Kaltërina Latifi (in Verbindung mit Philipp Hubmann und Alexander Knopf)

Serapion

Zweijahresschrift für europäische Romantik

Universitätsverlag Winter 2020

Das literaturwissenschaftliche Interesse an der Romantik ist nach wie vor ungebrochen, was sich nicht zuletzt in der Vielzahl an Jahrbüchern spiegelt, die der Literatur der Romantik und einzelnen ihrer Protagonisten gewidmet sind. Neben dem Athenäum – Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft, dem unregelmäßig erscheinenden Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik und dem E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch, herausgegeben von der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft, liegt seit 2020 mit Serapion. Zweijahresschrift für europäische Romantik ein weiteres periodisches Publikationsorgan vor, das der Erforschung von Literatur, Philosophie und Kunst der Romantik gewidmet ist. Die Herausgeberin der neuen Zweijahresschrift, Kaltërina Latifi, bis 2018 Herausgeberin des E.T.A. Hoffmann-Jahrbuchs, ist mit der Romantikforschung bestens vertraut. Mit der europäischen Ausrichtung beschreitet das neue Periodikum gegenüber den anderen Zeitschriften einen dezidiert komparatistischen Weg, der die Literatur der Romantik als europäisches Phänomen und im europäischen Kontext betrachtet. Mit diesem Ansatz verorten sich die Herausgeber:innen in einer Forschungsperspektive auf die Romantik, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. So sind in den vergangenen Jahren eine Reihe bedeutender Publikationen zu Literatur und Kunst der Romantik erschienen, die dezidiert den europäischen Fokus im Titel tragen. Mit der seit 2010 an der Universität Jena bestehenden Forschungsstelle Europäische Romantik, die aus dem DFG- Sonderforschungsbereich 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ hervorgegangen ist, hat die interdisziplinäre und komparatistische Romantikforschung einen dauerhaften institutionellen Rahmen erhalten.

In dem einleitenden Beitrag unter dem Titel „Serapiontik: eine Grundlegung“ skizziert Kaltërina Latifi Ausrichtung und Anspruch des neuen Periodikums. Die Serapiontik verstehen die Herausgeber:innen dabei ausgehend vom Erzählverfahren der Hoffmann’schen Serapions-Brüder als „Strukturfigur“, die eine Erzählform beschreibt, die narrative mit diskursiven Elementen verbindendet und als „fortdauernde[s] romantische[s] Narrativ“ (S. 7) ein „offenes, also nicht abschließbares Projekt“ (S. 8) darstellt, das in europäischer und transeuropäischer, interdisziplinärer und intermedialer Perspektive betrachtet werden soll. „Wir verstehen die Serapiontik, wie sie sich aus den Serapions-Brüdern Hoffmanns ergibt, als ein Modell für die fächerartige Ausfaltung eines Panoramas romantischer Motive, deren Bedeutung bis in die Moderne und die Gegenwart greifbar bleibt“ (S. 19), heißt es programmatisch über den Skopus des Journals. Der zugrunde gelegte Romantikbegriff ist damit doppelt konnotiert und verweist sowohl auf eine um 1800 einsetzende Epoche als auch auf ein ästhetisches Formprinzip, das als transepochales Modell in je neuen Ausprägungen in den Künsten immer wieder wirksam wird.

Diese doppelte Ausrichtung auf eine historische Epoche im engeren Sinn und deren Nachwirkungen in der Literatur der Moderne und der Gegenwart sowie auf Erzählverfahren und theoretische Diskurse bilden die Beiträge des ersten Jahrgangs in intermedialen, interdisziplinären und epochenübergreifenden Studien sehr gut ab.

Den Auftakt bildet ein Beitrag von Silvio Vietta, der die Bedeutung von Novalis’ ästhetischer Theoriebildung und E.T.A. Hoffmanns erzähltechnischen Innovationen im Sinne des Grundkonzepts des neuen Periodikums exemplarisch herausarbeitet. Dabei lässt er jedoch Hinweise auf neuere, wegweisende Forschung vermissen, etwa auf Ralf Simons Beschreibung der Hoffmann’schen Erzähltechnik als Ikononarration oder auf die Phantastikforschung.

Einen ersten Höhepunkt des Bandes bildet der umfangreiche Beitrag von Rüdiger Görner, der die romantische Ästhetik und Theoriebildung als eine die binäre Logik der Dialektik sprengende ‚Plurilektik‘ begreift. Dabei misst er der Gattung des Gesprächs als einer Form am Übergang zwischen dialektischer und plurilektischer Ordnung besondere Bedeutung bei.

Stephanie Großmann untersucht am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Ritter Gluck Erzählverfahren, die die Simultaneität musikalischer Formen in der sprachlichen Narration nachbilden. Dabei argumentiert sie zeichentheoretisch und rekonstruiert sowohl die Adaption der Sonatensatzform in Hoffmanns Erzählung als auch die Simulation musikalischer Gleichzeitigkeit auf der Mikroebene des Textes durch Adaption semantisch besetzter Zahlencodes. Der Aufsatz argumentiert allerdings ganz auf der Ebene des geschriebenen Textes und lässt somit die klangliche Qualität der Sprache, die den Text musikalischen Strukturen anzunähern vermag, gänzlich unberücksichtigt.

An bestimmten Gattungen oder Schreibverfahren sind auch die Beiträge von María Verónica Galfione und Alexander Knopf interessiert. María Verónica Galfione rekonstruiert Friedrich Schlegels Konzept der Polemik in Abgrenzung zu Kants negativ konnotiertem Polemikbegriff und bestimmt die Polemik im Schlegel’schen Sinn als eine Schreibform, die es vermag, ihre eigene Kritik zu integrieren und somit dem selbstreflexiven Ideal einer Kritik zweiter Ordnung zu entsprechen. Leider fehlen bei vielen der Aussagen Verweise auf Belegstellen aus Schlegels Werk oder aus der Forschung, so dass die Argumentation des Beitrags recht apodiktisch wirkt.

Der Gattung der Farce ist der Beitrag von Alexander Knopf gewidmet, der deren Begriffserweiterung durch Schiller und die Romantiker aufzeigt und davon ausgehend die Farce als eine Gattung vorstellt, die das Schlegel’sche Konzept der Ironie radikalisiert, indem die „romantische Entwertung der Wirklichkeit“ auf „die Entwertung der Kunst“ hin erweitert würde (S. 136).

Eine dezidiert komparatistisch-rezeptionstheoretische Ausrichtung hat der Beitrag von Stephanie Dumke und Nicholas Halmi, die den Einfluss der Shakespeare-Interpretation des in England bedeutenderen Schlegel-Bruders August Wilhelm auf die englische Romantik untersuchen und dabei die Rolle von De Staëls Schrift De l’Allemagne als zwischengeschaltete französische Vermittlungsinstanz rekonstruieren.

Der Adaption und Kritik romantischer Topoi, Denkfiguren und Schreibweisen in der Literatur der Moderne sind mit sechs Beiträgen mehr als die Hälfte der Aufsätze des Bandes gewidmet.

Intermedial sind die Beiträge von Barbara Naumann und Patrick Chester ausgerichtet. Während Barbara Naumann aufzeigt, wie in Viktor Hugos Zeichnungen zur Rheinreise eine romantisch-prozessuale Ästhetik der Anschauung wirksam wird, liest Patrick Chester Kleists und William Turners Bearbeitungen des Erdbebens von Lissabon als „lidless perspectivism“ und als Vorläufer des Perspektivismus, wie ihn Kierkegaard und Nietzsche entfalten. Der umfangreiche Beitrag Chesters, der in historisch beachtlicher Breite die Entwicklung vom frühen 18. bis ins 20. Jahrhundert nachzuzeichnen versucht, entwickelt seine Argumente jedoch nahezu ausschließlich aus der Forschung, kaum aus den Quellen.

Die Beiträge von Wolfgang Müller-Funk und Birgit Nübel widmen sich der kritischen Romantik-Rezeption bei zwei bedeutenden Vertretern der österreichischen Moderne. In einer umfassenden Broch-Lektüre ordnet Wolfgang Müller-Funk Hermann Brochs Nachdenken über die Romantik zunächst in einen in der österreichischen Literatur der Moderne wiederkehrenden „Vorbehalt gegenüber der Romantik“ ein, um daraufhin Brochs „mehrfach kodierte Verwendung des Begriffs ‚Romantik‘“ (S. 225) herauszuarbeiten, der sowohl als weitgefasster Epochenbegriff als auch als überzeitlicher Begriff verwendet wird. Dabei zielt Brochs Kritik an der Romantik auf Phänomene der dekorativen Überdeckung eines Wertevakuums und einer verlorenen kulturellen Einheit, deren inhärente romantische Prämissen Müller-Funk offenlegt. Birgit Nübel zeigt die veränderte Romantik-Rezeption in der Poetik Musils ausgehend von seiner durch die Schriften Ricarda Huchs vermittelten Novalis-Lektüre im Frühwerk bis hin zu seiner späteren Romantik-Kritik auf und schließt mit der gegen prominente Forschungspositionen gerichteten Beobachtung, dass Musil „die ästhetischen und politischen (Post-)Romantiken seiner Zeit“ kritisiere (S. 255).

Paul Hamilton diskutiert ausgehend von Rilkes Übersetzung des Leopardi-Gedichts L’infinito dessen Position zwischen Neo-Klassizismus und Neo-Romantik und entfaltet in Abgrenzung zu Paul de Mans Rilke-Lektüre eine auf Johann Georg Hamann rekurrierende Skizze der Rilke’schen Sprachtheorie.

Es ist gerade die theoretische Konturierung des Romantikbegriffs als einer narrativ-diskursiven Strukturfigur in Anlehnung an die Serapiontik, die in Kombination mit einer epochenübergreifenden Perspektive auf romantische Topoi in Literatur, Philosophie und Kunst das Innovationspotential der neuen Zweijahresschrift für europäische Romantik ausmacht. Hier eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten eines Nachdenkens über Romantik, die sich anschlussfähig erweisen für ästhetische, gattungstypologische und literaturtheoretische Fragestellungen. Damit greift das neue Periodikum jüngere Forschungsansätze auf und weist einer Romantikforschung den Weg, ihren Gegenstand ausgehend von der historischen Epoche als einen systematischen Begriff innerhalb der Literaturwissenschaften zu etablieren, mit dem sich bestimmte, bis in die Gegenwart hinein wirksame Schreibweisen, Denkfiguren und Poetologien beschreiben lassen.

Rezension verfasst von: Yvonne Al-Taie

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