Rüdiger Görner

Romantik

Ein europäisches Ereignis

Reclam 2021

Rüdiger Görner markiert mit dem Buchtitel einen klaren Standort: Romantik ist aus seiner Perspektive nicht eine „deutsche Affäre“ (Rüdiger Safranksi), deren Folgen bis heute in Eigentümlichkeiten deutscher Kultur wahrnehmbar sind, sondern ein „europäisches Ereignis“. Diese Sicht ist in der Romantikforschung nicht neu. Es stellen sich aber immer noch Fragen, die einer Diskussion bedürfen: Wie können bestimmte Merkmale von relevanten Phänomenen nationaler Kulturen so erfasst werden, dass sie sich unter einem Begriff von ‚europäischer Romantik‘ als abgrenzbare Einheit fassen und unterscheiden lassen? Damit verbunden ist die Frage, warum in der Situation um 1800 in ganz Europa vergleichbare innovative Antworten gefunden worden sind, die man seither als ‚romantisch‘ bezeichnet hat, ob nun in der Sprache der Zeitgenossen, oder in der Sprache der Romantikforschung. Weiterhin stellt sich die Frage, ob es sich bei den nationalen ‚Romantiken‘ um Schöpfungen handelt, die aus spezifischen Problemstellungen entwickelt worden sind, oder ob Einflüsse erkennbar sind, die auf die Konzepte der deutschen Frühromantiker zurückzuführen sind. Schließlich bleibt die Frage, warum sich diese Antworten als so attraktiv erwiesen haben, dass sie bis in die Gegenwart wirksam geblieben sind. Angesichts der Faszination, die bis heute von diesem Phänomen ausgeht, stehen alle, die sich wissenschaftlich mit ihm befassen, unvermeidlich vor der Entscheidung, zwischen Identifikation und kritischer Distanz einen Weg zu finden.

Fragt man sich, inwieweit Görner wegweisende Vorschläge zur Diskussion dieser Fragen anzubieten hat, so fällt das Ergebnis trotz oder gerade wegen der Identifikation des Autors mit seinem Gegenstand – „Man muss das Romantische quasi an Leib und Seele erfahren haben, um es zu erfassen“ (S. 303) – eher ernüchternd aus.

Dass Görner eine von literaturwissenschaftlichen Normalerwartungen abweichende Form der Darstellung gewählt hat, signalisiert er schon damit, dass er den Einleitungsteil mit einem musikalischen Begriff betitelt: „Préludes mit weiblicher Note“ (S. 11). Anscheinend will er damit die Realisierung ‚romantischer‘ Musik-Text-Intermedialität geltend machen, anders gesagt: Der Text will nicht als wissenschaftliche Analyse, sondern als romantisches Kunstwerk gelesen werden: „Ich möchte […] in der Form der Darstellung […] mit zum Ausdruck bringen, dass die Romantik Ungewöhnliches bot auf eine Art, die uns bleibend zu beschäftigen hat: (sozial)politisches Engagement und Herz-Schmerz-Poesie, philosophischen Tiefgang und Ironie, Spiel mit Form und emanzipatorische Ansätze, Gefühlsauslotung und (natur)wissenschaftliche Analyse.“ (S. 11f.) Diese Reihung von Begriffs-Gegensätzen mag als Exordial-Topik angehen. Wer aber beim Weiterlesen mit zunehmender Ungeduld darauf wartet, dass daraus ein klarer Begriff von Romantik konstruiert und eine These zu deren Genese und Wirkungsgeschichte formuliert wird, wartet vergeblich auf eine Antwort. Begründet wird dieses Verfahren mit einem vielsagenden Vergleich:

„Man kann es sich am sinnfälligsten als einen dunklen Kristall vorstellen, der an diversen Stellen blitzartig alle nur denkbaren Farben funkeln lässt, Töne von sich gibt, aromatisch angereicherte Wörter freisetzt, Gerüche von sich gibt und zum Betasten einlädt: ein synästhetisches Phänomen also, länderspezifisch und zugleich kulturübergreifend. Ein Kristall der Motive und Themen – in Fragmenten niedergelegt ebenso wie in ganzheitlich gemeinten Entwürfen –, der ebenso konzentrierten wie vagen Sehnsüchte bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Arbeit, der Beschwörung ewiger Kindheit und anderer versunkener Welten.“ (S. 25)

Um im Bild zu bleiben: Man wüsste gern etwas über die Materialität und die innere Struktur dieses Kristalls, um zu verstehen, warum er auf der Oberfläche in so vielen Facetten nicht nur funkeln, sondern auch tönen und duften kann. Görners Darstellung dringt bis zu diesem Kern nicht vor, er verbleibt bei einer lockeren Reihung von Oberflächenphänomenen, bei denen er sich mit reichen Kenntnissen deutscher und europäischer Literatur assoziativ treiben lässt, dabei „funkeln“ aber zumeist nur isolierte Textstellen. Dass er es dabei mit dem Zitieren nicht allzu genau nimmt, zeigt sich an zwei keinesfalls nebensächlichen Beispielen.

Beispiel 1: „Im Rückblick […] kehrt Heine Friedrich Schlegels berühmtes Wort vom Geschichtsschreiber als einem rückwärtsgewandten Propheten um und nennt den Dichter einen ‚Geschichtsschreiber, dessen Auge hinausblicke in die Zukunft‘.“ (S. 58) Das „berühmte Wort“ Schlegels – es ist das 80. Athenäums-Fragment – lautet aber: „Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet.“ Der Historiker schaut nicht zurück, sondern er begibt sich an einen früheren Standort, um von dort aus in die Zukunft zu schauen – eine genial knappe Formulierung romantischer Geschichtsauffassung. Schlegel meint also gerade das, was auch Heine sagen wollte.

Beispiel 2: Über Friedrich Schleiermacher wird an einer Stelle behauptet, er habe „den Pluralismus der religiösen Erfahrung, verstanden als Anschauung des Universalen, untersucht“ (S. 65). Schleiermacher definiert Religion aber als „Anschauen den Universums“, womit die Einheit von sinnlicher Erfahrung der Welt mit dem Gefühl, in dieser Erfahrung an deren Grenzen zu gelangen, gemeint ist – eine für das romantische Religionskonzept zentrale Formel. Das „Universum“ kann man ‚anschauen‘, nicht aber das „Universale“.

Solche ‚Schnitzer‘ sind nicht zufällig, sondern sie resultieren aus der vom Autor mehrfach betonten Weigerung, den Begriff ‚Romantik‘ zu definieren. Ein „abschließendes Urteil über das, was Romantik denn ‚wirklich‘ ist“ (S. 301), könne es nicht geben, heißt es an einer Stelle. Es geht aber gar nicht darum, zu bestimmen, was Romantik „wirklich“ ist, sondern darum, aus der Fülle von Phänomenen Merkmale auszuwählen, daraus ein Textkorpus zu bilden und einen Zusammenhang von Texterzeugungsregeln zu konstruieren, den man dann als Romantikbegriff zur Diskussion stellen kann. Diese Begrenzung ist die unumgängliche Voraussetzung dafür, einen literaturwissenschaftlichen Romantikbegriff als ein Erkenntnisinstrument produktiv zu nutzen. Den Preis für diese Reduktion komplexer Wirklichkeit will der Autor aber nicht entrichten. In der Folge kommt es zu einer Überdehnung des Romantikbegriffs, so dass man am Ende den Eindruck bekommt, dass irgendwie alles ‚romantisch‘ sei.

Der aus dieser Verweigerung resultierende Wortgebrauch kann mit Beispielen illustriert werden, die sich beliebig vermehren ließen. So wird Romantik als „Kulturepoche […] mit ihrem über zwei Jahrhunderte langem Atem“ (S. 36) bezeichnet, ohne dass die Bildung von Epochenbegriffen problematisiert wird und ohne die Probleme der Verwendung des Epochenbegriffs im Fall der Romantik zu erörtern. Auffallend ist auch die Vermischung von objektsprachlichem und beschreibungssprachlichem Wortgebrauch sowie die Neigung zu pauschalen Behauptungen über ‚die Romantik‘ oder ‚die Romantiker‘, die den Eindruck erwecken, als sei die ‚Romantik‘ so etwas wie eine durch die Literaturgeschichte wandelnde Person mit Bewusstsein, die ihre Gefühle und Absichten in einzelnen Werken zum Ausdruck bringe. Man spürt an diesen Stellen, dass der Autor in der Tradition von ‚Wesens‘-Bestimmungen steht. „Als universal, allumfassend, auf ein Ganzes gerichtet verstand sich die Romantik von Anbeginn.“ (S. 36). „Ihre Wege sind verschlungen, traumgesäumt, dann wieder unverhofft steinig; sie führen an Rosenhügeln vorbei und an Abgründen, durch die mehr oder weniger mondhelle Nacht und durch das grell beleuchtete Terrain der Kritik und Schmähung.“ (S. 40) „Der ‚Erlkönig‘ durchzieht die Romantik, er reitet musikalisch durch sie hindurch […].“ (S. 132) Dergleichen ist eher ‚romantische Poesie‘, allerdings keine sehr gute, als Literaturwissenschaft. In der Rede über die Romantik als ‚Epoche‘ verschwinden vielfach auch die Texte und deren Autoren in einem „man“: „Wie und wodurch manifestiert sich die Romantik in ihren verschiedenen Phasen? Im Chorgesang der sogenannten Liedertafeln ebenso wie in der Vereinzelung, durch Gemeinschaftspathos oder auch durch das Leiden in und an der Einsamkeit. Man gab sich rebellisch und harmoniebedürftig, weltlich-sinnlich und am Rande des Transzendierens ins harmonische Zuhause.“ (S. 69)

Im Hinblick auf den Buchtitel fragt man sich, welche Anregungen das Buch für die Diskussion der Stellung von ‚Romantik‘ im geschichtlichen Kontext Europas um und nach 1800 bieten könnte. Der Autor kann dabei ja aus dem reichen Fundus seiner stupenden Kenntnisse mehrerer Nationalliteraturen schöpfen. Aber auch hier fällt das Resultat ernüchternd aus. Im Einleitungsteil wird z. B. gesagt, dass die Romantik eine „Fortführung der Aufklärung mit anderen Mitteln“ (S. 21) sei. Dem kann man zustimmen, aber die damit geweckte Erwartung, dass der Begriff ‚Aufklärung‘ erläutert oder dass die ‚Romantik‘ bzw. die ‚Romantiken‘ aus der Diskussionslage der nationalen Varianten von ‚Aufklärung‘ heraus erklärt würden, wird enttäuscht. Zur Erläuterung heißt es nur pauschalisierend: „Die Romantik übersetzte das ‚Projekt Aufklärung‘ ins Psychische und Künstlerische. Sie nahm sich vor, unter veränderten Vorzeichen über das Seelische und Schöpferische aufzuklären, was jedoch auch zu Ich-Verklärung, Eintrübungen oder gar Verdunkelungen führen konnte; letzteres mündete unmittelbar in spiritistischen Irrationalismus und Nationalismus.“ (S. 21) Gab es in den Diskursen der Aufklärung denn kein Interesse an Psychologie und Kunst? Wie soll man sich den Zusammenhang von psychologischen Interessen und „spiritistischem Irrationalismus“, was immer das sein mag, oder gar „Nationalismus“ vorstellen?

Das Kapitel II kündigt „Britisch-deutsche Verschlingungen in der Romantik“ (S. 60) an. Das weckt Erwartungen. Der Text beginnt mit Erzählungen über William Wordsworths Reise durch Deutschland, um dann assoziativ zu Novalis zu wechseln, ohne etwas über die Beziehung zwischen den beiden Autoren zu sagen, Walter Scotts Lektüre E. T. A. Hoffmanns (vgl. S. 66 ff.) wird als eigentlich ‚unromantisch‘ identifiziert, um schließlich unvermittelt zu Bemerkungen über die unterschiedliche Bedeutung von Gedankenstrichen im Englischen und Deutschen überzugehen. Eine Aussage über die Differenz englischer und deutschen Romantik sucht man vergebens. Dazu gibt es nur eine Nebenbemerkung an späterer Stelle: „Etwas philosophisch Vergleichbares zur Auseinandersetzung der frühen deutschen Romantiker mit den drei Kritiken Kants und seiner Abhandlung über die Religion in den [sic!] Grenzen der bloßen Vernunft (1793, also im Jahr der Diktatur Robespierres) findet sich in England nicht.“ (S. 279) Was aber folgt daraus? Und was will der Autor damit sagen, dass er Kants Religionsschrift mit Robespierre in einen zeitlichen Zusammenhang bringt?

Die Aussagen zum Verhältnis der nationalen ‚Romantiken‘ untereinander werden in ihrer Verbindlichkeit vom Autor ohnehin relativiert: „So wenig ‚wissenschaftlich‘ es auch klingt, sogenannte ‚Einflüsse‘ ergaben sich – zeitbedingt – eher durch das, was ‚in der Luft lag‘, als Denkvermutung umherschwirrte und wenig greifbar, aber, Gerüchten nicht unähnlich, von erkennbarer Wirkung war. Man sollte statt der ‚Einflüsse‘ wohl sachgenauer, wenn auch sprachlich unpräziser, von einer Umfließung, Umwölkung durch zeitgängige Gedanken sprechen, die gerade junge Menschen, wie es die frühen Romantiker nun einmal waren, eifrig aufnehmen, fernab von jeder scheinbar bündigen Systematik.“ (S. 191f.) Wie man das unbestreitbare Phänomen von Rezeption und Traditionsbildung diskursiver Muster ohne direkten Nachweis anders als mit derlei ‚wolkiger‘ Metaphorik wissenschaftlich analysieren kann, dazu sind im Jenaer Projekt „Modell Romantik“ ja diskussionsfähige Vorschläge gemacht worden.

Fazit: Da der Autor auf der Oberfläche des „dunklen Kristalls“ namens ‚Romantik‘ eine reiche Fülle von Kenntnissen „funkeln“ lässt, bietet sein Buch ohne Zweifel für die Romantikforschung viele Anregungen für neue Entdeckungen oder vertiefte Relektüre bekannter Texte, etwa von E. T. A. Hoffmann, denen er sich am aufmerksamsten widmet. Bei der Analyse dieses „Kristalls“ wird man aber besser die Wege konventioneller wissenschaftlicher Argumentation gehen müssen. Die Nachahmung ‚romantischer Poesie‘ bringt keinen Erkenntnisfortschritt.

Rezension verfasst von: Ludwig Stockinger

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