Michael Schwingenschlögl

Subjektivität zwischen Zerfall, Willensfreiheit und Religion

Untersuchungen zur Verhältnisbestimmung von Einheit und Mannigfaltigkeit in der literarischen Romantik

Ferdinand Schöningh 2019

In seiner 2019 publizierten Dissertationsschrift widmet sich Michael Schwingenschlögl einem ehrgeizigen Forschungsprojekt. Während zeitgenössisch die Romantikforschung zu einem großen Teil aus Einzelstudien besteht, wagt er einen programmatischen Rundumschlag und fragt nach dem Zusammenhang der Romantik als literarischer Strömung. Zu diesem Zweck arbeitet Schwingenschlögl mit der Hypothese, für die Romantik sei als Strukturmerkmal eine Einheit in der Vielheit sowie eine Vielheit in der Einheit wesentlich. Schon der philosophische Idealismus erklärt Einheit zum entscheidenden Element der Wirklichkeitsbetrachtung, in der Romantik, so Schwingenschlögl, finde eine Verlagerung dieser Einheit in die Literatur statt. Dies artikuliere sich insbesondere in der literarischen Darbietung einer allgemeinen Sinnkonstruktion bei gleichzeitigem Festhalten am freien Willen der dargestellten Subjekte.

Der traditionellen Periodisierung (Frühromantik, Hochromantik, Spätromantik) entspricht die Gliederung des immerhin knapp 800 Seiten umfassenden Werks, das sich vornehmlich kanonischen Texten der Romantik widmet. Als konstituierendes Moment des von ihm attestierten Strukturmerkmals der Einheit in der Vielheit und der Vielheit in der Einheit macht Schwingenschlögl die idealistische Philosophie Johann Gottlieb Fichtes aus (vgl. S. 21.) und betont, wie prägend die Auseinandersetzungen innerhalb der Philosophie für die literarische Produktion romantischer Autoren waren. Insbesondere Fichtes Gedanken des in „intellektueller Anschauung“ zugänglichen unmittelbaren Selbstbewusstseins ist es, auf den Schwingenschlögl hier besonders Wert legt. (vgl. S. 47) Er kündigt daher an, zu jedem Zeitpunkt seiner literaturwissenschaftlichen Untersuchung den Blick auf die philosophischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge beizubehalten.

Die eigentliche Untersuchung beginnt dann mit Ludwig Tiecks Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“. Exemplarisch an Tieck und auch an Novalis „Hymnen an die Nacht“ und Friedrich Schlegels Zyklus „Abendröte“ belegt Schwingenschlögl eindrucksvoll, dass hier eine integrative Gestaltungsstrategie vorliegt, die trotz ihrer Mannigfaltigkeit eine vereinheitlichende Sinnkonzeption zum Kern hat. Hierbei bezieht er insbesondere im Hinblick auf Tiecks Roman innerhalb der Forschungslandschaft Stellung und konstatiert, dass es sich mit „Franz Sternbalds Wanderungen“ eben nicht um eine aus Einzelbestandteilen zusammengesetzte desintegrative Erzählung handelt, sondern durch Sternbalds Liebe zur Kunst und zu Marie vielmehr eine integrative, vereinheitlichende Struktur zu erkennen ist. (S. 100) Ähnliches gilt es nach Schwingenschlögl auch für Novalis „Hymnen an die Nacht“ zu sagen. Hier äußere sich das integrative Element in Form eines nach innen-schauenden Subjekts, das als einheitliche Grundlage einer Mannigfaltigkeit von Schilderungen dient. Dieses Subjekt stehe noch ganz unter dem Eindruck der Wissenschaftslehre, da hier, so Schwingenschlögl, das „zerfallene Absolute“ durch die Einbildungskraft synthetisiert werde. (vgl. S. 139) Ähnliche Verfahren attestiert Schwingenschlögl im Folgenden auch Hölderlin, den er vor dem Hintergrund seiner Hypothese als Romantiker bestimmt.

Die von Achim von Arnim und Clemens Brentano zusammengestellte Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ gilt Schwingenschlögl als weiterer Beleg für seine Annahme. (vgl. S. 314) Anhand von vier Gedichten aus dem Wunderhorn stellt er fest, dass die Transformation, die jene Zeilen mit ihrer Aufnahme in die Sammlung erfahren haben, vor dem Hintergrund einer einheitlichen Sinnkonzeption, einer Integration stünden. Er macht deutlich wie stark Brentano und Arnim den aufgenommenen Text hinsichtlich einer Vereinheitlichung umgeformt haben. Schwingenschlögl betont hierbei, dass es sich nicht um eine bloße „Restauration“ der Texte handele, sondern dass hier in einem produktiv kreativen Prozess „genuin romantische Gedichte, d. h. konsistent integrierte Produkte geschaffen“ wurden (S. 332). Bereits hier wird eine Verschiebung deutlich, die nach der Plausibilität von Schwingenschlögls These fragen lässt: Während sich das Prinzip der Einheit in der Frühromantik vor allem werkimmanent zeigt, findet es sich hier in der Schaffung eines Textkorpus. In Gestalt einer konkreten Aussage wiederum – nämlich der, dass beständige Liebe nur in ehelicher Form existieren könne – erscheint die Einheitsbildung in der Gräfin Dolores und wird hier, ähnlich wie in Sternbalds Wanderungen, an einem semantischen Konzept festgemacht. Die Einheit kann also in einem solchen ebenso liegen wie in einem Bearbeitungsprinzip oder der Perspektive eines lyrischen Subjekts.

In seiner Auseinandersetzung mit der Spätromantik scheint nun der literarische Befund nicht mehr reibungslos zur Hypothese zu passen: Zwar könnten auch in der spätromantischen Literatur viele Integrationspunkte identifiziert werden, jedoch, so Schwingenschlögl selbst, keine übergreifende Integration. Am Beispiel Wilhelm Müllers „Die schöne Müllerin“ kann dies weiter verdeutlicht werden: Dem Liederzyklus attestiert Schwingenschlögl eben solche Integrationspunkte. Kommt seine Analyse zu dem Schluss, dass auf der Ebene des Dargestellten weniger integrative, sondern deutlich mehr desintegrative Elemente auszumachen seien, erklärt er, die Integration vielmehr auf Ebene des lyrischen Sprechers zu suchen. Erst durch Prolog und Epilog jenes Sprechers würde die einheitliche Sinndimension des Zyklus deutlich. Diese Beobachtung erhält paradigmatischen Charakter. Noch stärker sind in Erzähltexten wie „Fräulein von Scuderi“ von E. T. A. Hoffmann oder auch in „Der Sandmann“ eindeutig desintegrative Elemente festzustellen, die eine ganz andere Konzeption von Einheit suggerieren, als dies noch etwa beim Frühromantiker Novalis der Fall war. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Schwingenschlögl in der Spätromantik zunehmend desintegrative Elemente feststellt, ohne jedoch seine Kernthese aufgeben zu wollen.

Insgesamt bietet Schwingenschlögl eine umfassende Analyse romantischer Literatur, die von innovativen Beobachtungen begleitet wird. Jedoch gilt es hinsichtlich seiner These zu fragen, ob es ihm nur deshalb gelingt, sie auf ein derart vielseitiges Feld von Literatur anzuwenden, weil er mit einem ausgesprochen weiten Begriff von Einheit bzw. Integration arbeitet. Es bleibt zu fragen, ob die Einheit in der Vielheit, die er den „Hymnen an die Nacht“ attestiert, dieselbe ist, die er später in der Hoch- oder Spätromantik feststellt. Inwiefern verhält sich diese Einheit zu einer Einheit im philosophischen Idealismus? Vor dem Hintergrund seiner „Annahme der Fundamentalität der Philosophie für die Konstitution einer kulturellen Erscheinung, wie die Literatur eine ist […]“ (S. 17) stellt sich die Frage, warum es außerhalb der Einleitung zu keiner Auseinandersetzung mit der Philosophie kommt. Die Geistes- und Philosophiegeschichte – die nach Schwingenschlögls eigener Ansicht eine große Prägekraft auf die Literatur entfaltet hatte – kommt bis auf kurze Ausführungen zu Fichte eindeutig zu kurz. Diesen Anfragen zum Trotz kann betont werden, dass das Werk aufgrund seiner präzisen Auseinandersetzung mit den Quellen einen wertvollen Diskussionsbeitrag – und als nichts anderes will sie verstanden werden – zur Romantik darstellt.

Rezension verfasst von: Matthis Glatzel

Subjektivität zwischen Zerfall, Willensfreiheit und Religion