Lea Liese
Mediologie der Anekdote
Politisches Erzählen zwischen Romantik und Restauration (Kleist, Arnim, Brentano, Müller)
Man kann Lea Lieses Studie über Politisches Erzählen zwischen Romantik und Restauration vom Ende her profilieren: „Nachgeschichte: Die finsteren Fiktionen der politischen Romantik“ ist das letzte Kapitel vor dem konzisen „Schluss“ überschrieben. Es liefert nicht nur eine wirkungs- und theoriegeschichtliche Coda zu den gattungstheoretischen Überlegungen und Textanalysen des Hauptteils. Es pointiert zugleich, indem es den begrifflichen und theoretischen Rahmen schärfer konturiert, das Erkenntnisinteresse, das die Studie antreibt: Liese geht es im Kern um das Verhältnis von Fakt und Fiktion im Ästhetischen wie im Politischen. Mit dem von Jacques Rancière geprägten Konzept der ‚ästhetischen Regime‘ (S. 1 u. 322–331) will sie das ‚Politische‘ (im Sinne von Chantal Mouffe und damit über die ‚Politik‘ hinausgehend) der Romantik herausarbeiten. Ästhetische Regime, so der Ansatz der Arbeit, setzen politisches Denken symbolisch ins Werk: Es geht dabei, so erläutert Liese, um den „Kampf um Sichtbarkeit“ (S. 324).
Eine erste Pointe dieses Ansatzes liegt im dialektischen Bezug zur Theorie- und Wirkungsgeschichte der ‚Politischen Romantik‘. Den Begriff, der von Carl Schmitt 1919 titelgebend in Anschlag gebracht wurde, wollen Teile der jüngeren Forschung ob seiner Breite und Unschärfe ganz verabschieden (vgl. Löwe 2011; Nienhaus 2009; kritisch Stockinger 2015). Dem stehen Plädoyers für analytische Differenzierung gegenüber. Verweist der Ausdruck ‚Politische Romantik‘ in seiner basalen Bedeutung auf ein Textkorpus, zu dem, wie Stefan Nienhaus ausführt, aus der Textproduktion um 1800 diejenigen Texte zählen, die als ‚politisch‘ und ‚romantisch‘ zu klassifizieren wären – mit allen sich anschließenden Fragen der Definition, Differenzierung und epochalen Grenzziehung –, setzen ambitioniertere Versuche, den Begriff zu ‚retten‘, grundsätzlicher an, indem sie den Zusammenhang von transzendentalphilosophischer Programmatik, politischen Programmen und ästhetischen Verfahren in den Mittelpunkt rücken (vgl. Stockinger 2009; Matuschek 2024). Ein dritter Weg, wie ihn etwa Ethel Matala de Mazza in ihrer Dissertation verfolgt hat, analysiert die Übergänge vom Ästhetischen ins Politische in Texten, aber auch in Praktiken der Romantik. Gegen Schmitts Verdikt des ‚Unpolitischen‘ rekonstruiert sie, welche „gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen“ (im Sinn von Cornelius Castoriadis, vgl. Matala de Mazza 1999, S. 419) die ästhetischen Programme der Romantik bestimmen – und erarbeitet damit, wie Jochen Hörisch in seiner Rezension herausstellte, eine „überfällige Studie zur nicht nur romantischen Phantasie organischer Gemeinschaft“ (Hörisch 2010). In dieser Tradition steht auch die Untersuchung von Lea Liese, die spätromantische Gemeinschaftsentwürfe in den Blick nimmt.
Liese rückt Texte der späten Romantik ins Zentrum ihrer Arbeit, in denen die jüngste Vergangenheit, also die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege und die Befreiungskriege, literarisch gestaltet werden, vor allem Texte von Heinrich von Kleist (1777–1811), Clemens Brentano (1778–1842), Achim von Arnim (1781–1831) und Adam Müller (1779–1829). Ihre Grundfrage dabei lautet: Wie beobachtet, begreift und beschreiben sich diese Romantiker in ihren ‚ästhetischen Regimen‘? Die Untersuchung zielt dabei nicht auf die Rekonstruktion eines philosophischen Programms, sondern auf eine Theorie des politischen Erzählens (S. 11) am Beispiel spätromantischer Texte. Dass der Gattung der Anekdote oder dem anekdotischen Erzählen dabei eine besondere Rolle zukommt, ist die Ausgangsbeobachtung, die ihre Studie leitet.
Liese interessiert sich für das Spannungsfeld von Fakt und Fiktion, für fiktive Lizenzen und politische Manipulation. Gilt die „willing suspension of disbelief“, die Samuel Taylor Coleridge als Grundlage für „poetic faith“ bestimmte, für interessensfreie, kontemplative Lektüren, ist diese Suspendierung bei Erzähltexten in journalistischen Kontexten viel weniger gewiss. Doch Liese setzt nicht primär bei der Rezeption, sondern bei der Komposition der Texte an. Anekdotische Erzählweisen eignen sich für ästhetisch-politische Grenzgänge in besonderer Weise, da die Anekdote konventioneller Weise zwischen Geschichtsschreibung und Mythos verortet wird. „Politische Relevanz“, markiert Liese den Grundgedanken einleitend, erhalte das anekdotische Erzählen „in der Herstellung von gefühlten statt Tatsachenwahrheiten, in der (behaupteten) Gemeinschaftskonsolidierung bei paralleler Ausschließungspraxis sowie in der medialen Bindung der Zuhörer- bzw. Leserschaft.“ (S. 6)
Der gattungstheoretischen Erörterung sind die Kapitel zwei und drei gewidmet, die kleine Formen in politischer Hinsicht profilieren. In einem ersten Schritt liefert Liese, was sie eine „Politische Phänomenologie kleiner Formen“ (S. 20) nennt und rückt Gerüchte, Sagen und Anekdoten ins Zentrum. Das Gerücht begreift sie mit Jean-Noël Kapferer als das früheste Massenmedium der Welt. Dabei versteht sie Gerüchte weder als ‚kommunikativen Normalmodus‘ noch als defizitäre Form der Kommunikation, die massenpsychologisch zu fassen wäre (vgl. S. 34), sondern als „produktives, weil dynamisierendes Moment der Nachrichtenvermittlung“ (S. 35) mit enormer Wirkung: „Die Kommunikation der Gerüchte vermag es, eine symbolische Wirklichkeit zu konstruieren, die zugleich zur Realität des kollektiven Imaginären werden kann – ohne Anspruch auf Faktizität erheben zu müssen.“ (S. 36)
Wenn Liese die Anekdote als „Medium politischer Narrative und alltagspraktischer Wissensverarbeitung“ erschließen will, fragt sie insbesondere nach ihrer Funktion „als (alternative) Geschichtsschreibung“ (S. 59). Dabei fokussiert sie auf den ambivalenten Wahrheitsanspruch von Anekdoten (S. 79), der im Journalkontext besonders hervortrete (S. 90). Wie Gerüchte und Halbwahrheiten in die Berichterstattung integriert werden, untersucht sie an einer Reihe von kürzeren, journalistischen Texten von Kleist aus den Abendblättern, die in der Forschung und in Editionen vielfach als Anekdoten klassifiziert werden. Ausführlicher behandelt sie Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1811), an der sie aufzeigt, wie „anekdotische Evidenzen“ (S. 85) koloniale Gewalt narrativ legitimieren.
Nach den Texten und Projekten der ‚politischen Romantik‘ in der Übergangszeit fragt das vierte Kapitel, mit knapp 150 Seiten das umfassendste der Arbeit. Erweisen will Liese, dass sich die spekulative Poetik der Frühromantik unter politischer Perspektive in ‚Kleinen Formen‘ aktualisiere (S. 5). Wie das Unerhörte und Zufällige erzählerisch in den Dienst übergeordneter Narrative gestellt werden, die Zufall und Vorsehung vermitteln, zeigt Liese an Erzähltexten von Brentano und Arnim. Arnim und Brentano begreift sie, so das vorweggenommene Ergebnis ihrer Analysen, als „Vertreter der politischen Romantik“, die „eine neue Form der Anekdote prägen, die sich ähnlicher medialer Aufmerksamkeitsökonomien“ bedienten „wie Zeitungsnachrichten“ (S. 187). Ergänzt werden diese Analysen einerseits um die Auseinandersetzung mit Texten aus dem Umfeld der Tischgesellschaft, andererseits um Untersuchungen von politischen Theorien der Rhetorik und ihrem Einfluss auf Erzähltexte.
Brentanos Erzählung „Die Schachtel mit der Friedenspuppe“ (1814/1815) ist der erste Text, den Liese zur Illustration ihrer These heranzieht. Anekdotische Schreibweisen sieht sie am Werk, weil der Text, der von einer historischen Grundlage ausgeht, „biographische Authentizität“ (S. 189) beanspruche, zugleich eine unwahrscheinliche Begebenheit ins Zentrum rücke. Für die Deutung der Geschichte ist die zeitliche Transposition in die unmittelbare Gegenwart entscheidend; bei der Ausgestaltung dieser Gegenwart bediene sich die Erzählung auch, wie Liese herausstellt, „zeitgenössischer Zeitungsberichte“ (S. 197). Durch die Art und Weise der Darstellung sowie durch die medialen Kontexte werde die ungewöhnliche Geschichte zum exemplarischen Fall mit politischer Pointe: Indem das Unrecht behoben, die scheinbar natürliche Ordnung wiederhergestellt und die Jahresfeier der Schlacht von Leipzig als „Fest der Buße und Versöhnung“ (S. 189) begangen werde, etabliere die Erzählung einen fiktiven „Konsens“ (S. 204), der auf einem „antagonistischen Freund-Feind“-Schema (S. 204) beruhe. Ausgeschlossen bleibt jedoch einer der beiden Verantwortlichen für das Unrecht: ein Jude, der sich seit seinem 14. Lebensjahr als Christ ausgegeben hat. Ein ähnliches „Narrativ“ sieht Liese in drei Erzählungen Achim von Arnims am Werk, die sie in der Folge analysiert: Die Einquartierung im Pfarrhause (1817), Seltsames Begegnen und Wiedersehen (1817) sowie Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau (1818). Das „Verfahren des romantischen Anekdotisierens“ (S. 206) erkennt Liese, da in allen drei Erzählungen „höchst unwahrscheinliche, ‚seltsame‘, und ‚tolle‘ Begebenheiten vor historischer Kulisse“ (S. 206) entfaltet werden. Wie in Brentanos Erzählung geraten auch in diesen drei Texten in Revolutions- und Kriegszeiten Verwandtschaftsverhältnisse und Identitäten durcheinander; wie bei Brentano spielen Zufall und Schicksal in der Auflösung der Geschehnisse zusammen.
In einem weiteren Schritt wendet sich Liese der von Achim von Arnim und Adam Müller gegründeten „Deutschen Tischgesellschaft“ zu, zu deren ersten Mitgliedern u.a. Clemens Brentano, Carl Philipp von Clausewitz, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Carl von Savigny, Karl Friedrich Schinkel und wohl auch Heinrich von Kleist gehörten (vgl. Nienhaus 2003; Lepper 2021). Die „Gattung der Anekdote“ bot im Zusammenhang von Männergesellschaften wie dieser, so Liese, die „Möglichkeit, regierungskritische Positionen, vor allem antifranzösischer und antisemitischer Art, auszusprechen und zu verbreiten.“ (S. 233) Liese nimmt dabei die performativen Widersprüche der gemeinschaftsstiftenden Rituale, zu denen Tischreden und Trinksprüche gehören, in den Blick: Während die antisemitischen Tischreden von Arnims, etwa Über die Kennzeichen des Judenthums oder die Rede zum Itzig-Skandal, diskriminierende Gerüchte und Stereotype aufgreifen, wird der Rückgriff auf Gerüchte und Klatsch von der Tischgesellschaft prinzipiell verurteilt. Greift die Presse in ihrer Berichterstattung die Zusammenkünfte und antisemitischen Reden kritisch auf, führen die Mitglieder der Tischgesellschaft dies, so zitiert Liese von Arnim, auf „jüdische[] Stimmen in öffentlichen Blättern“ (S. 257) zurück. Die in den Tischreden analysierten rhetorischen Strategien, insbesondere die Selbstviktimisierung, erkennt Liese auch in literarischen Erzählungen aus dem Kontext, etwa in von Arnims Erzählung Die Versöhnung in der Sommerfrische (1811).
In einem letzten Schritt wendet sich Liese Adam Müllers Elementen der Staatskunst (1809) sowie seinen Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (1816) zu. Dabei arbeitet sie dessen Polemik gegen das Publikations- und Zeitschriftenwesen sowie dessen Vorstellung vom unendlichen Gespräch heraus, die sie – gegen Carl Schmitt – als explizit politisch konturiert: nämlich als Aufforderung zur „Ein- und Unterordnung“ unter „einen Gott, einen Monarchen, unter ein organologisch und patriotisch gedachtes Staatskonzept“ (S. 292). In diesem Zusammenhang profiliert sie auch Müllers (scheiternden) Plan, ein Regierungsblatt herauszubringen, das als „Korrektiv der öffentlichen Meinung“ (S. 294) fungieren solle. An Brentanos Fragment einer Erzählung aus der Französischen Revolution diskutiert sie abschließend den Einfluss von Müllers Staatstheorie auf die Literatur, den sie vor allem in der Wiederbelebung des Adels als poetischer Idee erkennt. Dabei steht nicht die Anekdote im Zentrum, sondern die Geschichts- und Gemeinschaftsvorstellungen, die, wie Liese in den vorangehenden Kapiteln gezeigt hat, die anekdotischen Erzählweisen der ‚politischen Romantik‘ prägen.
Lieses Studie ist ambitioniert komponiert: Sie liefert einerseits einen Beitrag zur Literaturgeschichte der Romantik. Andererseits zielt ihre politische Erzähltheorie auf eine Gegenwart, die vielfach als postfaktische beschrieben wird (vgl. zuletzt Gess 2021; Weixler u.a. 2021; Kumkar 2022). Anekdotisches Erzählen ist in dieser Perspektive extrem sticky: Es ist eingängig, in hohem Maße suggestiv, eignet sich daher in besonderer Weise zur Manipulation. Fragt man, was die gattungssystematische und literaturgeschichtliche Dimension der Arbeit verbindet, dann liegt eine mögliche Antwort in der Rekonstruktion von Traditionslinien bis in die Gegenwart. Bis heute produktiv seien der Stil und die Verfahren der Romantik, schreibt Stefan Matuschek in seiner 2024 erschienenen Einführung. Diese zeigten sich u.a. dort, wo wir „Mythologie in erster Linie nicht für einen Gegenstand der Altertumskunde halten, sondern für einen aktuellen fiktionalen Weltentwurf, der Gemeinschaft stiftet und Orientierung geben kann.“ (Matuschek 2024, S. 120) Lieses beobachtungsreiche Studie rückt die problematischen Verfahren der Romantik in den Mittelpunkt. Sie verbindet anspruchsvolle Begriffsarbeit mit genauen Untersuchungen am Text und entfaltet daraus ihr aktuelles Potential.
Bibliographie
- Samuel Taylor Coleridge: Biographia Literaria [1817]. Hg. v. Adam Roberts. Edinburgh 2014.
- Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Berlin 2021.
- Nils C. Kumkar: Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung. Berlin 2022.
- Matthias Löwe: ‚Politische Romantik‘. Sinnvoller Begriff oder Klischee? Exemplarische Überlegungen zum frühromantischen ‚Staatsorganismus‘-Konzept und seiner Rezeptionsgeschichte. In: Athenäum 21 (2011), S. 191–204.
- Jochen Hörisch: Der verfasste Körper. Eine überfällige Studie zur nicht nur romantischen Phantasie organischer Gemeinschaft. In: Athenäum 10 (2010), S. 267–269.
- Marcel Lepper: Hier, er heißt: Heinrich von Kleist. In: FAZ, 03. März 2021, S. N3.
- Ethel Matala de Mazza: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg 1999.
- Stefan Matuschek: Die Romantik. Themen – Strömungen – Personen. München 2024.
- Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen 2003.
- Stefan Nienhaus: Politische Romantik. Nutzen und Missbrauch eines kulturhistorischen Begriffs. In: Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert. Hg. v. Bernd Auerochs und Dirk von Petersdorff. Paderborn u. a. 2009, S. S. 57–66.
- Ludwig Stockinger: ‚Politische Romantik‘ – ‚Romantisierung von Politik‘. Anmerkungen zum Ursprung und zur Rezeption eines frühromantischen Politikkonzepts. In: Staat, Nation und Europa in der politischen Romantik. Hg. v. Walter Pauly u. Klaus Ries. Baden-Baden 2015, S. 47–97.
- Antonius Weixler, Matei Chihaia, Matías Martínez, Katharina Rennhak, Michael Scheffel und Roy Sommer (Hg.): Postfaktisches Erzählen? Post-Truth – Fake News – Narration. Berlin/Boston 2021.
Rezension verfasst von Hendrikje Schauer