Nicolas von Passavant

Nachromantische Exzentrik

Literarische Konfigurationen des Gewöhnlichen

Wallstein 2019

Nicholas von Passavant entwickelt in seiner Monographie (zugl. Univ. Basel, Diss. 2017) auf Basis von Fragmenten des Novalis eine Denkfigur des Exzentrischen, die er durch zwei Jahrhunderte bis in die literarische Gegenwart verfolgt. Am Ende der Studie steht Udo Lindenberg mit seinem Schlapphut, seinem eigensinnigen Schlag ins Lässige, so wie ihn Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem Buch „Panikherz“ beschreibt. Für Nicolas von Passavant ist er ein letzter großer Erbe romantischer Exzentrik.

Der Verfasser leitet seine Analysekategorie im ersten Kapitel aus einem von Novalis verwendeten Bild ab: einem um die Sonne kreisenden Kometen, der sich nicht auf einer konzentrischen Bahn bewegt, sondern dem Mittelpunkt mal näher, mal ferner steht: ein „wahrhaft eccentrisches Wesen – der höchsten Erleuchtung und der höchsten Verdunklung fähig“ (S. 14), in seinen Aggregatzuständen zwischen fest und flüssig wechselnd. Das von einer schmalen Textbasis abgeleitete „exzentrische“ Spannungsprinzip legt von Passavant seiner gesamten Studie zugrunde.

Nicht unproblematisch ist dabei, dass der Verfasser die als exzentrisch charakterisierten Pole immer wieder neu besetzt und immer weiter ausdehnt: Zunächst wird das Spannungsprinzip auf den für die Romantik konstitutiven Gegensatz von Gewöhnlichem und Mystisch-Geheimnisvollem übertragen. Exzentrik verbinde Exaltation und Ekstase mit dem Alltäglichen, dessen oft unterschätzte Bedeutung für das romantische Denken im ersten Kapitel herausgearbeitet wird. Dieser Konnex – darauf weist der Verfasser selbst hin – wäre mit dem Begriff des „Romantisierens“ ebenso gut umschrieben.

Nicolas von Passavant erklärt Exzentrizität sowohl zur Grundlage einer romantischen Konzeption von Subjektivität als auch der Ästhetik und des Politikverständnisses von Hardenbergs. Wie der Komet, der sich wechselseitig erhitzt und abkühlt, funktioniere das „expressive“, sich selbst setzende Subjekt, zu dessen Kennzeichnung der Verfasser auf einen Begriff Charles Taylors (und Isaiah Berlins) zurückgreift. Von Passavant überträgt die „exzentrische Bewegung“, aber auch auf Fragen der Ästhetik, denn sie liege zum Beispiel den Überlegungen zur Romanform zugrunde. Nicht zuletzt in den politischen Entwürfen von Hardenbergs sieht der Verfasser die Prinzipien von „Verflüssigung“ und „Verfestigung“ wirken. Der preußische Staat würde kritisiert, um Individualisierungen zu fordern. Eine Flexibilisierung solle aber nicht so weit gehen, die Existenz eines Zentralgestirns in Gestalt des preußischen Königs (Glauben und Liebe) oder des europäischen Katholizismus (Europa-Rede) anzuzweifeln.

In drei umfangreichen Folgekapiteln untersucht von Passavant subjektkonstituierende, poetologische und politische Spielarten der Exzentrik unter den sich verändernden Bedingungen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Zunächst nimmt er Sonderlings-Figuren in Erzählungen von Jean Paul („Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch“), E.T.A. Hoffmann („Meister Floh“) und Jeremias Gotthelf („Hans Joggeli der Erbvetter“) in den Blick. Modifikationen stellt er etwa dort fest, wo Jean Paul und Hoffmann politische Vorstellung von Novalis zu einer Mitleidsethik modifizieren. Dass exzentrische Subjektivität sich mit der zunehmenden Institutionalisierung von Demokratie verändere, gehört zu den Kernthesen des theoretisch versierten Verfassers, der seine Textbeobachtungen zu einer Fülle verschiedenster Diskurse ins Verhältnis setzt. Zur prominenten Bezugsgröße wird etwa Chantal Mouffes Theorie der Agonistik, derzufolge liberale Demokratien sich durch die Einsicht auszeichnen, dass Konflikt und Auseinandersetzung sowie die Notwendigkeit, sich mit ihnen zu befassen, niemals verschwinden (S. 120). Anders als in der romantischen Annahme einer ästhetisch harmonisierten Staatsform wachse die Bereitschaft, Dissonanz auszuhalten. Die romantische „Bewegungsfigur des subjektiven und gesellschaftlichen Wechselspiels von Dynamisierungs- und Beruhigungsverfahren“ (S. 122) entwickelte sich also in zunehmend demokratische Verhältnisse hinein.

Dies zeigt auch das folgende Kapitel, das Interpretation von Werken Friedrich Theodor Vischers („Auch Einer“), Theodor Fontanes („L’Adultera“) und Wilhelm Raabes („Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte“) unter dem Titel der „Cynischen Exzentrik“ zusammenführt. Vorgestellt werden hier Dissensfiguren, die ein weiterhin anhaltendes Bedürfnis nach Ausgleich mit der Welt mit subjektiver Polemik und inneren Konflikten verbinden. Irritierender Weise wechselt die Bedeutung von „exzentrisch“ im Laufe der Studie: Mal handelt es sich um die Bezeichnung für ein Spannungsfeld, ein andermal allein um den Pol des Außergewöhnlichen und Eigensinnigen, findet also ein eher alltagssprachliches Verständnis Verwendung. Das Spannungsfeld selbst wird immer wieder neu belegt und kann zwischen „Einheit“ und „Vielheit“, „Verflüssigung“ und „Formgebung“ aufgespannt sein oder sich in „Vernunft“ und „Körperlichkeit“, „Exaltation“ und „Regression“ konkretisieren. Es begegnet in den verschiedensten, oft in essayistischer Manier dargebotenen Kontexten. So wird der Eigensinn der Fontane-Figur etwa zu einem antisemitischen Judenbild seiner Zeit ins Verhältnis gesetzt. Das ist interessant und wichtig. Das Buch scheint sich seinem Gegenstand aber manchmal zu sehr anzuverwandeln: So anregend, klug und kenntnisreich es ist – man wünscht sich mehr konzentrierte Bahnen und weniger genialische Abschweifungen des Kometen auf seiner Bahn.

Das 20./21. Jahrhundert wird mit acht Stationen durchlaufen – von Robert Walser über Hans Fallada und Wolfgang Koeppen bis zu gegenwärtigen Texten von Sibylle Lewitscharoff und Benjamin von Stuckrad-Barre. Hier werden die unter dem Signum „Exzentrik“ versammelten Analysen zunehmend divers und binden von einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (bei Fallada und Koeppen) bis zur Popkultur (Stuckrad-Barre) verschiedenste Zeitphänomene ein. Für die Studie grundlegend, wird insbesondere zur Erklärung popkultureller Selbstentwürfe und Gefährdungen der kultursoziologische Ansatz von Andreas Reckwitz herangezogen. Betont Reckwitz doch, dass die Entwicklung subjektiver Expressivität sich von einem romantischen Phänomen zu einem Imperativ der Gegenwart entwickelt habe. Wie die kreative Praxis des expressiven Subjekts zu einem Selbstoptimierungsdispositiv mit zerstörerischem Potential werden konnte, zeigt von Stuckrad-Barres Selbsterkundungsbuch „Panikherz“.

Das letzte Kapitel der Monographie bietet ein Fazit und fragt mit gegenwartsdiagnostischem Anspruch: „Was ist nachromantische Exzentrik?“ Nicolas von Passavant fasst es so zusammen: Dem modernen Subjekt ist die Erlangung einer dauerhaften inneren Harmonie verwehrt, die Romanpoetik muss sich immer neue Selbstdefinitionen erarbeiten, die Gesellschaft kann sich immer nur auf Zeit stabilisieren. In den Bereichen der Subjektgenese und der Poetik, vor allem aber auch auf dem Gebiet der Politik kommt es zu Aushandlungsbewegung zwischen dem Dynamisch-Konflikthaften und einer gewissen Stabilisierung. Die Romantik stellt mit der „Exzentrik“ ein Verfahren zur Verfügung, mit dem eine „essentialistisch-verfestigende“ und eine „eklektizistisch-verflüssigende“ Haltung in eine „Wechselbewegung“ gebracht werden können (S. 218). Dieses Prinzip der Gegenläufigkeit verteidigt von Passavant gegen vereinseitigende Vereinnahmungen der Romantik im Verlauf ihrer Rezeptionsgeschichte. Das Wechselspiel hält von Passavant für den entscheidenden Impuls, der für die Gegenwart genutzt werden sollte.

Rezension verfasst von: Sandra Kerschbaumer

Nachromantische Exzentrik