Andrea Allerkamp, Andreas Hetzel, Markus Mülke, Gert Ueding, Francesca Vidal (Hgg.)

Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch

Rhetorik und Romantik

De Gruyter 2023

Das „internationale Jahrbuch“ Rhetorik untersucht Rhetorik in allen möglichen kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen. Der 42. Jahrgang widmet sich dem Thema Rhetorik und Romantik. Für die Bewertung des Bandes stellen sich vor allem diese beiden Fragen: Erstens, welche Erkenntnisse liefert der Band über a) den romantischen Beitrag zur Rhetorik und b) das spezifisch Rhetorische an und in der Romantik. Und Zweitens, inwiefern gehen diese Erkenntnisse hinaus über den Forschungsstand, wie Helmut Schanze ihn im Abschnitt „Romantische Rhetorik“ des von ihm herausgegebenen Romantik-Handbuchs von 1994 dargelegt hat. Kern des Forschungsstands ist die auf den Anglisten Klaus Dockhorn zurückgehende „Ubiquitäts-These“, der zufolge die Rhetorik um 1800 als Disziplin zwar verschwindet, in ihren Begriffen und Lehrstücken aber als „rhetorisches Wissen“ allgegenwärtig bleibt, vor allem in der Romantik, die Rhetorik als Gegenstück zur Philosophie in Stellung bringt (vgl. VIII-IX)

Ein Blick auf die hier versammelten Beiträge zeigt, dass bei der Frage nach dem Verhältnis von Rhetorik und Romantik offenbar nicht die kanonischen Autoren und Texte der Literatur der Romantik die bevorzugten Gegenstände sind: Tieck, Hoffmann, Eichendorff, Clemens Brentano, Blake, Byron, Shelley, Keats, Hugo, Musset, Chateaubriand fehlen. Lediglich drei der acht Beiträge haben einen literarischen Gegenstand: Marta Sukiennicka untersucht Alphonse de Lamartines Gedichtzyklus Méditations poétiques, Yvonne Al-Taie Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde von Bettina von Arnim und Björn Quiring Williams Wordsworths Versepos The Prelude. Philosophische Texte sind der Gegenstand dreier weiterer Beiträge: Shaftesburys Soliloquy und Schellings Weltalter-Fragmente bei Peter Oesterreich, Friedrich Schlegels Frühschriften und Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens bei Jakob Christoph Heller und Fichtes Die Bestimmung des Menschen bei Joanna Raisbeck. Die beiden übrigen Beiträge Bettine Menkes und Rüdiger Görners widmen sich rhetoriktheoretischen Texten: Kleists Schrift Über die Verfertigung der Gedanken beim Reden und Adam Müllers Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland.

Die in den einzelnen Beiträgen zugrunde gelegten Rhetorik-Begriffe bilden die gesamte Bandbreite der Begriffsverwendung ab: Die „klassische Rhetorik“ (XIII) – das Lehrgebäude der antiken Rhetorik – ist der Bezugspunkt in den Beiträgen von Oesterreich, Sukiennicka, Al-Taie und Raisbeck. Der weitere Rhetorik-Begriff, der jede Form von persuasiver Wirkungsabsicht umfasst und dem Gegenstand der modernen Rhetorik-Forschung entspricht (Gert Ueding), findet sich vor allem bei Görner. Bei Quiring meint „Rhetorik“ alles Sprachliche überhaupt. Und Hellers Beitrag oszilliert zwischen allen drei Rhetorik-Begriffen. Paul de Mans Auffassung von Rhetorizität als Wesensmerkmal von Sprache überhaupt, mit der de Man die für die antike Rhetorik grundlegende Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Rede negiert, ist Ziel der Kleist-Lektüre von Bettine Menke.

Methodisch sind die Beiträge sehr verschieden. Rüdiger Görners Beitrag zu Adam Müller und Heinrich von Kleist folgt jenem Verfahren, das er in Müllers „Analyse von den Dramen Shakespeares“ feststellt, „wobei diese Analyse keine ist, sondern ein bewusstes ‚Bereden‘ oder ‚Besprechen‘.“ (127)  Beginnend mit einer „Ausschweifenden Vorrede“ (116) und gefolgt von einer „Annäherung“ (119) schweift der Beitrag von Goethe zu Hofmannsthal, von Stefan Zweig zu Hitler, von Marcel Reich-Ranicki, Kafka, Hölderlin zu Nietzsche und kommt auch auf die beiden im Titel angekündigten Autoren zu sprechen. Ähnlich assoziierend zeigt sich das Spiel der Zeichen in Bettine Menkes Aufsatz zu Heinrich von Kleists Allmähliger Verfertigung der Gedanken beim Reden.

Björn Quiring sieht in William Wordsworths autobiographischem Versepos The Prelude ein Beispiel für „neue Konzeptionen der dichterischen Arbeit und des literarischen Genies zur Zeit der Romantik speziell in England“, die er auf eine „Modernisierung des Eigentumsbegriffs im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts“ zurückführt (99).

Der Beitrag skizziert konzise, wie sich die Entstehung der „Doktrin“ des „Besitzindividualismus“, der zufolge Identität in Besitz gründet, bei John Locke, in der Malerei und im Gartenbau des 18. Jahrhunderts und in Defoes Robinson Crusoe zeigt (103-106).

In dem Versuch, in Wordsworths The Prelude eine entsprechende „Umgestaltung der dichterischen Eigentumsrhetorik“ (99) nachzuweisen, zitiert der Beitrag als „Kernaussage der Prelude“ eine Passage, in der mehrfach vom „Eigenen“ („’tis thine“) die Rede ist: (111). Da es sich bei The Prelude um einen Bildungsroman in Versen handelt, sind mit diesem „Eigenen“ des Ich zunächst einmal die natürlichen Anlagen dieses Autor-Ichs gemeint, deren Ausbildung durch die ästhetische Erfahrung vor allem der Natur (vgl. 108) das Epos erzählt. Seine Behauptung, dass diese Anlagen wie ökonomischer Besitz aufgefasst werden, vermag der Beitrag an dieser Passage aber nicht nachzuweisen.

Was nun die Frage nach dem Verhältnis von Rhetorik und Romantik angeht, fällt der unscharfe Rhetorik-Begriff ins Auge, der offensichtlich mehr oder weniger alles Sprachliche umfassen soll. Und das spezifisch Romantische an Wordsworths Prelude bleibt in dem Maße fraglich, in dem der Beitrag diesen Text in einer Kontinuität zu ökonomischen (Locke) und ästhetischen (Addison, vgl. 108) Diskursen und Praktiken des 17. und 18. Jahrhunderts zu sehen sucht.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass der überzeugendste Beitrag jener ist, der an einem literarischen Gegenstand die „klassische Rhetorik“ in actu zeigt und so bei seiner Analyse erhellend auf die Begriffe dieser Rhetorik zurückgreifen kann: Marta Sukiennicka demonstriert präzise, wie Alphonse de Lamartines Méditations poétiques einerseits Rhetorik-Feindlichkeit behaupten und gerade dadurch als „véritable manifeste du romantisme en France“ (35) rezipiert werden konnten; wie andererseits aber die Lehrstücke der klassischen Rhetorik gerade an jenen Stellen am Werke sind, in denen diese Gedichte romantische Auffassungen zur Darstellung bringen.

Auf diese Weise zeigt der Beitrag, wie die Frage nach dem Verhältnis von Rhetorik und Romantik nicht nur Dockhorns These von der Ubiquität der Rhetorik bestätigt, sondern auch Erkenntnisse über Romantik ermöglicht: Denn der hier gezeigte performative Widerspruch in der Auseinandersetzung mit der klassischen Rhetorik ist ein Hinweis darauf, dass der von den Romantikern behauptete Bruch mit dem Vorhergehenden ein „von den Romantikern inszenierte[r] Epochenbruch“ (Heller, S. 19) ist.

Als Textanalyse ebenso überzeugend ist der Beitrag von Yvonne Al-Thai. Sie zeigt, dass Bettina von Arnim in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde „im romantischen Sinn Gestik als Ausdruck affektiver Zuneigung und spontaner Leidenschaftsbekundung [gestaltet]“ (73). Die Kontextualisierung gerät hier aber weniger plausibel als die Analyse selbst. Denn dass „Bettina von Arnims geschriebene Gesten […] lebendiger Ausdruck augenblicklicher Gefühlsregung“ (84) sein sollen, widerspricht der Eingangsthese des Beitrags, dass in diesen Briefen „romantisches Schreiben sich rhetorische Verfahren transformierend aneignet“ (71). Wenn man mit Gert Ueding unter Rhetorik die „wirkungsorientierte“, „persuasive Kommunikation“ versteht, dann ist von Arnims „Gesten schreiben“ wesentlich anti-rhetorisch. Entsprechend wenig plausibel ist der Versuch des Beitrags, diese Gesten mit dem rhetorischen Lehrstück der actio zu fassen, dessen Anliegen wesentlich die methodische Kontrolle alles Individuellen und Spontanen ist.

Telos der Argumentation ist die These, dass Rhetorik und Romantik sich in den „zahlreiche[n] Beschreibungen von Gesten“ (83) vereinen würden zu einer „Körperrhetorik der Resonanz“ (84), einer „Befreiung weiblichen Begehrens“ (84). Dass die titelgebende Selbststilisierung zum „treuen Kind“, das „ihm beschert“ ist, dass die gestische Unterwerfung unter den Mann in den im Beitrag zitierten Passagen Ausdruck weiblicher Resonanz und Emanzipation sein soll, mutet doch kurios an. Hätte der Beitrag auch so geurteilt, wenn die Briefe von einem Mann geschrieben worden wären?

Dass diese Frage keine rhetorische ist, zeigt ein Blick ins 18. Jahrhundert. Allerdings nicht auf die „aufklärungsphilosophischen Erziehungslehren“, die der Beitrag referiert, um zu zeigen, wie von Arnims Darstellung von Gesten die Vorgaben dieser „Gesellschaftslehren der Aufklärung“ „im romantischen Sinn“ unterläuft (73), sondern auf die Dichtung der Aufklärung, in der die anschauliche Beschreibung von Mimik und Gestik als authentischer Gefühlsausdruck ubiquitär ist: in Lessings Dramen, in den Romanen Fieldings und Sternes und vor allem in Richardsons Brief-Romanen und deren Rezeption bei Autoren wie Gellert und Diderot.

Die Frage nach dem Verhältnis der Romantik zur Aufklärung betrifft auch die übrigen Beiträge. Joanna Raisbeck widmet sich der frühen Fichte-Schrift über Die Bestimmung des Menschen als Beispiel für jenen „populären Stil“ (88) Fichtes, dessen „ästhetische Wirkung“ (96) der wesentliche Grund für die begeisterte Fichte-Rezeption in Großbritannien war.

In dem Maße, in dem der Beitrag die Lehrstücke der klassischen Rhetorik in Fichtes Schrift nachweist (90, 91, 95), unterminiert er allerdings seine Eingangsbehauptung, dass „in den frühen populären Schriften Johann Gottlieb Fichtes eindeutig eine Erneuerung und Transformation der klassischen Rhetorik nachgewiesen werden kann.“ (87) Und in dem Maße, in dem der Beitrag darauf hinweist, dass Fichtes Schrift ihren Titel und ihre Argumentationsstruktur einem Text der aufklärerischen Popularphilosophie entlehnt (90), stellt sich die Frage nach dem spezifisch Romantischen dieser Schrift und damit wiederum die Frage nach dem Verhältnis von Romantik und Aufklärung.

Jakob Christoph Heller begreift Friedrich Schlegels Konzept der urbanitas und Schleiermachers Konzept der Geselligkeit als „Transformationen des rhetorischen ‚Ethos‘“ (16) und pathos und ethos als „proprium einer romantischen Rhetorik“ (22).

Da die „freie Geselligkeit“ für Schleiermacher „durch keinen äußern Zweck gebunden“ sein soll (26-27), benötigt der Beitrag für eine rhetorische Auffassung dieser freien Geselligkeit einen entsprechend weiten Begriff von Rhetorik. Er findet ihn in einem „anthropologischen Verständnis“, demzufolge Rhetorik „noch vor jeder Sprachlichkeit“ jeden formal geregelten sozialen Umgang bezeichnet (vgl. 19). Unabhängig davon, für wie sinnvoll man dieses Verständnis von Rhetorik hält, fragt sich, warum der Beitrag, wenn er einen derart weiten Rhetorik-Begriff zugrunde legt, in seiner Untersuchung dann doch auf die Lehrstücke der klassischen Schulrhetorik, nämlich ethos und pathos zurückgreift. Zudem steht dieser weite Rhetorik-Begriff im Widerspruch zu dem, was der Text als Friedrich Schlegels Auffassung von Rhetorik darstellt, für die „die Wirkungsabsicht das Fundament“ sei (21). Entsprechend stellt der Beitrag fest, dass „die romantische Poesie in einem doppelten Sinne [rhetorisch ist]: als auf eine Wirkabsicht hin organisiert und als aufsitzend auf einem bestimmten ethos.“ (23)

Ebenso heikel wie das Oszillieren zwischen verschiedenen Rhetorik-Begriffen ist der Versuch, den Zusammenhang von Urbanität, Geselligkeit und ethos wesentlich aus gesammelten Friedrich-Schlegel-Zitaten herauszulesen.

Die entscheidende methodologische Frage ist hier, ob die begrifflichen Synthesen des Beitrags durch sein empirisches Material gedeckt sind. Insofern diese Synthesen etwas spezifisch Romantisches fassen sollen (vgl. 16-18, 23, 31), stellt sich zudem die Frage, ob der Text nicht auch der eigenen Einsicht hätte nachgehen sollen, dass die „freie Geselligkeit […] deutlich der Urbanität im frühneuzeitlichen und aufklärerischen Verstand verwandt [ist].“ (28) Das spezifisch Romantische an Schlegels und Schleiermachers Vorstellungen zu Urbanität und Geselligkeit ließe sich demnach nur durch einen Vergleich mit dem zeigen, was in der Aufklärungspublizistik und -literatur an Geselligkeit verhandelt und veranschaulicht wird: zum Beispiel in Georg Friedrich Meiers moralischer Wochenschrift Der Gesellige, in Wielands Musarion und Don Sylvio oder in der Rahmenerzählung von Goethes Unterhaltungen. Wenn Schleiermacher Geselligkeit als „Praxis“ begreift, die jedem Teilnehmer „die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so dass alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüther und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können“ (27-28), – so fasst das konzise zusammen, worum es in Wielands kurzem Aufsatz „Was ist Wahrheit?“ geht.

Peter Oesterreich schließlich nimmt die Frage nach dem Verhältnis von Rhetorik und Romantik zum Anlass, „das ungelöste Problem“ der „Romantik-Forschung“, „die verwirrend vielfältigen Spielarten der Selbsterfindung moderner Subjektivität“ auf einen Begriff der Romantik zu bringen, „auf rhetorisch-tropologischen Wege anzugehen.“ (7) Romantik stellt sich ihm dar als Denken zwischen den Polen „infiniter Ironie“ und „totalisierender Synekdoche“ (7).

Der Beitrag interessiert sich vor allem dafür, wie Schellings Weltalter-Fragmente dessen Vorstellung einer „inneren Unterredungskunst“ entsprechen (2-3, 7-14). Da er diese Vorstellung bei Schelling aber „lediglich kurz angedeutet“ findet (3), greift der Beitrag auf eine „vorromantische Stimme“ – Shaftesburys Soliloquy – zurück, um „Aufschluss über die redetechnische Seite der bei Platon oder Schelling nur angedeuteten inneren Unterredungskunst“ zu gewinnen (3). Im Folgenden verwendet der Beitrag viel Aufwand darauf, die officia oratoris zuerst in Shaftesburys Text und anschließend in Schellings Weltalter-Fragmenten zu verorten. Dass es sich hierbei vor allem in Bezug auf Shaftesbury um ein Oktroyieren dieser rhetorischen Begriffe handelt, zeigt sich schon oberflächlich am erheblichen Missverhältnis zwischen der Omnipräsenz des Rhetorik-Komposita und Rhetorik-Ableitung im Beitrag und deren fast vollständigen Abwesenheit in den zitierten Textstellen. Tatsächlich kommt „Rhetorick“ im Soliloquy ganze vier Mal vor, und dies zumeist abwertend, da Shaftesbury darunter vor allem die Kunst des Verschleierns und Verdunkelns versteht, vor allem ein pseudo-rationales Bemänteln eigener Triebhaftigkeit („appetite“).

Aber selbst, wenn man dieses Postulat des „fünffache[n] Organon[s] der Rhetorik“ (14) plausibel finden würde, müsste irritieren, dass der Beitrag auf Shaftesburys Text als „vorromantische Hintergrundtheorie“ (1), „vorromantische Stimme“ (3) und „vorromantische Philosophie“ (14) Bezug nimmt und so sprachlich kaschiert, dass das, was hier als „Denkstil des romantischen Philosophierens“ (7) vorgeführt wird, wesentlich in Kontinuität zum Denken der Aufklärung steht.

Den Begriff der Vorromantik hat Werner Krauss bereits 1963 in seinem Aufsatz über „Französische Aufklärung und deutsche Romantik“ inhaltlich und methodologisch kritisiert. Die Praxis, den Aufklärungsbegriff in Abgrenzung vom Romantikbegriff zu bestimmen, entspricht der Praxis der Romantiker selbst. Dreißig Jahre nach Krauss erhebt auch Ludwig Stockinger im Romantik-Handbuch die Forderung, es umgekehrt zu machen: den Aufklärungsbegriff unabhängig vom Selbstverständnis der Romantiker zu bestimmen und auf dieser Grundlage nach Kontinuitäten und Brüchen zwischen Aufklärung und Romantik zu fragen und auf diese Weise den Romantikbegriff zu bestimmen. Wiederum drei Jahrzehnte später führt der vorliegende Band zu Rhetorik und Romantik die Aktualität dieses Anliegens erneut vor Augen.

Rezension verfasst von Alexander Löck

Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch