Nikolas van Essenberg

Romantik im Spannungsfeld von Konfessionalisierung und Nationalisierung

Das Spätwerk Joseph von Eichendorffs 1837-1857

Wallstein 2023

Der hier zur Debatte stehende Band wurde 2020 von der LMU als Dissertation angenommen und von den Gutachtern Friedrich Vollhardt und Gerhard Lauer mit der Bestnote bewertet. Das unter dem Motto von Butterfields alter Warnung vor „whig interpretations of history“ stehende Vorhaben wird angekündigt als „neues Kapitel der Eichendorff-Forschung“, das die „letzten gut hundert Jahre[] Forschungsgeschichte“ durch „konsequente Historisierung“ des Eichendorffschen Werks hinter sich lässt (S. 9) und das „Spätwerk[] im Horizont seines historisch-politischen Kontextes“ „erstmalig“ erschließt (S. 20). Erklärte Zielscheiben sind „die uralte Legende von der historisch-politischen Referenzlosigkeit des Eichendorffschen Werks“, „werkimmanente[] Interpretation[en]“, das „autonomieästhetische[] Eichendorff-Bild“, die „unhinterfragte Grundannahme“ eines „‚christkatholische[n] Dichtungsverständnis[ses]‘ des Autors“ (S. 20).

Die Agenda ist allerdings selbst in der vom Verfasser mit einem Missbilligungs-Ostinato apodiktisch gescholtenen Eichendorff-Forschung alles andere als neu, denn das interdisziplinäre, geschichtswissenschaftlich-germanistische Terrain wurde bereits durch zeitgenössische Rezensionen und literarhistorische Arbeiten etwa von Frühwald, Pörnbacher, Möbus, Stutzer, Riemen, von Steinsdorff, Hollender, Schiwy, Klausnitzer, Pornschlegel und Regener abgesteckt.

Diese Tatsache dann doch konzedierend (S. 34), beschränkt Nikolas van Essenberg seine Ziele auf eine Ausdifferenzierung und methodische Aktualisierung der in den 80er-Jahren insbesondere von Wolfgang Frühwald vorgezeichneten Wege. Gebahnt finden sich diese Wege in den folgenden Texten Frühwalds: Die Wallfahrt nach Trier. Zur historischen Einordnung einer Streitschrift von Joseph Görres; Der Regierungsrat Joseph von Eichendorff, Nachwort zu Eichendorffs Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands; Anfänge der Katholischen Bewegung. Dem Verfasser der vorliegenden Monografie geht es nun um

1) eine Erklärung, „inwiefern Eichendorff sowohl von Denkern der ‚politischen Romantik′ wie der Preußischen Reformära geprägt sein konnte“,

2) das mit dem Dienstverhältnis zwischen dem protestantisch-hegelianischen Oberpräsidenten Theodor von Schön und dem katholischen Regierungsrat Eichendorff gegebene „konfessionspolitische Problemfeld“,

3) die Freilegung der „nationalpolitischen Aspekte innerhalb des Eichendorffschen politischen Denkens und Wirkens“,

4) eine Werkperiodisierung, die diesen Einsichten gerecht wird (S. 40–43).

Dafür erschließt van Essenberg in einem ersten Teil (A.) die „Diskursrahmen der vormärzlichen Romantikkritik“: von den politischen Ambitionen Preußens bei den Projekten des Kölner Dombaus (1842) und der Wiederherstellung der Marienburg (1843), über die schrittweise Zurücknahme der Partizipationsoptionen des gebildeten Beamtentums an national gedachten Reformprojekten und schließlichen Profilierungen im Laufe der Eichendorffschen Dienstjahre, die vielfach und insgesamt enttäuschten Erwartungen an den „Romantiker auf dem Throne“ Wilhelm IV. sowie die Intentionen der Wallfahrt nach Trier und der sogenannten Katholischen Bewegung im Verhältnis zum preußischen Protestantismus und zum Deutschkatholizismus. Berücksichtigt, aber im Literaturverzeichnis nicht eigens aufgeschlüsselt, werden hier Eichendorffs amtliche und historisch-politische Schiften.

Der zweite Teil der Arbeit (B.) widmet sich dem „Spätwerk“ (1846–1857) und seinen engeren und weiteren Kontexten. Hier werden unter dem Titel „Revolutionsdeutungen“ der Gedichtzyklus 1848 und das Libertas-Märchen, unter dem Titel „Das Ringen um die Identität der deutschen Kulturnation“ die literarhistorischen Schriften und – als „literarisches Gravitationszentrum des Spätwerks“ (S. 518) – die drei Versepen Eichendorffs beleuchtet.

Dritter und vierter Teil (C. und D.) fallen mit je fünf Seiten kurz aus und enthalten Vorschläge zur Periodisierung des Eichendorffschen Werks und Einsichten in die „gelebte[] Toleranz im Verhältnis [Eichendorffs] zu Theodor von Schön“, von denen man sich mehr Effekt auf den kollegialen Umgangston des Verfassers gewünscht hätte. Die hier gegebene Übersicht über die Gegenstandsbereiche der Studie glättet die tatsächlich vorhandenen Sprünge, Re- und Exkurse in Gliederung, Argumentationsverlauf, ausuferndem Satzbau und Jargon.

Inhaltlich fördert van Essenberg einiges zu Tage: den doppelten, königskritischen Boden der Eichendorffschen Geschichte der Wiederherstellung der Marienburg (S. 66), die nationale Grundierung der 1846/47 in Wien erlebten Huldigung Eichendorffs (S. 247f.), so manche terminologische und gedankliche Kongruenzen zwischen Eichendorffs literarhistorischen Bewertungen und anderen Beiträgen zu den Historisch-politischen Blättern (S. 295 u. ö.), die Hintergründe der deutschen Shakepearevereinnahmung (S. 412ff.) sowie die – einem bereits von Pornschlegel aufgenommenen Hinweis Gottschalls auf David Friedrich Strauß‘ Julian-Schrift folgende – Lektüre des Eichendorffschen Versepos als Inszenierung des antinapoleonischen Widerstands und „Negativ-Szenario für eine säkulare Restitution des deutschen Reiches“ (S. 479ff., 519–561).

Anderes – vor allem die exzessiven und z.T. mehrmaligen Erläuterungen politischer Konstellationen (und ihrer Verkennungen) – hätte durch Verweise auf die einschlägigen Quellen deutlich schlanker und wissenschaftsadäquater vermittelt werden können, womit die Reihe der Kritikpunkte eröffnet wäre: So finden sich wiederholte Erklärungen, dass Meinecke Verfasser einer „preußisch-deutschen Meistererzählung“ sei (S. 17+321, 359, 392), dass das Eiserne Kreuz 1813 aus dem Deutschordenskreuz hervorgegangen sei (S. 78+465, 496), dass Eichendorffs Hoffnung auf ein Reformbeamtentum am Berliner „realpolitisch-gouvernementalen Beamtenkonservativismus“ gescheitert sei (S. 126+135, 145, 296, 464), dass Kleist „als Extrembeispiel einer Fehlentwicklung firmiert“ (S. 206+225), dass Schlegel die Erhebung 1809 von Wien aus vorbereitet habe (S. 211+215, 224, 228), dass Eichendorff bei Carl Ernst Jarcke Friedrich Hurter und Joseph von Führich getroffen habe (S. 232+239), dass Eichendorff im Dezember 1847 nach Berlin und von dort auf der Flucht vor den Barrikadenkämpfen nach Dresden gezogen sei (S. 233+256, 315, 322), dass Das merkwürdige Jahr 1848 der Titel eines Bilderbogens sei (S. 294+264), dass Marx die Bonapartismus-These durch die Analyse des Staatsstreiches Napoleons III. begründet habe (S. 294, 398), neben unauffälligeren Rekapitulationen.

Die Fehlerfrequenz auf der orthografisch-syntaktischen Skala (S. 124, 134, 183, 186, 213, 264, 321, 327, 333, 343, 348, 422, 479, 529, 531, 613, 629) mag angesichts des Buchumfangs im tolerablen Bereich liegen – der Umgang mit Zitaten aber bewegt sich zu oft an den Grenzen guter wissenschaftlicher Praxis und lässt auch Zweifel an den beteiligten akademischen Kontrollinstanzen aufkommen: nicht oder nur über Sekundärquellen nachgewiesene Zitate (S. 200, 206, 294, 299, 381, 422), Zitierfehler auch bei Titelangaben (S. 203, 211, 206, 228, 232, 258, 295, 305, 350, 357, 370, 380, 535), überbordende Zitiermasse (S. 330–350: Libertas komplett inkorporiert, Zitatwiederholungen (S. 276+491, 357+370, 329+473), Recycling des eigenen Beitrags „Zu Ringen um das Reich“ (S. 375–376, 393, 529-531, 538–560).

Zu den hiermit indizierten Unzuverlässigkeiten müssen leider Fehlinformationen und Spekulationen addiert werden. Dies ist besonders dort der Fall, wo der Verfasser historisch den anvisierten Untersuchungszeitraum verlässt.

Signifikant hierfür sind die Erläuterungen zum Kontext der Befreiungskriege: Unter dem Gesichtspunkt der preußischen Reformen (S. 91) verfehlen sie das Räderwerk der Mobilmachung und die protestantisch-christliche Grundierung der Kriegsethik. Die angenommene Prägung Eichendorffs durch die Studentenbewegung (S. 169) ist ein Anachronismus. Die Rolle des Lützowschen Korps wird überbewertet und dass es „von Protestanten wie Arndt und Jahn geführt […]“ wurde (S. 197), stimmt so nicht: Führer war Lützow, Arndt saß als Sekretär des Freiherrn vom Stein in Petersburg, um patriotische Schriften zu verfassen, Jahn war nur zeitweise als Anführer eines Bataillons eingesetzt. Die Informationen zur Beteiligung Veits an den Befreiungskriegen sind zur Zusammenfassung der tatsächlichen Verhältnisse ungeeignet (S. 445f., s. Eichendorffs Brief an Loeben vom 8. April 1814). Kleist wird ausschließlich durch Eichendorffs literarhistorische Brille betrachtet (S. 226, 231, 387, 554f.), Verweise auf seine radikal-agitatorischen Texte Katechismus der Deutschen und Germania an ihre Kinder wären in einer geschichtsbewussten Arbeit erwartbar. Die behauptete Forschungslücke zum „erinnerungspolitischen Komplex der Befreiungskriege“ (S. 214) wurde von der Rezensentin bearbeitet (Regener: „Mancher mußte da hinunter“. Facetten der Opferschaft in der deutschen Befreiungskriegslyrik).

Die Diagnose, dass die „mannigfachen ideologischen Verwicklungen in der Rezeption des Eichendorffschen Werks […] ihren Ausgang von den historischen Entstehungs-, Problem- und Rezeptionshorizonten [der] späten Schriften“ Eichendorffs nähmen (S. 34), greift zu kurz, denn die Rezeptionsgeschichte beginnt früher und entwickelt von dort ihre Linien.

Widersprüchlich ist die Positionierung zu Eichendorffs Rezeption und Bewertung der frühromantischen staatstheoretischen Entwürfe Schlegels, Novalis, von Müllers – sie schwankt zwischen unerheblich (vgl. S. 120, 151, 393, wo sie nicht in die Quellenstudien einbezogen werden) und „gewichtig“ (S.  186, 375–377).

Zu den Facetten und Reformen des Katholischen in den 30er- und 40er-Jahren wäre endlich historisch mehr beizubringen gewesen als die bekannten Daten zu den Kölner Wirren, zur Trierer Wallfahrt, zum Deutschkatholizismus und zum EOS-Kreis – etwa eigene Forschungen zu Eichendorffs Dienstaufgaben im Zuge der Neuordnung von kirchlichen Gebieten und Strukturen, seinen wechselnden Gemeindemitgliedschaften usw.

Vor allem wird in zu vielen Fällen die Rechnung ohne die Historisch-kritischen Eichendorff-Ausgabe und ohne einschlägige Forschungsbeiträge gemacht (S. 50, 58, 295). Die Hypothesen zur Überlieferung der Schrift Über die Folgen der Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und Klöster in Deutschland (S. 198f.) sind das Ergebnis einer zu flüchtigen Lektüre der vom Verfasser mehrfach geschmähten HKA-Edition. Eine Autopsie des zugrundeliegenden Autographen FDH 29314 oder das Studium der Editionsrichtlinien des betreffenden Bandes (HKA X/2) hätte ergeben, dass Eichendorff seine Korrekturen und Ergänzungen in die gebundene zweispaltig angelegte Examensarbeit von 1816 nach der Wallfahrt nach Trier im Oktober 1844 mit anderer Feder, Tinte und Schrift eingetragen hat. Der Einbezug der HKA-Kommentare zu Die Mahnung (HKA I/1 336), Die Engel vom Kölner Dom (HKA I/3 284), An die Lützowschen Jäger (HKA I/1 180) zum 1848er-Zyklus (HKA I/3, 7–12) und eines Forschungsbeitrags, der die politische Kodierung des Waldgespräch[s] und die Bezugnahme Eichendorffs auf Wilhelm IV. thematisiert (Regener: Eichendorffs Rhizome. Romanzen eines ‚letzten Romantikers‘), würde die kolportierte Forschungsignoranz widerlegen. Als einzige Belege für die These vom „zunehmend geistlichen Grundzug der letzten Lebensjahre“ (S. 610) werden die aus Hermann von Eichendoffs Gedichtausgabe stammende geglättete Textversion und die falsche Datierung des Sonetts Mahnung auf 1856 (statt richtig 1843) mitsamt der Bewertung „das letzte sicher datierbare Gedicht“ ungeprüft aus der Klassikerausgabe übernommen. Auch die Ausführungen zu den autobiographischen Schriften (S. 611ff.) kommen ohne Bezug zur aktuellsten Edition aus (HKA V/4, 1998).

Zum Teil irreführend und den Titel „Neuperiodisierung“ nicht rechtfertigend sind schließlich die Erläuterungen zu Eichendorffs Werkphasen. Sie verkennen, dass die ästhetizistische Phase mit der Studienzeit in Heidelberg zusammenfällt, dass in Eichendorffs Œuvre poetische, zeitkritische und geistliche Entwürfe nebeneinander existieren, und weichen darüber hinaus kaum von Frühwalds Nachwort-Aufschlag ab.

Obwohl van Essenberg stereotypen Zuschreibungen und werkimmanenten Interpretationen den Kampf ansagt, sind seine Einlassungen nicht frei von Verallgemeinerungen zum „Formelstil“, zum „Volksliedton“ und zur religiös aufgeladenen Bildsprache (S. 34, 347, 458, 460f., 466, 493, 625). Ebenso finden sich Hypostasierungen des Eichendorffschen Charakters (S. 107), der „Gesinnungsgemeinschaft“ zwischen von Schön und Eichendorff (S. 492), des „marianischen Schluss[es] im Marmorbild“ oder kleben geradezu am Eichendorffschen Wortlaut (Libertas, S. 330–350, literaturgeschichtliche Beiträge, S. 369–372, 378–393).

In Bezug auf die den Verfasser leitende Hypothese einer seit den Befreiungskriegen „unterlegten“ oder „überwölbenden“ politischen Dimension von Eichendorffs Dichtung ist Folgendes zu bedenken:

Eichendoff war berufsbedingt ein politisch informierter und denkender Zeitgenosse. Es ist also – das zeigt auch die vorliegende Dissertation – der Mühen wert, die Kontexte und Aussagen seiner amtlichen Auftragsarbeiten auf das im engeren Sinn literarische Werk und seine literarhistorischen Schriften zu beziehen. Allerdings käme es dabei entscheidend darauf an, die disziplinären Forschungsstände und methodischen Rahmen, mit und in denen man sich jeweils bewegt, genau zu kennen und die Grenzen auch der eigenen Herangehensweise kritisch zu reflektieren.

Rezension verfasst von Ursula Regener

Anmerkung der Redaktion: Aus Anlass der publizierten Dissertationsschrift sowie der Rezension formuliert Ludwig Stockinger einige Überlegungen zum Spätwerk Eichendorffs, die Sie hier finden.

Romantik im Spannungsfeld von Konfessionalisierung und Nationalisierung