Paul Hamilton (Hg.)

The Oxford Handbook of European Romanticism

Oxford University Press 2016

»Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge«, versuchte Novalis einst, das Wesen der Romantiker zu beschreiben. Ein Handbuch wie das vorliegende ist nun ein ganz und gar unromantisch’ Ding, viel zu dinghaft. Paul Hamilton, Professor für englische Literatur in London und Autor verschiedener Romantik-Studien wie zuletzt »Realpoetik: European Romanticism and Literary Politics« (2013), lässt sich auf solche philosophischen Untiefen oder Definitionsversuche indes gar nicht erst ein. Er gliedert die Aufsatzsammlung pragmatisch in zwei Teile: »Languages« (geographisch geordnet, 31 Texte) – in der Reihenfolge Frankreich (acht Texte), Deutschland (zehn Texte), Ungarn (ein Text), Italien (fünf Texte), Spanien (ein Text), Russland (drei Texte), Polen, Skandinavien und Griechenland (je ein Text) – und »Discourses« (disziplinär geordnet, zehn Texte). Da England kein Länderkapitel enthält, sucht das Handbuch die kontinentale Perspektive bewusst – wie Hamiltons knappe Einleitung kundgibt, gar als absichtsvolles Pendant zur boomenden, wenn auch hermetischen Forschungskonzentration auf den »British Romanticism« (S. 1). (Angesichts der aktuellen Austrittbemühungen aus der Europäischen Union mutet die Ausklammerung Englands aus einem mit »European Romanticism« betitelten Band zwar etwas merkwürdig an, das ist aber sicher unbeabsichtigt.) Statt des britischen Beitrags zur europäischen Romantik wird zumindest die europäisch-romantische »idea of Britain« (S. 807ff.) einbezogen. Ganz schlüssig ist die Entscheidung nicht.

Romantik versteht Hamilton als ein sich in Zentren, Regionen und Nationen, von einzelnen literarischen Akteuren getragenes Ereignis, das europäisch Wirkung zu entfalten und Diskurse anzuregen vermochte. Auf diese Weise umgeht das Handbuch eine utopische chronologische Gesamtperspektive ebenso wie die Differenzierung in einzelne romantische Genres (vgl. S. 2), um stattdessen interdisziplinäre und komparatistische Zugriffe zu erproben (S. 3f.). Dabei soll in den Diskurs-Kapiteln stets auf die geographischen Einzel-Kapitel reflektiert werden, um Adaptionen und Rezeptionen offenzulegen (S. 4–6). Entsprechend wird die europäische Romantik von Hamilton als omnidirektional ausgreifend, aber epochal begrenzt verstanden, da sie zwar auch nach den 1840er Jahren Anteil an einer (wie auch immer beschreibbaren) Moderne hatte, doch keine Kontinuität über die Jahrhundertmitte hinaus, geschweige denn bis heute ausprägte. Das hätte vielleicht den Rahmen gesprengt, nimmt dem Phänomen allerdings viel von seiner Aktualität, denn dass »das Romantische« mehr ist als nur ein zeitgeschichtliches Ereignis und bis heute immer wieder neuen Anverwandlungen unterliegt, wird mittlerweile in vielen Disziplinen fruchtbar diskutiert. Das Kompendium kommt daher – in guter Tradition der renommierten Oxford-Handbooks – recht altmodisch daher, retrospektiv-resümierend statt progressiv-vorausdenkend. Modische »turns« spielen hier ebenso wenig eine Rolle wie mediale oder performative Aspekte. Immerhin wendet es, was für dieses Format keineswegs selbstverständlich ist, den Blick mehrfach über den ehemaligen eisernen Vorhang gen Osten, wenn neben einem größeren Russland-Abschnitt auch Polen und Ungarn zu den romantischen Ländern zählen.

Eben hier – abseits der Akteur-bezogenen Kapitel, die bekannte Protagonisten und Quellen der Romantik vorstellen – liegen die Stärken des Handbuchs. Man benötigt es kaum, um sich über die Jenaer Frühromantiker (Maike Oergel), Chateaubriand (Jean-Marie Roulin) oder Goethe (Angus Nicholls, Stefan Uhlig) zu informieren, zumal in diesen Texten neuere außer-englischsprachige Forschungsliteratur oft nur unzureichend bis gar nicht rezipiert wird und sie damit hinter aktuelle Standards zurückfallen. Dagegen enthalten die über 250 Seiten zu Ungarn, Italien, Spanien, Russland, Polen, Skandinavien und Griechenland viel Neues und Bemerkenswertes und ergänzen das romantische europäische Panorama um wesentliche Facetten – nicht zuletzt, weil sich die Romantik hier oftmals als »verspätetes« Ereignis des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts zeigt und damit ihr Aktualisierungspotenzial indirekt doch wieder unter Beweis stellt. So berichtet Richard Aczel von intensiven Schiller-Lektüren im Ungarn des späten 18. Jahrhunderts (S. 361ff.) und poetischen Annäherungen an das Sentimentalische durch Mihály Csokonai (1773–1805), die der Dichter zugleich in einem Essay über ungarische Prosodie reflektiert und somit zu einer der Gründerfiguren der frühromantischen Lyrik in Ungarn avanciert (S. 363). Die Kollision des Sentimentalen mit der Idee nationaler Erhebung war entsprechend vorprogrammiert und befeuert die Diskurse um das Romantische in Ungarn bis heute. Auch die russische Literatur des späten 18. Jahrhunderts, die Andrew Kahn in den Blick nimmt, kann durch verbesserte Bedingungen in Presse- und Publikationswesen einen signifikanten Aufschwung verzeichnen (S. 494). Die Autoren entdecken nun Empfindung und Subjektivität für sich, Nikolai Karamsin (1766–1826) versucht dies – bemerkenswert ähnlich wie Herder – zuerst in einem Reisebericht, den 1792 veröffentlichten »Pis’ma russkogo puteshestvennika« (»Briefen eines russischen Reisenden«), eine philosophische Grand Tour durch Europa. Auch sein 1803 entstandenes Romanfragment »Rytsar’ nashego vremeni« (»Ritter unserer Zeit«) stellt innere, emotionale Prozesse der Protagonisten in den Fokus. Da im Russischen Worte wie »Bewusstsein« oder »rührend« fehlen, entwickelt Karamsin Neologismen, um den neuen sprachlichen Anforderungen gerecht zu werden. Insgesamt profitiert die frühromantische russische Literatur, die auf keine eigene Literaturtheorie oder -philosophie aufbauen kann, ebenso von europäischen Lektüren wie eigenen Themenfeldern, wie der Romantiker Alexander Pushkin – diskutiert von Luba Golburt – »par excellence« vorführt (S. 514). Dass die russische Romantik der 1820er und 1830er Jahre sodann eng an einzelne Regionen (Kaukasus, St. Petersburg) und Epizentren russischer Identitätsfindungsprozesse gebunden ist (S. 533ff.), belegt Katya Hokanson eindrücklich. In Polen wiederum war die romantische Literatur stets von dem Spannungsfeld des Freiheitswunsches und der Fremdbestimmung durch Russland grundiert (S. 557ff.).

Die Diskurskapitel zur Geographie (Roberto Dainotto, Paul Stock), Politik (Douglas Moggach), Wissenschaft (Benjamin Dawson), Medizin (Leon Cahi) und Religion (Thomas Pfau) sind weniger mit den Einzel-Kapiteln vernetzt als angekündigt, bieten indes einen guten Einstieg in die jeweilige Thematik. Die letzten Texte zur »Celebrity Culture« (Angela Esterhammer) und Sprachtheorie (Jan Fellerer) berühren das genuin Romantische kaum, sondern beschreiben historische Phänomene. Von den außerliterarischen Künsten wird allein das Theater der »Romantic period« mit einem einzelnen Artikel (Diego Saglia) gewürdigt.

Natürlich darf man fragen, ob die Europäische Romantik tatsächlich ein Phänomen ist, in dem Musik, Bildende Kunst und Architektur nicht vorkommen. (Die Komponisten Schubert und Schumann werden nur je einmal erwähnt, Beethoven romantisches Spätwerk indes ebenso wenig wie die Musik Mendelssohns oder Webers.) Und freilich ist dem Band hier und dort auch eine gegenstandstypische Überzeichnung anzumerken, etwa wenn der romantische Trend zur Selbstreflexion als »frenetisch« (Francesco Manzini) und damit aus einer Rückschau als beinahe krankhaft beschrieben wird. Ein bisschen mehr Empathie mit dem Gegenstand wäre hier wünschenswert gewesen. Dass diese sich nur selten einstellt, mag an der historischen Distanzierung und epochalen Rubrizierung liegen, die dem Buch konzeptionell zugrunde liegt. Es verpasst damit, dem Leser über die zweifellos spannenden Einzelphänomene hinaus einen Gesamteindruck vom dem zu vermitteln, was Romantik um 1800 in Europa war, sein wollte und sein konnte. Man findet in dem Handbuch in der Tat eine Menge »Dinge«, wie Novalis sagen würde – nach dem Unbedingten braucht man gar nicht erst zu suchen.

Rezension verfasst von Christiane Wiesenfeldt

The Oxford Handbook of European Romanticism