Sebastian Lübcke und Johann Thun (Hgg.)

Romantik und Surrealismus

Eine Wahlverwandtschaft?

Peter Lang 2018

Der von Sebastian Lübcke und Johann Thun herausgegebene Band setzt sich zum Ziel, den in der Vergangenheit vielfach behaupteten, in einer systematischen Untersuchung jedoch nach wie vor ausstehenden Konnex zwischen Romantik und Surrealismus zu bestimmen. Dies geschieht mit Rekurs auf die Verhältnisbestimmung der ‚Wahlverwandtschaft‘, die jenseits „kausalgeschichtliche[r] Einflussnarrative[...]“ verortet wird. Die Beiträge des Bandes beabsichtigen zum einen, die mit Maurice Nadeaus Histoire du Surréalisme 1945 ansetzenden Studien zum Verhältnis von Surrealismus und deutscher Romantik zu komplementieren. Zum anderen konzentrieren sie sich darauf, an jenes Forschungsfeld der Kulturwissenschaften anzuknüpfen, das das Paradigma der Ähnlichkeit in den Blick nimmt – zu denken wäre hier etwa an den von Anil Bhatti und Dorothee Kimmich herausgegebenen Sammelband Ähnlichkeiten. Ein kulturtheoretisches Paradigma.

Michael Löwy beschreibt mit dem Begriff der ‚Wahlverwandtschaft‘ eine wechselseitige Anziehungskraft, die von einer strukturellen Analogie zwischen zwei unterschiedlichen (Geistes-)Bewegungen ausgeht und diese in der Folge konvergieren oder gar miteinander fusionieren lässt. Dergestalt fungieren ‚wahlverwandtschaftliche‘ Verhältnisse als methodische Basis der in vier Themenblöcke unterteilten Bandbeiträge. Den Anfang machen dabei poetologische und produktionsästhetische Fragestellungen, darunter Florian Nickels exemplarische Untersuchung der Werke E.T.A. Hoffmanns und André Bretons in Hinblick auf deren Konzepte der Imagination. Ungeachtet dessen, dass sich keine direkte Rezeptionslinie von Hoffmann zu Breton nachzeichnen lässt, führt Nickel die ‚Wahlverwandtschaft‘ zwischen ihnen darauf zurück, dass die Imagination beiden nicht nur als diejenige Kraft dient, die den Geist zur literarischen Praxis antreibt, sondern auch, dass sie selbst als ein Gegenstand von Literatur figuriert. Ausgehend hiervon beleuchtet Nickel die spezifisch literarische Imagination in ihrer Funktion als „Möglichkeit einer Selbsterkenntnis“ (S. 34).

Um den Stellenwert von Imagination als produktionsästhetische Reflexion geht es auch im Beitrag von Hendrick Heimböckel, wobei nun seitens der Romantik auf Novalis und Schelling, seitens des Surrealismus neben Breton auch auf Louis Aragon geblickt wird. Mit Rekurs auf Die Manifeste des Surrealismus deutet Heimböckel die écriture automatique zunächst als ästhetische Praxis und Wirkung von dichterischer Selbstreflexion. Anschließend führt er mit Aragons surrealistischem Hauptwerk Le Paysan de Paris ein Beispiel „für die aphoristische wie auch transzendentalphilosophische Form d[ies]er Selbstreflexion“ (S. 41) an: Mittels eines „emphatischen Gebrauch[s] der phantastischen Einbildungskraft“ (ebd.) werde hier, so Heimböckel, moderne Großstadterfahrung ästhetischer (Trans-)Subjektivität poetisiert. In einer ideengeschichtlichen Perspektivierung des Sachverhalts erklärt der Autor die surrealistische Poetik der imagination mithin zu einer Konsequenz der im ausgehenden 18. Jahrhundert vollzogenen Herausbildung von Einbildungskraft als Paradigma „anthropologische[r] Produktivkraft“ (S. 54).

Abgeschlossen wird dieser erste und zugleich umfangreichste Themenblock mit den Beiträgen Karina Schullers und Isabelle Ferrons. Sie setzen sich mit Ähnlichkeiten von Funktion und Bedeutung des Somnambulismus (Schuller) und des Traums (Ferron) in Romantik und Surrealismus auseinander. Während Schuller das ‚wahlverwandtschaftliche‘ Verhältnis auf die „Erkenntnismöglichkeit einer eigentlich transzendenten Welt“ (S. 67) via surrealistischer écriture automatique und romantischem Traumdiskurs zurückführt, erinnert Ferron daran, dass der Traum im Surrealismus als „nicht weniger real als die Realität“ (S. 77) selbst gelte, was ihn in seiner Funktion als Erkenntnisweg von vornherein disqualifiziere. Vor diesem Hintergrund verweist Ferron auf eine romantische Haltung der Surrealisten gegenüber dem Traum, die primär darin besteht, letzteren als einen Gegenstand von Wirklichkeitsdarstellung selbst ernst zu nehmen. Ob der Surrealismus angesichts dessen tatsächlich als eine „Anthropolitik“ (S. 83) definiert werden kann, die Motive und Paradigmen des romantischen Traums dem eigenen geschichtlichen und zeitlichen Kontext dynamisch anzupassen versucht, sei an dieser Stelle dahingestellt.

Als zweitem Thema wendet sich der Band subjekttheoretischen und transsubjekttheoretischen Fragestellungen zu. Joris Löschburg verfolgt mit seinem Beitrag das Ziel, Analogien zwischen Darstellungsweisen der Ich-Entgrenzung des Surrealismus und der transgressiven Ästhetik der Romantik aufzuzeigen. Hierbei korreliert das Romantische, so Löschburg, im Ausdruck „surrealistischer Entgrenzungslust“, deren Motive, dem romantischen Beispiel folgend, erneut als das Resultat „aus einer komplexen Gemengelage heterogener Modernisierungstendenzen“ (S. 102) begriffen werden können. Auch Sebastian Lübcke untersucht romantische und surrealistische Subjektkulturen, die er als Modelle der „Offenheit zwischen Entpragmatisierung, Zufall und Anarchie“ (S. 107) versteht. Letztere werden von Lübcke als jene Modi begriffen, die die utilitaristische Welt- und Werteordnung für eine ‚andere‘, romantische und surrealistische, Dimension öffnen, und zwar, indem sie sie poetisieren. Diesen der Romantik und dem Surrealismus eignenden Welt-Poetisierungsprozess holt Sandra Markiewicz buchstäblich auf den Boden der Tatsachen zurück: Zum einen verortet sie ihn im Kontext einer beiden Bewegungen ‚wahlverwandten‘ Weltbegehung, die zum anderen als eine romantisch-surrealistische Suche nach dem (‚alltäglich‘) Wunderbaren konkretisiert wird. Als besonders aufschlussreich erweist sich hierbei der topografisch-motivische „Vergleich von Traumgrotte [Romantik] und städtischer Grotte [Surrealismus]“ (S. 126) als „liminale Orte [...] der Erkenntnis“ (S. 139).

Einen weiteren Themenbereich des Bandes eröffnet der Beitrag von Johann Thun, in dem angesichts der „zahlreichen kulturgeschichtlichen Analogien zwischen zwei Bewegungen [...], die ihre jeweilige Gegenwart als Krisenzeit empfunden [...] haben“ (S. 147), die Stiftung einer ‚neuen‘ (romantischen) bzw. ‚modernen‘ (surrealistischen) Mythologie als „die Stiftung einer neuen Gemeinschaft“ (S. 154) in Erscheinung tritt: Überzeugend lässt Thun hierfür gemeinschaftsstiftende Schreibtechniken der Romantiker und Surrealisten in die Gemeinschaftsvisionen Georges Batailles münden, und zwar als Möglichkeit einer zukünftigen Gemeinschaft vor der Folie einer absoluten Bejahung der mythologischen Leerstelle in der Moderne. Hingegen bestimmt Marc Emmerich das ‚wahlverwandtschaftliche‘ Verhältnis zwischen den politischen Ansprüchen der Romantiker und jener der Surrealisten über Jacques Rancières Begriff des ‚Unvernehmens‘ und die daran gekoppelte „Idee, durch beliebige Abweichungen, Unterbrechungen etc. in die Aufteilung des Sinnlichen zu intervenieren und damit eine verborgene Wahrheit erfahrbar zu machen“ (S. 182).

Weitere Beiträge variieren hinsichtlich ihrer Themen: Während Sara Bangert in der Ästhetik des Unähnlich-Ähnlichen selbst eine ‚wahlverwandtschaftliche‘ Ähnlichkeitsrelation zwischen Romantik und Surrealismus erkennt, untersuchen Eric Gondard und Susanna Werger die Ähnlichkeiten von Darstellungsweisen der sowohl bei den Romantikern als auch Surrealisten per se ambivalenten Erfahrungen im Zusammenhang mit Drogen bzw. Rauschmitteln. Was aus der soziologischen Perspektive Gondards primär dazu dient, zu erläutern, warum Löwys Begriff der ‚Wahlverwandtschaft‘ sich noch immer nicht innerhalb des soziologischen Fachdiskurses in Frankreich etabliert hat, wird von Werger in einer Art Geschichte der „esthétique du délire toxique“ (S. 217) besprochen: Der Autorin nach beginnt diese bei der deutschen Frühromantik und kulminiert in surrealistischen Darstellungsweisen der „illumination profane“ (S. 223).

Insgesamt stellt der hier besprochene Band einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen Surrealismus und Romantik dar: Mithilfe exemplarischer und weitgehend gelungener Analysen werden kausalhistorisch latente Verbindungen zwischen Werken und Haltungen beider Bewegungen aufgedeckt und ‚Wahlverwandtschaften‘ hergestellt.

Rezension verfasst von: Maria Safenreiter

Romantik und Surrealismus