft 1794/95, 1998) und Rüdiger Safranskis Romantik. Eine deutsche Affäre (2007).

Der Aufbau des Buches unterstützt sein Anliegen. Zwei besonders eindrückliche Beschreibungen des Straßenbildes eines kriegsgebeutelten Jenas rahmen die übrigen Kapitel. Letztere zeichnen sich durch ihre philosophischen Einschübe und Schilderung übergeordneter Zusammenhänge aus. Die 19 Abbildungen passen mal mehr, mal weniger zum Text. Die neben „Pro-“ und „Epilog“ 19 Kapitel stellen je eine Person in den Mittelpunkt und erzählen ihren Anteil am philosophisch-wissenschaftlichen Stadtgeschehen. Überblicksartig kartiert das erste Kapitel „Im Auge des Sturms: Eine Philosophie erfasst den Kontinent“ (S. 13–23) die Denklandschaft Jenas. Am Ende finden sich kurze biographische Notizen (Lebenswege: Was aus ihnen wurde, S. 221), eine Zeittafel, Anmerkungen, weiterführende Literaturhinweise und ein Register.

Von der Gefangennahme der Caroline Böhmer, spätere Schlegel-Schelling, über das Eintreffen der Romantiker und Idealisten in Jena bis zu ihrem Verlassen der Stadt und dem Einmarsch der napoleonischen Truppen berichtet Neumann. Er verquickt archivalisches Material und Anekdoten aus dem Alltagsleben mit der Wiedergabe philosophischer Ideen. Literarische Texte werden mit Biographien und Erzählungen über gesellige Treffen verbunden und das nicht zu Trennende des Jenaer Geisteslebens so verwoben. Neumann erzählt bilderreich, mit vielen Vor- und Rückgriffen, also nicht chronologisch, sondern in der Eigenlogik der Ereignisse und der menschlichen Beziehungen. Dabei kommen alle einflussreichen Zeitgenossen ins Spiel: Romantiker wie die Brüder Schlegel, Tieck, Novalis, Dorothea Schlegel, Caroline Schelling. Sie begegnen Schelling, Fichte und Hegel, Goethe und Schiller. Der Fluss der Ideen bildet sich im Erzählfluss Neumanns ab. Die Stärken von Jena 1800 liegen im originellen, eigensinnigen, halb narrativem, halb sachlichem Stil. Die philosophischen Zusammenhänge und historischen Begebenheiten sind abwechslungsreich dargestellt. Der leichte Ton lockert den Stoff. Die Sätze sind kurz, bisweilen geraten sie feuilletonistisch: „Platons Akademie, sie steht jetzt an der Saale.“ (S. 18) Die Erzählweise ist lebendig („Schelling greift immer wieder in den Topf mit sauren Gurken.“, S. 13) und kippt immer wieder in die erlebte Rede („Ein Affentheater, findet zumindest Tieck.“, S. 15). Der Ton kann pathetisch („Die Dresdener Kunstschätze kommen da wie gerufen: eine Extraration für die Sinne, Marschverpflegung für den Geist.“, S. 58) und burschikos („Fichte hatte sich verzockt.“, S. 79) werden. Die stilistischen Brüche und Kluften überraschen den Leser: Personifikationen („Genau das tun Weltseelen nämlich“, S. 215) wechseln sich mit Apostrophen ab („[P]fff, sollen sie doch sehen, wo sie bleiben!“, S. 89; „Fenster auf! Als die Rede vorbei ist, geht ein angestrengtes Raunen durch den Raum.“, S. 134; „[…] Keplers Weltgesetz a priori zu entwickeln, wie er es in seiner Habilitation versucht hat – alle Achtung!“, S. 197). Die Wortwahl ist gelegentlich leger, ohne es mit der Lässigkeit zu übertreiben („Jung ist er, gerade mal dreiundzwanzig Jahre, und schon ein Shootingstar der philosophischen Szene Deutschlands.“, S. 57). Wortgetreu zitiert werden nur literarische Sätze. Wörtliche Äußerungen der Personen finden sich nicht. Das ist nicht nur angenehm für den Lesefluss, sondern auch ein kluger Schachzug, denn so wahrt Neumann bei aller Fabulierlust eine notwendige Distanz. Sein Ziel, Ideengeschichte illustrativ zu erzählen, verfolgt Neumann mit einem Wechsel von Überblick und Detail. Die Handlungsstränge verlaufen in kapitelweise konzentrischen Kreisen. Und doch wirkt der Figurenreigen organisch zusammengewachsen, als sei sein Erzählprinzip die romantische Arabeske. Ebenso scheinen Bilder und Anmerkungen im Anhang eher lose mit dem Fließtext verbunden, aber dies untermauert den mäandernden Charakter des Buches noch. In der Philosophie des Idealismus vermag Neumann seinen Leser kleinschrittig zu orientieren. Die philosophischen Aspekte, oft in erlebter Rede verfasst, sind zwar nicht ohne Voraussetzungen zu lesen, aber anschaulich erläutert (S. 177). Sie verbinden sich zu einer gelehrten und ausgreifend Zusammenhänge stiftenden Philosophiegeschichte.

Erwähnt sei noch, dass die Romantikerinnen als ebenbürtige und eigenständige Akteurinnen Raum finden. Eines der ersten Kapitel erzählt die Geschichte der „Madame Böhmer“ (S. 24ff). Eine Anekdote befasst sich mit einer historisch verbürgten Botenfrau, der Jungfer Wenzel (S. 96–98). Schließlich nehmen auch Weimarer wie Herzog Carl August, Schiller und Goethe ihren Platz im Zusammenhang der Jenaer Ereignisse ein. Goethe trinkt mit Tieck heiße Schokolade und lässt sich von ihm Ben Jonson nahebringen – eine der gelungensten und mitreißendsten Episoden des Buches: „Jonson: neben Shakespeare der vielleicht wichtigste Dramatiker seiner Zeit, dieses großen Jahrhunderts der Renaissance. Ein verfluchter Kerl, ein wahrer Teufelskerl, was der nicht alles für Kniffe im Kopf habe, ja, ein Schwerenotskerl.“ (S. 114).

Der kritische Leser oder die kritische Leserin könnte Neumann vorwerfen, er habe überschüssiges Archivmaterial seiner Dissertation literarisch weiterverwenden wollen. Man könnte einwenden, dass man nicht wisse, ob und inwiefern das Buch wissenschaftlich untermauert sei. Denn die Gattungsmischung lässt keine eindeutige Markierung von Faktizität zu. Man könnte kritisieren, der Ton sei zu gewollt und flapsig geraten. Gelegentlich unterlaufen Neumann tatsächlich Allgemeinplätze und Kitsch: „Es gibt Risse, die keine Zeit heilt.“ (S. 223) Dennoch: Die Gattungsmischung und der ironische Ton zollen dem Gegenstand Romantik um 1800 gelungen Tribut.

Rezension verfasst von: Caroline Will

Jena 1800