Anahid Nersessian

Keats’s Odes

A Lover’s Discourse

The University of Chicago Press 2021

John Keats war eine der faszinierendsten tragischen Figuren der Britischen Romantik, einer Epoche, in der es nicht an tragischen Figuren mangelte. Geboren 1795 als Sohn eines Stallmeisters, absolvierte er eine Ausbildung zum Apotheker und Chirurgen, entschied sich dann jedoch für eine Karriere als Dichter. Keats veröffentlichte drei Gedichtbände, von denen einige wohlwollend besprochen und andere von der Kritik zerrissen, keine jedoch mehr als ein paar Dutzend Mal gekauft wurden. Lord Byron bezeichnete Keats‘ Werke mit blaublütiger Herablassung als „a form of mental masturbation“ (3). Infolgedessen fristete Keats seine wenigen Lebensjahre in prekären Verhältnissen, bevor er mit nur 25 Jahren an Tuberkulose starb. Dass seine Dichtung, insbesondere seine sechs ‚großen Oden‘, schon kurz nach seinem Tod zu zentralen Werken des britischen Kanons avancierten, kam für ihn zu spät.

Mit Keats’s Odes: A Lover’s Discourse veröffentlicht die an der University of California, Los Angeles lehrende Romantikspezialistin Anahid Nersessian eine akademische Liebeserklärung an den toten Dichter, die, wie Keats selbst, gerade in den Punkten fasziniert, an denen sie scheitert. Die 140 Seiten lange Monographie besteht aus sechs Kapiteln: je eines zu jeder von John Keats sechs großen Oden. Allerdings warnt Nersessian bereits im Vorwort, dass diese besser „meditations instead of essays“ genannt werden sollten (xi), und tatsächlich wird schnell klar, dass sie hier weniger über Keats und seine Werke, sondern über ihre eigenen Eingebungen zu diesen schreibt.

Das erste Kapitel „Ode to a Nightingale“ ist noch das konventionellste. Es besteht aus einer eleganten, wenn auch bisweilen reduktiven Exegese: Nersessian bedient autobiographische Aspekte – der frühe Tod von Johns jüngerem Bruder Tom durch Tuberkulose, seine eigenen depressiven Verstimmungen – sowie intertextuelle Bezüge zu Ovids Philomena-Erzählung (die Protagonistin rächt sich an ihrem Vergewaltiger, indem sie dessen Sohn tötet, und wird dafür von den Göttern in eine Nachtigall verwandelt), um das Gedicht als Traumrede einer Person zu deuten, die an der Schwelle zum Suizid wieder ins Leben zurückgerissen wird.

Ihre nächste Meditation „Ode to a Grecian Urn“ entwickelt dieses Paradigma von antiker Dichtung und sexueller Gewalt weiter. Nersessian argumentiert, dass diese Ode – welche üblicherweise als Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in der bildlichen Kunst gedeutet wird – tatsächlich aus der Perspektive eines Vergewaltigers geschrieben sei, Keats diese Perspektive jedoch gleichzeitig als problematisch markiere. Die These an sich ist originell, die tatsächlichen textlichen Belege dafür aber spärlich, vor allem, da Nersessian die meisten davon aus Ovids Metamorphosen, nicht aus Keats' eigentlichem Gedicht nimmt. Dass sexuelle Gewalt in beiden mitschwingt, ist unbestreitbar. Aber die Art, wie sie aus der ästhetischen Aufwertung eben dieser Gewalt in Keats Ode eine Dekonstruktion zu machen versucht, legt den Verdacht nahe, dass hier vor allem Keats selbst in ein besseres Licht gerückt werden soll.

Ganz im Sinne romantischer Ambiguität wird hier gleichzeitig die größte Stärke und Schwäche dieses Buchs sichtbar: Nersessian gesteht offen ein, dass sie aus persönlicher Begeisterung über Keats schreibt. Immer wieder erzählt sie von ihrer eigenen Beziehung zu seinem Werk: Als Tochter iranischer Immigranten in New York sei sie ebenso Außenseiterin gewesen wie der als ‚Cockney-Dichter‘ verschriene Keats unter seinen aus Adelslinien stammenden, in Oxbridge ausgebildeten Romantiker-Kollegen Shelley, Coleridge, Byron und Wordsworth. Analysepunkte wie die Ästhetisierung sexueller Gewalt im westlichen Kanon knüpft Nersessian an persönliche Erfahrungen: Sie beschreibt, wie sie selbst von einem Lateinlehrer belästigt wurde, oder wie sie sich ein ums andere Mal vor männlichen Kollegen für eine kritische Auseinandersetzung mit griechischen Mythen rechtfertigen musste. Sie identifiziert sich mit Keats, so wie sich Keats mit Shakespeare identifiziert hat – das gibt Nersessian offen zu. Selten hat man ein so emotionales Argument für die anhaltende Relevanz eines vor zweihundert Jahren verstorbenen Engländers gelesen. In einem Feld traditioneller, allzu oft klinisch distanzierter Literaturanalysen ist sie erfrischend, um nicht zu sagen inspirierend – aber man merkt, weshalb ein wenig Distanz im Namen überzeugender Argumentationsführung durchaus hilfreich sein kann.

In den Kapiteln 3 und 4 wird dies am offensichtlichsten. Ersteres setzt sich mit „Ode to Indolence“ auseinander. Nersessian bespricht jedoch nicht das tatsächliche Gedicht, sondern eines, das Keats stattdessen hätte geschrieben haben können: Die titelgebende Gleichgültigkeit hätte als Kontrast zum Arbeitszwang unter dem Kapitalismus fungieren können, hätte den Risiken rückhaltloser Liebe Ausdruck verleihen können, wie sie Jenny von Westphalen in einem Brief an ihren Verlobten Karl Marx beschrieb… Nersessian knüpft eine unkonventionelle Assoziation and die nächste. Das ist zwar spektakulär, hat aber mit empirischer Analyse nicht mehr viel zu tun.

Im nachfolgenden Kapitel zu „Ode to Melancholy“ scheitert dieses Vorgehen dann ganz: Auf eine durchaus kompetente Übersicht zu Freuds Melancholiekonzept folgt eine arbiträre Anekdote, die mutmaßlich Nersessians persönliche Erfahrungen mit Melancholie zum Ausdruck bringen soll. De facto ist sie so verklausuliert, anonymisiert, poetisch überstilisiert und ohne jeden ersichtlichen Bezug zu Keats, dass einem am Ende nur in Erinnerung bleibt, dass die Autorin sich im Urlaub einmal an einem Dorn gestochen und unbestimmte Zeit später mit einem ehemaligen Liebhaber fragwürdige SMS ausgetauscht hat. Dies ist umso bedauernswerter, weil Nersessian zwischendurch in einem Nebensatz die These aufstellt, dass in John Miltons Paradise Lost die Erkennung des Geschlechterunterschieds der Moment der Ursünde sei und nicht das Kosten des Apfels. Diese zugleich einschlägige und plausible These hat zwar ebenso wenig mit Keats‘ Oden zu tun, man würde aber gerne weitere Ausführungen dazu lesen. In seiner gegenwärtigen Form könnte man dieses Kapitel streichen und das Buch stünde am Ende besser da.

Damit ist der Tiefpunkt allerdings überwunden: Zwar setzt sich Nersessians Analyse auch in Kapitel 5, „Ode to Psyche“,  wenig mit Keats‘ Gedicht auseinander, sondern vorwiegend mit Apuleius‘ lateinischer Erzählung The Golden Ass, in dem die Göttin Psyche erstmals erwähnt wird. Die These selbst jedoch – dass Liebe und ohne Stigma ausgelebte (weibliche) Sexualität eine Überwindung von Individualität darstelle und die Auflösung des reduktiven „he“ und „she“ ins allumfassende „them“ ermögliche – überzeugt.

„Ode to Autumn“ schließlich lehnt sich mit einer marxistischen Analyse dessen, was Keats in diesem Gedicht nicht erwähnt hat, zwar weit aus dem Fenster, tut dies aber mit Erfolg: Am Tag bevor er diese Ode über die Harmonie des Herbstes schrieb, las Keats in der Zeitung über das Peterloo Massaker, bei dem 1819 in Manchester Dutzende protestierende Proletarier*innen niedergemetzelt wurden. Vor diesem historischen Kontext deutet Nersessian das Gedicht als Auseinandersetzung mit der Koexistenz von Schönheit und Schrecken, Idylle und Grausamkeit. In ihren Worten: „What [‚Ode to Autumn‘] wants is to show us the human incapacity for resisting beauty – to show us that it really is impossible sometimes not to love the world, even when it provides ample evidence that it should not be loved“ (127).

Anahid Nersesisans ist, abgesehen von einer Handvoll allzu blumiger Abschweifungen, eine begnadete Stilistin. In seinen besten Momenten reißt Keats’s Odes mit, wie es die Gedichte seines romantischen Sujets tun. Die Formulierungen sind präzise und oftmals poetisch; Brücken zwischen Keats, Marx und Ovid werden so eloquent geschlagen, dass man gerne bereit ist, bei allzu freien Assoziationen ein Auge zuzudrücken. Darüber hinaus steht Nersessians Kompetenz außer Frage: Ihre Kenntnisse antiker Dichtung, romantischer und kontemporärer Literatur, von Literaturtheorie, Philosophie, Englisch, Italienisch und Latein sind enzyklopädisch. Wenn sie sich mit manchen Interpretationen auf zu experimentelles Terrain begibt, dann, so scheint es, weil sie von konventionellen Interpretationen kanonischer Dichtung schlicht gelangweilt ist.

Als Experiment ist Keats’s Odes: A Lover’s Discourse lobenswert: Wie schon Roland Barthes‘ Fragments d’un discours amoureux (1977), von dem es seinen Titel entlehnt, versucht es, eine neue Form akademischen Schreibens zu finden, in der sich das schreibende Subjekt nicht versteckt, in der Emotionen und Analysen, Autobiographisches, Historiographisches und Dichtung produktiv zusammenfließen können. Leider hat es nicht in allen Sparten gleichermaßen Erfolg. Die Emotionen sind spürbar, die Historiographie einwandfrei. Die autobiographischen Elemente jedoch sind gleichzeitig zu viel und zu wenig – in manchen Momenten schweift Nersessian zu sehr ins Subjektive ab, während man sich in anderen wünscht, dass sie Aspekte wie ihre eigene Erfahrungen als nicht-Englisch-Muttersprachlerin, die zu einer der renommiertesten Spezialistinnen für die englische Romantik avanciert ist, weiter ausführen könnte. Ihre Interpretationen nehmen sich manchmal erfrischend, manchmal fragwürdig viele Freiheiten und überzeugen meist eher als Gedankenanstöße denn als Forschungserkenntnisse.

Rezension verfasst von Andrin Albrecht

Keats’s Odes